Spin - Theater Bielefeld
Die Menschlichkeit der Maschinen
von Sascha Westphal
Bielefeld, 13. September 2019. Wirklich überraschend ist der erste Gag des Abends nicht. Aber er versprüht ohne Frage einen gewissen Charme, trifft nebenbei ins Schwarze. Während das Publikum den Saal betritt, leuchtet auf einer Leinwand auf der Bühne ein riesiger QR-Code. Der projizierten Aufforderung, ihn einzuscannen, kommt ein beachtlicher Teil der Zuschauerinnen und Zuschauer sofort nach. Schon flimmert über zahlreiche Handybildschirme ein kurzes Video und erinnert einen daran, dass man im Ungang mit den digitalen Medien schnell jede Vorsicht vergisst.
Wo es schmerzt
Androidin Spin spricht das direkt in die Kamera. So scheint es, als ob sie einem in die Augen sieht. Zunächst bedankt sie sich für die durch den Download erfolgte Übermittlung der persönlichen Daten. Danach verkündet sie, dass es nicht erlaubt ist, während der Vorstellung Bild- und Tonaufnahmen zu machen – was sonst vom Band kommt, verwandelt sich hier in eine individuelle Ansprache.
Eine augenzwinkernde Spielerei, mit der Regisseur Christian Schlüter die Strategie David Gieselmanns etabliert, noch bevor die Uraufführungsinszenierung von dessen "Spin" tatsächlich beginnt: Auf der einen Seite greift das Auftragswerk (anlässlich des 50-jährigen Bestehens der Universität Bielefeld) zentrale gesellschaftliche Fragen auf, etwa nach der Verantwortung der Wissenschaft. Dabei geht es auch dorthin, wo es schmerzt. Auf der anderen schielt Gieselmann auf den simplen Effekt, auf spontane Lacher. Bevor es zu ernst wird und die Stimmung kippt, kommt schnell noch ein alberner Gag.
Mit einem kurzen Vorspiel im Jahr 1966 schlägt David Gieselmann einen allerdings recht stereotypen Bogen von den Aufbrüchen der Hippie-Ära zu den Entwicklungen, die heute das Denken im Silicon Valley und anderen Zentren digitaler Forschung bestimmen. Lutz Simon, der Architekt, der in dieser Szene zu einer Wahrsagerin geht, um etwas über seine Zukunft zu erfahren, wird nicht eine neue Universität in der westdeutschen Provinz bauen. Er ist Vater der genialen, allerdings auch zum Größenwahn neigenden Biochemikerin Regula Simon, die 50 Jahre später mit Hilfe von auf unlauteren Wegen erlangten EU-Forschungsgeldern ein transhumanes Wesen erschafft. Statt eine körperlose KI, einen Geist in der Maschine, bringt die von Doreen Nixdorf gespielte Wissenschaftlerin eine Androidin zur Welt, die tatsächlich so etwas wie eine Tochter für sie ist. Allerdings kann sie, die immer versucht hat, ihren Gefühlen zu entkommen, sich gerade das nicht eingestehen. Erst als ihr Spin genanntes Geschöpf zum Spielball unterschiedlichster gesellschaftlicher Kräfte wird und daran zerbricht, lernt sie, ihre eigenen Emotionen zu akzeptieren.
Doopelte Menschwerdung
Gieselmann erzählt mit der Geschichte von der Schöpferin und ihrem Geschöpf von einer doppelten Menschwerdung. Spin ringt ständig mit dem, was sie von den Menschen unterscheidet. Eigentlich kennt sie keine Gefühle, und doch wird sie letztlich von ihnen überwältigt. Diesen Widerspruch fängt Leona Grundig ein. Ihre Bewegungen und Intonationen haben auf eine grandiose Art etwas Künstliches an sich. Sie wirken wie Kopien menschlicher Ausdrucks- und Verhaltensweisen. Zugleich offenbart sich in ihnen das Wesen des Menschlichen, das eben nicht genormt ist. Je länger man Grundig zusieht, desto mehr verliert Spins Herkunft an Bedeutung. Damit kreisen Stück und Inszenierung um jene Frage, die schon Philip K. Dick mit seinem Roman "Träumen Androiden von elektrischen Schafen?" gestellt hat. "Was ist der Mensch?", heißt es in der letzten Szene von "Spin". Dass Gieselmann darauf keine eindeutige Antwort gibt, ist die Stärke dieser Farce. Seine Figuren verlieren sich stattdessen in immer allgemeiner werdenden Fragen und stehen am Ende vor einem nicht auflösbaren Dilemma.
Christian Schlüter, der schon mehrere Stücke Gieselmanns in Bielefeld uraufgeführt hat und deren Stärken wie Schwächen genau kennt, reagiert auf die Unschärfe des Textes mit konsequenter Beschleunigung. Jürgen Höths Drehbühne und Sascha Vredenburgs Videos sorgen von Anfang an für ein extrem hohes Tempo, das einem ermöglicht, über die gröbsten Albernheiten einfach hinwegzusehen. Das ist gar nicht so einfach, weil Gieselmann dem Konflikt zwischen Ethik und Wissenschaft viel von seiner philosophischen Schärfe nimmt, indem er nahezu alle Nebenfiguren als lächerliche Karikaturen zeichnet. Spin wird von Geschäftemachern aus Industrie, Medien und Kunstszene umgarnt, von einer Sekte zu einer messianischen Figur erklärt und von Agenten verfolgt. Jeder will etwas von ihr, verfolgt dabei nur eigennützige Ziele. All diese Verwicklungen könnten Spiegel einer immer weiter zersplitternden Gesellschaft sein, die sich in kleinlichen Antagonismen auflöst. Dafür allerdings müsste man die Protagonisten dieser Auflösung wenigstens ansatzweise ernst nehmen können.
Spin
von David Gieselmann
Uraufführung
Regie: Christian Schlüter, Bühne und Kostüme, Jürgen Höth, Video: Sascha Vredenburg, Dramaturgie: Katrin Enders.
Mit: Brit Dehler, Lukas Graser, Leona Grundig, Simon Heinle, Doreen Nixdorf, Thomas Wehling, Carmen Witt.
Premiere am 12. September 2019
Dauer: 2 Stunden 10 Minuten, eine Pause
www.theater-bielefeld.de
Mit "Bravour" und "viel hintergründigem Witz" packe David Gieselmann sein Thema "bei den Hörern", schreibt Antje Doßmann in der Neuen Westfälischen (16.9.2019). Nach mäßig lustigem Anfang ging es "unverkrampfter weiter" und das Stück "erwies sich mehr und mehr als geist- und anspielungsreiche Farce zum Thema Größe und Grenzen Künstlicher Intelligenz".
Die "zugegeben (möglicherweise nur außerhalb des Wissenschaftsbetriebs) krude Story" schreckt Burgit Hörttrich vom Westfalen Blatt (16.9.2019) nicht ab. "Das Stück wirft durchaus Fragen auf. Was sind Gefühle, und kann ein Cyborg Gefühle haben? Ist ein Roboter, der aussieht wie ein Mensch, auch menschlich? Oder macht er vielmehr Angst?"
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