Lob der Vielfalt

20. Februar 2024. Im Auftrag des Stadttheaters Gießen hat der in Honkong geborene Autor Pat To Yan ein dystopisches Scifi-Märchen geschrieben – in enger Abstimmung mit Regisseur Thomas Krupa, in dessen Uraufführungs-Inszenierung man sogar die Pflanzen flüstern hört.

Von Martin Schäfer

"Neometropolis" am Stadttheater Gießen © Rolf K. Wegst

20. Januar 2024. "Wir müssen alles neu durchdenken." Das sagt der im Stück "Neometropolis" elfjährige Earnest (Nils Eric Müller) fast schon altersweise. Und damit gibt es dann doch eine Art Happy End im dystopischen Scifi-Märchen, in dem so manches Bekannte aufeinanderprallt: Kultur auf Natur, Zivilisation auf Wildnis, Stadt auf Wald. In den muss Earnest bald ausrücken, auf der Suche nach sich selbst, seiner Mutter, der Katze und natürlich dem richtigen Leben, von dem nur noch eine Ahnung existiert.

Gegen die Hybris der Menschen

Denn das Leben in Neometropolis ist totalitär geregelt. Da trägt der in der Megacity Hongkong geborene Autor Pat To Yan (Jahrgang 1975) seine Erfahrungen mit chinesischer Überwachungswut und westlichen Hightech-Ambitionen für eine sogenannte Smart City zusammen und extrapoliert Techniktrends in die Zukunft: Alles ist verknüpft, die Algorithmen eines Tech-Konzerns (Google, Facebook und ihre chinesischen Konkurrenten lassen grüßen) beherrschen die Welt und jemensch erhält ab Geburt seinen Brain-Chip. Inspiration für das Stück holte sich Pat To, der inzwischen in Berlin lebt, von Fritz Langs Filmklassiker "Metropolis" (dessen Uraufführung sich bald zum hundertsten Mal jährt), aus dem jüngsten Roman "Bewilderment" des US-amerikanischen Schriftstellers Richard Powers sowie aus mittelhessischen Wäldern um Gießen, für dessen Stadttheater er dieses Stück im Auftrag schrieb.

Neometropolis2 1200 RolfK.WegstMenschlein in Chlorophyll-Grün: vorne Levent Kelleli, hinten v.l.n.r. Anne-Elise Minetti, Lyhre, Pascal Thomas, Nils Eric Müller, Zelal Kapçık © Rolf K. Wegst

Dieser Wald ist der Gegenpart, zurückgedrängt, vergiftet, in Vielfalt und Artenreichtum dezimiert. Er beginnt sich gegen Neometropolis zu wehren. Seine Waffe: ein Pilzvirus, der die Menschen bedroht. Regisseur Thomas Krupa und Dramaturg Tim Kahn bringen den Wald auf faszinierende Weise auf die Bühne: Die Schauspieler*innen (Zelal Kapçık, Levent Kelleli, Anne-Elise Minetti, Pascal Thomas) wurzeln herum, wiegen sich als Baumgruppe, ragen verstörend krass beleuchtet als Totholz im Dunst der Nebelmaschine (Choreographie: Mel Brinkmann). Die Kostüme (Monika Gora) sind organisch-dynamisch, farbig ausgeleuchtet für die Waldorganismen, metallisch-antiseptisch für die Menschen der Großstadt.

Wie Pflanzen klingen

In der Unterbühne, also im Raum unterhalb des Bühnenbodens, liegt der Maschinenraum von Neometropolis. Dort hecken Firmenchef Moss (Levent Kelleli), Chefentwickler Mono (Ben Janssen) – er ist der Vater von Earnest – sowie der Bürgermeister Mayor Tom (Pascal Thomas) ihre Manipulationsideen aus. Eine Kamera fährt hinunter und bringt deren roboterhafte Performance auf große Screens in den oberen Bühnenraum. Im Untergrund arbeiten auch die ausgebeuteten Clickworker, die die Algorithmen füttern und das scheinbar sorgenfreie Leben der Oberschicht erst ermöglichen. Auch in der Zukunft, trotz aller Hightech-Visionen von Smart Home bis Smart City, bleibt die Gesellschaft in ein Oben und ein Unten gespalten. Die Videoscreens nutzt auch der Videokünstler Marcin Przybilla, um Drohnenaufnahmen mutmaßlich chinesischer Megacitys ins Bild zu rücken und im Kontrast brillante Close-ups aus dem Wald einzublenden: Flechten auf Baumrinde, Pilze auf Totholz, Äste und Baumkronen.

Neometropolis3 1200 RolfK.WegstFossilien weisen den Weg: Mensch (Nils Eric Müller, Pascal Thomas, Anne-Elise Minetti) und Natur hatten schon früher Konflikte © Rolf K. Wegst

Untermalt ist die gesamte Aufführung mit Musik der Berliner Soundkünstlerin, Komponistin und Singer/Songwriterin Lyhre. Sie kommentiert, akzentuiert, strukturiert das Stück. Mal leise, psychedelisch; mal harter Rock; mal sphärische Klänge aus dem Wald. Lyhre performt als DJ auf der Bühne mit Synthesizer, Klavier, E-Gitarre, singt und hat auch das geheime ‘Tönen’ der Pflanzen in ihre Musik hineinkomponiert. Forschende der Universität von Tel Aviv haben nämlich nach Angaben von Dramaturg Tim Kahn vor knapp einem Jahr Pflanzen eine Art akustische Kommunikation, zumindest Lautäußerungen, abgelauscht. In ihrer Soundperformance flicht Lyhre das als spezifische Klick-Geräusche ein. Allein dieser Sound ist den Theaterbesuch wert!

Schlüssel zum Überleben

Das soll aber die Performance der Schauspieler und Schauspielerpflanzen nicht schmälern. Nils Eric Müller spielt bravourös einen Earnest, der im Scifi-Märchen das Wetter kontrollieren und mit den Pflanzen reden kann. Der ausbrechen und sich seine Welt zurückholen will. Er trifft auf Ash (mit enormer Bühnenpräsenz: Zelal Kapçık), die sich nicht als menschliches Wesen, sondern als Pilz identifiziert. Es entspannt sich eine Freundschaft zwischen Mensch und Organismus. Im Wald entdecken Earnest und sein nachfolgender Vater später ein Geheimnis, das der Tech-Konzern verborgen halten will: die Ruinen vergangener Zivilisationen. Diese hatten sich ebenfalls gegen die Natur erhoben und sind zugrunde gegangen. Gleiches steht Neometropolis bevor, wenn kein Ausgleich zwischen Mensch und Natur gefunden wird und die Menschen nicht von ihrer Hybris abkommen, alles beherrschen zu wollen.

Der Autor Pat To Yan und Regisseur Thomas Krupa wollen mit Stück und Inszenierung unser anthropozentrisches Weltbild dekonstruieren. Die Menschen in Neometropolis sehen sich getrennt von der Natur, sie wollen kontrollieren, gleichmachen. In der Natur herrscht Vielfalt, Biodiversität. Sie, so legt es der Autor nahe, ist der Schlüssel zum Überleben.

Neometropolis (Uraufführung)
von Pat To Yan
Aus dem Englischen von Ulrike Syha
Regie und Bühne: Thomas Krupa, Bühne & Kostüme: Monika Gora, Musik: Lyhre, Video: Marcin Przybilla, Choreographie: Mel Brinkmann, Dramaturgie: Tim Kahn.
Mit: Ben Janssen, Zelal Kapçık, Levent Kelleli, Anne-Elise Minetti, Nils Eric Müller, Pascal Thomas, Lyhre.
Premiere am 19. Januar 2024
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause

stadttheater-giessen.de

 Kritikenrundschau

Thomas Krupas Inszenierung stelle Fragen in den Raum und gestalte "Wege, die zu ihnen führen, aus mehreren (auch räumlich im Bühnenbild markierten) Erzählebenen und theatralen Zeichenwelten, ohne sich für eine dominante Erzählweise zu entscheiden", so Hans-Jürgen Linke in der Frankfurter Rundschau (22.1.2024). "Das könnte der Grund sein für den speziellen Schwebezustand, in dem die Inszenierung verbleibt und damit ins Offene weist, anstatt ein gutes oder schlimmes Ende der Geschichte zu definieren."

Es gebe zahlreiche inszenatorische Kniffe zu bestaunen und wunderbare Filmaufnahmen, findet Björn Gauges im Gießener Anzeiger (22.1.2024). Heimliche Hauptdarstellerin sei aber Lyhre. Mit "ihrer zarten wie variationsreichen Stimme trifft die Musikerin stets den richtigen Ton – was aus dem vielschichtigen Bühnengeschehen mit seinen bisweilen zu plakativen Wortbeiträgen ein sinnliches Vergnügen macht".

"Krupa entwirft eine so faszinierende Welt aus Videos und Musik, dass die doch eher überschaubare Story zur beeindruckenden Theatererzählung wird", schreibt Karola Schepp in der Gießener Allgemeinen Zeitung (22.1.2024). Auch sie zeigt sich beeindruckt von der "spektakulären Bühnenwelt" und der Musik, die "die Inszenierung phasenweise eher zu einem Konzert als einem Schauspiel" mache.

Kommentare  
Neometropolis, Gießen: Übersetzer:innen
Ja, ich frage in eigener Sache. Und ich frage, weil mich die Antwort wirklich interessiert: Warum vermeidet es der Kritiker (der selbst genannt wird, was ich auch mehr als richtig finde), die Übersetzerin des Textes zu nennen? Sie steht im Programmheft, das der Kritiker ja offenbar gelesen hat. Warum hat er sich dagegen entschlossen, die Übersetzerin in die Besetzungsliste aufzunehmen?

(Liebe Ulrike Syha, Sie haben vollkommen recht. Da hat gestern allerdings auch der Redakteur gepennt, also ich. Im Lexikonartikel über den Autor werden Sie nämlich als Übersetzerin genannt. Aber ja: Im Kasten fehlte die Angabe. Ich habe die Info jetzt nachgetragen. Herzliche Grüße, Georg Kasch)
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