Chico Zitrone im Tal der Hoffnung - Staatstheater Schwerin
Also sprach Johnny Rogers
17. Februar 2024. Wie konnte passieren, dass der Osten zur Hölle der Abgehängten wurde, wo viele bis heute wenig anzufangen wissen mit der Demokratie wild-westlichen Musters? Zu Gedanken wie diesem laden Milan Peschel und ein spielwütiges Ensemble ein: und begeistern mit abgründigem wie unverfrorenem Blitz-Witz.
Von Michael Laages
17. Februar 2024. Ja – das sieht nach Kino-Western aus: die Veranda vor dem Saloon und das Gefängnis mit den Gitterstäben links am Bühnenrand, eine goldene Sonne aus jenem Lametta-Material, mit dem ehedem Bert Neumann die Räume der alten Berliner Volksbühne umhängte, ein pferdeartiges Gerippe kommt rein- und wird wieder raus gefahren; die Kostüme, die Bühnenbildnerin Magdalena Musial auch entworfen hat, sehen ansatzweise wie zwölf Uhr mittags aus …
... und der Abend im Schweriner Theater klingt auch unüberhörbar wie ein Kino-Schinken aus der B-Klasse: "Go West" singt‘s aus den Lautsprechern, und noch manch anderer Song, der bei echten Hard-Core-Western-Fans noch irgendwo ganz hinten in der Erinnerung lauert, wird herbei zitiert. Sobald das Ensemble allerdings zu sprechen beginnt, ist sehr schnell klar, dass dies kein "Western", sondern eher ein "Eastern" ist.
Warten auf Chico
"Also sprach Johnny Rogers" hieß die Spiel-Idee von Milan Peschel noch in der Planungsphase; zarathustra-mäßig grundsätzliche Gedanken aus der Western-Werkstatt waren also "angedacht" und zu erwarten. Nun ist statt Johnny Rogers der ähnlich unbekannte "Chico Zitrone" in den Titel gerutscht – von dem hat noch niemals irgendjemand irgendwas gehört, wie auch kaum vom "Tal der Hoffnung"; eher dem der Ahnungslosen – so hieß in Vor-Wende-Zeiten die Gegend ab Dresden weiter in Richtung Osten, also jene Region, in der Radio und Fernsehen aus dem Westen des geteilten Landes lange nicht zu empfangen waren.
Ob es die Herren Rogers und Zitrone je gegeben hat, ist allerdings eher wurscht. Sie sind wie Godot – sie tauchen nicht auf, sie kommen nicht an. Durch den ersten Teil des Projektes von Milan Peschel geistert immerhin einer, der so etwas wie Rogers oder Zitrone sein könnte: ein Auftragskiller, der in einem Nest im amerikanischen Goldgräber-Westen außergesetzlich für Ordnung sorgen könnte.
Einladung zum politischen Gegrübel
Aber stimmt das? Der Mann ist ständig auf der Suche nach einem Becher Kaffee, den er prompt verschüttet, sobald er ihn in Händen hält. Jawoll – Milan Peschel und das überaus animierte Schweriner Schauspiel-Ensemble entführen das Publikum nicht nur in die Welt der Klischees vom angeblich immer so wilden Kino-Westen, sondern zielstrebig auch zu den Vätern (und Müttern) der Klamotte.
Zumindest ist das so im ziemlich haltlos albernen Spiel – gedanklich sind wir allerdings eingeladen zum sozialen und politischen Gegrübel darüber, wie der alte deutsche Osten nach der Wende zugleich zum Goldgräber-Klondike wurde und zum Armenhaus der Abgehängten, der Erniedrigten und Beleidigten, die bis heute nur wenig anzufangen wissen mit der Demokratie westlichen, amerikanisch-deutschen Musters.
Auch ein paar Löffelchen Schiller
Dirk Oschmann wird ziemlich fleißig per Zitat herbei beschworen, jener Leipziger Professor, der den politisch-populistisch so fatal herunterkommenden Osten für eine absichtsvolle Erfindung ewiger Besser-Wessies hält, und noch eine Menge anderer Dichter und Denker rühren Milan Peschel und das Ensemble in die Worte-, Gedanken- und Buchstaben-Suppe des Textes. Im zweiten Teil werden später sogar ein paar Löffelchen Schiller und Wallenstein serviert, gemixt mit Erinnerung an Gojko Mitic, den Winnetou der DDR, der im Schweriner Theater tatsächlich mal den Häuptling Bromden spielte, neben Torsten Merten als Mac Murphy in "Einer flog über’s Kuckucksnest". Wann das war? Lang ist’s her – aber der spontane Beifall im Publikum zeigt, dass das Ensemble sich da durchaus korrekt erinnert hat.
Vor schrägen Späßen strotzend
Das Text-Gemisch ist wirklich abenteuerlich – und kommt derart witzig und schnell daher, dass Nicht-Eingeweihte zuweilen womöglich gar nicht richtig mitkommen. Zumal Schauspielerinnen und Schauspieler zunächst mal eineinhalb Stunden so tun, als wüssten sie gar nicht, wen sie jeweils gerade spielen. Hinter den Rollennamen im Programm-Faltblatt steht bei allen "… oder auch nicht". Ulkig. War Chico Zitrone immer nur die Zweit-Besetzung für Johnny Rogers? Ist die Bande, die da vor dem Saloon herum lungert, immer nur die Summe der Einspringerinnen und Einspringer für irgendeinen Godot, der wieder mal nicht pünktlich zur Vorstellung gekommen ist?
Dass Katrin Heinrich und Wassilissa List, Antje Trautmann und Jennifer Sabel, Marko Dyrlich und Sebastian Reck, Frank Wiegard und Jonas Steglich (in Begleitung des wunderbaren Bühnen-Hundes "Captain Spock"!) überhaupt den Überblick behalten, grenzt an ein Wunder. Ganz besonders professionell kann Spock übrigens "toter Hund" spielen – der Abend strotzt nur so vor derart schrägen Späßen.
Nach der Pause geht’s ein wenig konzentrierter zu – Dyrlich bringt die Mitic-Erinnerung ins Spiel und er-zählt von (womöglich, wahrscheinlich?) eigenen Erleb-nissen auf dem Weg durch die Theaterwelten – ob aber wirklich mal Wallenstein (oder Hamlet, oder Faust) als Musical geplant war für amerikanisches Publikum? Und schließlich beschwören die vier Frauen des Ensembles (natürlich die!) tatsächlich so etwas wie ein paar hoffnungsvolle Silberstreif-Momente für den neuen wilden Osten.
Nachdenken und Ablachen im selben Augenblick
Zuvor ist allerdings noch das allerschönste Zauberkunststück des Abends zu sehen – Video-Künstler Jan Speckenbach (noch so einer, der das Handwerk an der alten Volksbühne gelernt und dann hinaus getragen hat in die Welt) lässt die realen Spieler der Aufführung, auch Hund Spock, durch geschnipselte Zitate aus originalen alten Western-Streifen wandern – das ist extrem witzig (vor allem, weil ja Spock immer die Echtheit des Ensembles beglaubigt!) und ein Trick zum Staunen.
Nur gelegentlich in knapp drei Stunden ist zu fürchten, dass das Pointen-Feuerwerk auch mal ins Leere gehen könnte, Peschels frecher, unverfrorener Blitz-Witz also vorbei krachen könnte am Publikum … und zu hoffen bleibt, dass Schwerinerinnen und Schweriner sich einlassen auf dieses wilde, wüste Holterdipolter, dieses Drunter-und-Drüber, diesen scharf gewürzten Zitatensalat. Nachdenken und ablachen im selben Augenblick – das ist eine Erfahrung, ein Erlebnis, ein Genuss. Das Theater des Milan Peschel mutet uns das zu.
Chico Zitrone im Tal der Hoffnung
Ein Western von Milan Peschel und Ensemble nach Motiven aus amerikanischen B-Movie-Western
Uraufführung
Regie: Milan Peschel, Bühne und Kostüm: Magdalena Musial, Video und Live-Kamera: Jan Speckenbach, Dramaturgie: Juliane Hendes.
Mit: Marko Dyrlich, Katrin Heinrich, Wassilissa List, Sebastian Reck, Jennifer Sabel, Jonas Steglich, Antje Trautmann, Frank Wiegard und "Captain Spock"
Premiere am 16. Februar 2024
Dauer: 2 Stunden 50 Minuten, eine Pause
www.mecklenburgisches-staatstheater.de
Kritikenrundschau
Dieser Theaterabend treffe "auf den Punkt", urteilt Katja Haescher in der Schweriner Volkszeitung (19.2.2024, €). Denn Milan Peschel und das Ensemble lieferten mit ihrer "Mischung aus Boulevardkomödie und Diskurs" eine "Montage auf vieles, was uns begegnet: Umbruch und Transformation, Abwertung der eigenen Herkunft, Vorurteile, aber auch postmoderne Humorlosigkeit und Empörungsbereitschaft". Dem Publikum werde "einiges abverlangt", der Abend sei "hochpolitisch", zeigt sich die Kritikerin angetan.
Von einer "furiosen Inszenierung" mit "acht großartig aufgelegten Akteuren" berichtet Dietrich Pätzold in der Ostsee-Zeitung (19.2.2024, €). "Dieses vielstimmige Chaos der Ungewissheiten in Parallelwelten formt sich zum satirischen Spiegelkabinett, das jeden noch so verengten Diskurs-Korridor unserer Tage aufsprengt und alles sagbar macht", schreibt der Kritiker und diagnostiziert begeistert: "Resilienztraining fürs 21. Jahrhundert."
Die "technische Brillanz" des Abends und die schauspielerischen Leistungen hebt Katharina Granzin in der taz (21.2.2024) hervor, bleibt sonst aber reserviert gegenüber dem Dargebotenen: "Die Bewegungsdramaturgie des Abends besteht primär darin, dass die DarstellerInnen in wechselnden Klamotten herumstehen und reden, sehr viel reden. (Die Liste der Werke, aus denen zitiert wird, ist lang.) Dazwischen wird gerannt, geschrien und geschossen. Immer mal wieder schmeißt sich jemand über die gepolsterte Brüstung der Souffleusenloge." Notiert wird noch, dass das Publikum in Schwerin auffallend alt gewesen sei. "Vielleicht hat die jüngere Generation aber auch dringendere Sorgen, als zwischen Ost- und Westernklischees nach verschwimmenden Identitäten zu fischen."
Einen "klug unterhaltsamen und hoch energetischen Abend" hat Katrin Ullmann für die taz Nordkultur (23.2.2024) gesehen. "Klar, in Peschels Inszenierung leuchten kräftig der Spielspaß und die langjährige Arbeit mit den Kollegen Frank Castorf und René Pollesch durch: das Tempo, der Diskurswitz, das erregte Durcheinander, das sich immer wieder neu auslotet zwischen großen philosophischen, gesellschaftsrelevanten Fragen, gewitzter Parodie und herrlich sinnfreiem Trash."
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Herzlichst, Ihr Frank Schlößer
Leute, ihr müsst da hin!
Ihr müsst!
Mal alle, die Volksbühnenspiel so lieb(t)en!
Auch wenn's nach der Pause spürbar nachläßt, der Teil davor entschädigt und hilft drüber weg!
Also: HIN DA!
Noch nie war ich von einem Theaterbesuch so enttäuscht.
Die Darsteller haben zu schnell gesprochen, dadurch sich oft verhaspelt und der Starvideokünstler hat mir seinen Kameraspot direkt in die Augen gehalten. Wahrscheinlich hatte er nicht mit Publikum gerechnet.
Das zu Beginn schon schlecht besetzte Theater hat sich zur Pause nochmals geleert.
Ich empfehle dem Regisseur und seinem Team nach dem E-Werk, der M-Halle und dem Großen Haus demnächst im Leeren Haus zu inszenieren.
Leute seid gewarnt.