Der Turm - Peter Dehler spielt in Schwerin mit Uwe Tellkamps Roman und mit der DDR-Nostalgie
Einfach so durchlavieren?
von Frank Schlößer
Schwerin, 6. März 2015. Frage: Warum wurde die Bühnenfassung von John von Düffel genutzt und nicht die von Jens Groß und Armin Petras? Regisseur Peter Dehler habe sich beide Versionen angesehen, antwortet Dramaturgin Julia Korrek. Um sich für die klare Struktur zu entscheiden: Christian Hoffmann erzählt die Geschichte aus seiner Sicht, als Sohn des Arztes Richard und seiner Frau Anne. Er ist es auch, der sich samt Publikum im Mecklenburgischen Staatstheater Schwerin in der ersten Szene verzaubern lässt, es im blauen Verwandlungslicht, mit Textklängen und Musik mitnimmt auf die Zeitreise – zurück in die 80er Jahre des Dresdner Villenviertels und hinein in den großen DDR-Roman "Der Turm" von Uwe Tellkamp.
Danach bleibt die Bühne knallig hell ausgeleuchtet. Bis zur Pause wird sie von einer riesigen grauen Treppe dominiert, die ein paarmal auch als Projektionsfläche für Videoeinspieler dient. Viel wichtiger aber ist ihre Symbolik und Funktion: Als gesellschaftliches Fundament des Dresdner "Intellektuellenhügels" für Dialoge und Konstellationen, mal von oben herab, mal von unten herauf – bevor sich die Charaktere für ihren Abgang entscheiden müssen zwischen den beiden Türen links und rechts der Treppe. Hier kann sich alles abspielen: Maxim-Gorki-Schule, GST-Lager, FDJ-Nachmittage, Liebeleien für den naiven, kindlichen, aknegeplagten Christian. Der große Geburtstag, der Krankenhausalltag, die Stasi-Konfrontationen und außereheliche Beziehung des Chirurgen Richard Hoffmann. Schlichte, schöne Piano-Einspieler strukturieren das Stück zusätzlich.
Parolen-Ballett und Psycho-Folter
Peter Dehler spielt mit der DDR-Nostalgie im Wortsinne: in "schmerzlicher Erinnerung" an die Feiern, auf denen zu fortgeschrittener Stunde die neuesten politischen Witze erzählt wurden. An das Spannungsfeld zwischen den engagiert gegrölten Hits der Neuen Deutschen Welle und dem schräg gesungenen Weltjugendlied der FDJ. Das Kauderwelsch der Stabü-Phrasen setzt er treffend als schrilles Parolen-Ballett um, die Entscheidung vor der Musterungskommission als Psycho-Folter. Nach der Pause öffnet sich die Bühne, die große Treppe landet auf der Hinterbühne, vorn ist jetzt viel Platz. Für die NVA-Schikanen, die Christian zu erleiden hat.
Denn die alten und neuen Beziehungen Richards zur Stasi haben sich als nicht ausreichend tragfähig erwiesen: Christian ist nicht zu den bequemen Sanitätern gekommen, sondern in der größtmöglichen Scheiße gelandet. Drei Jahre bei den "Motschützen", den Muckern, der Infanterie. Lustvoll breitet Peter Dehler das Spektrum der Möglichkeiten aus, beim Ausbilder anzuecken – samt Phrasendrescherei, Exerzieren und Härtetest im Vollschutz. Und dem originalen Text der militärischen Vereidigung auf die Fahne der DDR. Hier und dort antwortet ein verständiges Nicken im Publikum.
Happy End mit Kerzen
Christian wird im Militärknast auch die letzte Illusion ausgetrieben: Er wird als Armee-Bulle im Oktober gegen die Dresdner Demonstranten eingesetzt und steht so seiner eigenen Mutter gegenüber. Und er dersertiert, als er mit ansehen muss, wie sie von einem Bereitschaftspolizisten verprügelt wird. Als er noch im Oktober 89 angeklagt wird, befreien ihn die politische Wende und der Mauerfall. Dieses Ende wird zwar vom Publikum erwartet, letztlich kommt es aber wie der Deus ex machina und löst die ganzen Geschichten, Verwicklungen und Verstrickungen schnell in Wohlgefallen auf. Zu schnell. Peter Dehler drückt allen, die sich zweieinhalb Stunden fragen lassen mussten, ob man "so leben", ob man sich wirklich "einfach so durchlavieren kann", eine brennende Kerze in die Hand und lässt sie gemeinsam ein Lied singen. Ein Happy End, das – wie das Publikum weiß – nur eine Sekunde hielt.
Schauspielerisch ist der Abend in erster Linie eine Ensembleleistung. Selbst der junge Arne Gottschling in der Hauptrolle als Christian bekommt in dieser flotten Szenenfolge inmitten der vielen Rollen und Geschichten kaum Gelegenheit zur Entfaltung. Grandiose Momente blitzen dagegen immer wieder auf, vor allem in der Nebengeschichte der Konfrontation zwischen der brachialen Dissidenten-Schriftstellerin Judith Schelova (Lucie Teisingerova) und ihrem vorsichtigen Lektor Meno Rohde (Dirk Audehm). Spannende Konstellationen, die dramaturgischen Verkürzungen der Romanvorlage und das Tempo sorgen für einen vergnüglich kurzweiligen Abend, der gleichzeitig Betroffenheit zu erzeugen vermag. Keine kleine Leistung!
Der Turm
von Uwe Tellkamp
Bühnenfassung von John von Düffel
Regie: Peter Dehler, Bühne und Kostüm: Susanne Richter, Dramaturgie: Julia Korrek, Musik: John R. Carlson, Video: Lenny Löttker.
Mit: Arne Gottschling, Jochen Fahr, Katrin Heller, Dirk Audehm, Özgür Platte, Sebastian Reusse, Bernhard Meindl, Anja Werner, Charlotte Kintzel, Brit Claudia Dehler, Lucie Teisingerova, Kai Windhövel, Rüdiger Daas, Finn Ballhaus.
Dauer: 3 Stunden, eine Pause
www.theater-schwerin.de
"Der Jubel und der langanhaltende Beifall nach der Premiere am Freitagabend könnten Beleg dafür sein, dass Regisseur Peter Dehler ein theatralisch gelungener Zugriff auf diese Geschichten um Liebe und Verrat, FDJ und NVA, Schule, Stasi und Wende gelungen ist." So berichtet Holger Kankel für die Schweriner Volkszeitung (9.3.2015). Der Kritiker erlebte das Ensemble "in Höchstform". Formal bewege sich die Inszenierung "auf einem schmalen Grat zwischen theatralischer Überhöhung und realistischem Spiel, nahezu gespenstisch für Ehemalige in den GST- und NVA-Szenen. Regisseur Dehler gelingt es scheinbar mühelos, die vielen Handlungsstränge und die Schicksale der Charaktere über die Jahre hinweg bis 1989 sinnfällig zu verknüpfen."
Diedrich Pätzold lobt in der Ostseezeitung (9.3.2015) Dehlers Umsetzung der Spielfassung von John von Düffel, die die Komplexität von Tellkamps Roman an sich auf eine "handliche Szenefolge" verkürze. Dehler hebe auf "Einzelheiten" ab, die die Geschichte spannend machten, und unterstreiche die "Lebenslügen, die letztlich das DDR-System mit stützten". Das Spiel reiße "Widersprüche" auf, und der "Einsatz von Liedern bringt ein wenig von jener Romantiefe zurück, die von Kultur und Verrohung handelt".
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