Wie wahnsinnig die Welt geworden ist

von Sarah Heppekausen

Bochum, 29. Mai 2009. Jan ist ein Terrorist. Behauptet er zumindest. Wenn er an einer Straßenkreuzung steht, rasen die Autos ineinander. Er hat die Explosion in der Redaktion zu verantworten und den Brand im Hauptquartier der Flughafengegner. Und den staubsaugenden Mann auf dem Friedhof hat er auch auf dem Gewissen, für immer niedergestreckt mit seiner bloßen Hand.

Glaubt er zumindest. Denn auch diesmal ist Philipp Löhles Hauptfigur ein absonderlicher Kerl. Wie schon Gospodin (Genannt Gospodin) und Mörchen (Die Kaperer) ist Jan ein tragikomischer Held, Typ unverstandener Aussteiger, der sich in der Welt, in die er hineingeworfen wurde, auf seine ganz eigene Art einrichtet.

Warten auf den großen Absprung

Aber Jan kämpft weder gegen den Kapitalismus (wie Gospodin) noch für die Umwelt (wie Mörchen), sondern zunächst für eine Kolumne und später gegen sich selbst. Nach einem Streit mit seiner Freundin lebt er auf der Straße, aus einem Koffer. Und was er da alles beobachtet, muss er doch festhalten, als guter Journalist: "Wir merken gar nicht mehr, wie wahnsinnig die Welt geworden ist, in der wir leben."

Anne Lenk verbannt diese Wahnsinns-Welt im Bochumer Theater unter Tage gleich in einen Kunstraum, in ein kleines Varieté-Theater, das Bühnenbildner Marc Bausback mit knallig-glitzernden Vorhängen und verzerrten Spiegelflächen ausgestattet hat. Marco Massafra als naiv beeindruckter Jan lässt sich in diese Welt fallen, als erwarte er den großen Absprung: Die runde Fläche der Kleinkunst-Bühne entpuppt sich als Trampolin. Ein perfekter Ort für alle, die nicht mehr mit beiden Beinen auf dem Boden der Tatsachen stehen. Wittgensteins Satz "Die Welt ist alles, was der Fall ist", den Löhle seinem Stück voranstellt und der von eben diesen Tatsachen spricht, bekommt so noch eine zweite Bedeutung, tendiert wohl eher zu Heideggers "In-die-Welt-Geworfen-Sein".

Nachgeschmack des Unausgesprochenen

Jede Alltagsbeobachtung, die Jan macht und in sein, mit zwei Fingern angedeutetes Diktiergerät spricht, wird auf der Bühne zum witzigen Showact. Die Menschen, die ihm begegnen, zu Lebens-Artisten. Buchstäblich springen sie von Auftritt zu Auftritt. Und Marco Massafra (im schwarzen Existenzialisten-Rolli) bestaunt sie mit weit aufgerissenen Augen: Björn (Michael Lippold) und Robert (Alexander Ritter), die Jan für kurze Zeit ihre Couch anbieten, treten auf im schicken Kurze-Hose-und-Weste-Anzug inklusive goldener Schleife – stilsicher wie Zirkusdirektoren (Kostüme Eva Martin). Jenny (Elisabeth Hart) – in blauer Dompteur-Jacke – preist ihre Unterschriftenliste gegen den Flughafen-Bau an wie einen dressierten Löwen.

Und wie das so ist mit echten Künstlern, können die Schauspieler auch mehrere Rollen übernehmen und selbst für die Geräuschkulisse sorgen. "Ring ring"- Laute für das Telefon, ein aufgeblasener und am Mundstück zusammengequetschter Luftballon gibt die quietschenden Autoreifen. Jan ist umgeben von Skurrilitäten, von balletttanzenden Schwerverletzten und einem Gruselkabinett von Polizisten. Kein Wunder, dass ihn der (Größen-)Wahnsinn packt und er in sich den Schuldigen für all die Katastrophen sieht.

Die Regie liefert für alle Fragezeichen eine plausible Erklärung und verfällt damit gelegentlich ebenso wie Jan dem Hang zur Überinterpretation. Sie füllt die Leerstellen, die Löhle in seinem Stück belässt. Die sich der Leser zwar erschließen kann, die in ihrer Unausgesprochenheit aber für einen bedenkenswerten Nachgeschmack sorgen: In der Inszenierung raucht Jan (natürlich nur angedeutet) eine Zigarette, bevor die Flughafengegnerin ihn fragt, warum er nach Feuer rieche.

Durchsickernde Weltuntergangsstimmung

Der Journalist entfernt sich den nichtvorhandenen Nagellack von den Fingern, bevor eine Alkohollösung dafür sorgt, dass die Redaktion in die Luft fliegt. Und der staubsaugende Mann vom Friedhof stellt sich offensichtlich nur tot. Eine Unsicherheit der Sachlage mag für Jan noch bestehen, für den Zuschauer existiert sie nicht mehr.

Und dass eben nicht erst am Schluss, wenn Jan 2 (Manfred Böll als verschrobener Visionär und Zauberkünstler) die Bühne im Miniatur-Format vorführt und das Geschehen als "totale objektive Geschichtsschreibung" entlarvt. Die Welt wird gelenkt: "Um die Aufzeichnung müssen wir uns nicht kümmern. Nur um die Wiedergabe." Die im Stück immer mal wieder durchsickernde Weltuntergangsstimmung in diesem Alltags-Krieg überspielt das Ensemble in temporeicher Varieté-Manier.

Anne Lenk setzt ganz auf die Komik, die bei Löhle durchaus großzügig angelegt ist. Der Inszenierung möchte man ein paar mehr unerwartete Momente der (tragischen) Nähe gönnen, Held Jan mehr von dieser spielerischen Leichtigkeit.


Die Unsicherheit der Sachlage (UA)
von Philipp Löhle
Regie: Anne Lenk, Bühne: Marc Bausback, Kostüme: Eva Martin. Mit: Marco Massafra, Michael Lippold, Manfred Böll, Elisabeth Hart, Alexander Ritter.

www.schauspielhausbochum.de


Mehr lesen? In Baden-Baden wurde im Januar 2009 Philipp Löhles Stück Morgen ist auch noch ein Tag uraufgeführt. Teil drei seiner Trilogie der Träumer Lilly Link oder Schwere Zeiten für die Rev... (zu der auch Genannt Gospodin und Die Kaperer gehören) war 2008 ein Siegerstück des Stückemarkts in Heidelberg, wo es im November des gleichen Jahres auch uraufgeführt wurde.

 

Kritikenrundschau

Für Andreas Rossmann (Frankfurter Allgemeiner Sonntagszeitung, 31.5.2009) ist dieses Stück eine "Petitesse", nämlich ein "Episodenstück, das sich mit seinem Protagonisten treiben lässt". Dieser aber, der Protagonist Jan, beginnt, "was ihm zustößt, auf sich zu beziehen", was ihn laut Rossmann zu einem "tragischkomischen Fall von Selbsttäuschung" macht. Das "Unbehagen an der Gegenwart", an dem dieser Jan leide, bleibe dabei "ähnlich ungefähr wie der Titel". Die "leichthändige Uraufführung" von Anne Lenk versuche, "dem Stück etwas von seiner Wichtigtuerei zu nehmen". Dennoch sei dieser Abend nichts als "nette Kleinkunst".

Christiane Enkeler im Deutschlandradio (31.5.2009, MP3 mit Ausschnitten aus der Inszenierung hier) findet, dass Löhles "Jahrmarktsspektakel" durchaus "Stoff zum Denken" gibt: Und zwar gehe es um "Dekadenz, Sich-für-Gott-Halten und Zweifeln an der Wahrnehmung und dem, was uns für 'wahr' verkauft wird". Auch die Inszenierung gefiel: "Mit großer Sicherheit bewegt Regisseurin Anne Lenk ihre Schauspieler konsequent grotesk durch das mini-opulente Bühnenbild von Marc Bausbach."

Auch Britta Helmbold in den Ruhr Nachrichten (1.6.2009) war zufrieden: "So kurz wie die einzelnen Szenen ist auch die Sprache. Löhle arbeitet viel mit Satzbruchstücken, die eine komische Wirkung entfalten und vom Ensemble überzeugend über die Rampe gebracht werden – wie die rituelle Begrüßung aus Ein-Wort-Sätzen zwischen Jan und Freund Björn." Überhaupt "strotzt die ideenreiche Inszenierung von Regisseurin Lenk" von schönen Bildern. Weswegen es am Ende auch "begeisterten Applaus" gegeben hätte: "für eine temporeiche und witzige Inszenierung über den alltäglichen Wahnsinn und den Autor, der zur Uraufführung angereist war".

Kommentare  
Der neue Löhle in Bochum: wozu das Ganze?
Bescheidene Frage: Wozu das Ganze? Dass einer einen Dachschaden hat, kann noch nicht alles sein. Den im Theater nicht. Vielleicht befriedigen sich die Theaterleute und Autoren nur selbst mit verschwurbeltem pseudophilosophischem Zeug, nach dem Motto: den hab ich auch gelesen, den Wittgenstein und auch noch den Heidegger, zumindest die Zitate. Aber warum soll ich mir das ansehen?
Löhle in Bochum: wann ist etwas pseudophilosophisch?
ab wann ist es denn bei Ihnen pseudophilosophisch? und warum ist Philosophie Selbstbefriedigung? Wenn ein Dachschaden nicht alles sein kann, warum ist Ihnen Philosophie dann noch weniger als das?
Unsicherheit der Sachlage: zuschauen und nachdenken
Löhle hat diesmal weniger Slapstick dafür mehr auf Ernst gemacht. Er wird vornehm, ideologisch und bürdet dem Zuschauer "denken" auf. Es ist nicht mehr nur zuschauen und mitkommen - jetzt ist es zuschauen und nachdenken. Seine Sprache ist hervorragend und die vielen Ebenen machen "Die Unsicherheit" zum Gedankenpuzzle - etwas für denkende Menschen - ohne all-inclusive-Show!
Löhle in Bochum: Wittgenstein hätte Lachanfall bekommen
(Bei meinem Kommentar oben fehlt ein Teil.) Gegen philosophisch ist nichts einzuwenden. Wohl aber gegen bedeutungsschwanger. Und die Kritikerin spielt die Bedeutungsschwangerschaft mit. Heidegger und Wittgenstein haben mit diesem Bedeutungsgehuber nichts zu tun außer dass man sie braucht um anzudeuten, was man alles gelesen hat und was alles dahinter steht. Guckt mal, auf welcher Ebene ich mich bewege. Das ist das Signal des Autors. Wittgenstein hätte einen Lachanfall bekommen angesichts des Designs, für das sein Satz da herhalten muß.
Aber wen interessiert dieser vorangestellte Satz. Das ganze Stück allerdings funktioniert so! Löhle hat sich zur Marke gemacht, geschickt und mit Sinn für den Dramaturgenmarkt. Seine Texte sind flach und in der Art und Weise mit Scheinbedeutung aufgeblasen, dass schwächere Dramaturgen etwas dahinter vermuten können. Das ist ja auch komisch, wie sie ihm auf den Leim gehen und er mag sich ins Fäustchen lachen, wie ich es von der einen oder anderen Schreiberin schon mitbekommen habe, die jene Dramaturgen geradezu verachtet, die ihre Textchen preisen.
Löhle in Bochum: Was sind die Ursachen der Sprachkrisen?
Ich verstehe das auch nicht, diesen vermeintlichen Bezug zu Wittgenstein. Denn hier wird doch offensichtlich der Kontext, in welchem Wittgenstein lebte und schrieb, total vergessen. Oder nicht? Müsste man dann nicht nach den Parallelen zwischen dem aktuellen Kontext und dem Kontext zu Beginn des 20. Jahrhunderts fragen? Müsste man dann nicht tiefer in die gesellschaftlichen und damit in die Bewusstseinsstrukturen eindringen? Was ist denn der Ausgangspunkt der Sprachkrise bei Wittgenstein? Und was bei Löhle? Bei Löhle ist es offenbar die Tatsache, dass ein Journalist von seiner Freundin verlassen wird. Bei Wittgenstein ist es eine tiefe Sprachskepsis, mobilisiert über die Erfahrung der Grausamkeiten des Zweiten Weltkriegs. Im Mittelpunkt seiner "Philosophischen Untersuchungen" (1953) stand die Beziehung zwischen Sprache und Realität, wonach die Sprache die Realität nicht abbilde, sondern allererst konstruiere: "Die Bedeutung eines Wortes ist sein Gebrauch in der Sprache." Hier wird die Sprache als Medium gesetzt, über welches der Wahrnehmung erst Bedeutung zugeschrieben wird. Indem ich etwas wahr-nehme, konstruiere ich dessen Bedeutung. Das ist das, was den Menschen vom Tier, vom reinen In-der-Welt-Sein unterscheidet. Und aus der Lücke zwischen Sprache und Subjekt entstehen die Widersprüche. Heute sind es neben der Sprache bzw. der Schrift möglicherweise bereits andere Aufzeichnungssysteme nach Kittler, über welche die Realität konstruiert wird, vor allem Fernsehen und Internet. Daraus erwachsen neue Unsicherheiten. Das Medium ist die Botschaft. Und trotzdem wird mir nicht ganz klar, worum es Philipp Löhle eigentlich geht.
Löhle in Bochum: Man unterschätzt Löhle mitunter
Liebe Jeanne d'Arc, grundsätzlich stimme ich zu, und der Kontext ist immer wichtig. Aber Wittgensteins Sprachphilosophie hat mit dem 2. Weltkrieg eher weniger zu tun. Das beginnt schon alles mit dem Tractatus (geschrieben im 1. Weltkrieg) und muss in einer Traditionslinie mit der österreichischen Sprachskepsis der Jahrhunderwende gesehen werden, insbesondere Fritz Mauthner. Und dort ist es sicherlich ein Reflex auf die modernen Massenmedien (Presse).
Kann sein Philipp Löhle, zielt mit dem eher klassischen Wittgenstein-Zitat auf einen solchen Zusammenhang (Journalismus). Man unterschätzt Löhle ja mitunter. Das Kierkegaard-Zitat zu "Genannt Gospodin" hat auch keiner ernst genommen, aber wenn man so drüber nachdenkt...
Löhle in Bochum: Aufklärung
Was denn? Wenn man so darüber nachdenkt: Was denn? Würde gern mal wissen, was denn so Kluges dahinter steckt, ganz ehrlich, weil ich bisher nur Stücke sehe, die sich noch nicht mal die Mühe geben, zu cachieren, dass sie eigentlich vor allem verkauft werden wollen. Bitte um Aufklärung!
Löhle in Bochum: jedes Medium produziert seine Ideologie
@ Ernster: stimmt, das mit dem Zweiten Weltkrieg war Quatsch. Bereits der Erste Weltkrieg veranlasste Wittgenstein dazu, über die Differenz zwischen Sein und Sprache nachzudenken. Für mich ist bloß die Frage: Geht es hier (Ihrer Meinung nach) nun also um Medienkritik? Dann wäre es für mich nämlich langweilig. Weil die Wahrnehmung von Welt doch immer mit den Veränderungen der technischen Möglichkeiten der Wahrnehmung einhergeht. Und das ist erstmal eine Tatsache. Ohne Wertung. Nicht allein die "Bild" oder "B.Z." - um es mal platt auszudrücken - ist Schuld. Schließlich gibt es auf der anderen Seite genug Leser, die sich über die "Bild" ihre Meinung bilden und in ihrer eindimensionalen Weltsicht bedient werden wollen. Das greift alles ineinander. Die Leser der "FAZ" unterliegen demselben Irrtum, dass nur dahinter ein schlauer Kopf steckt. Jede Zeitung / jedes Medium produziert die eigene Ideologie gleich mit. Vielleicht geht es darum?
Löhle UA in Bochum: Sendepause seit Kroetz' Abgang
Bei Verlagen und Lektoraten (...) geht es nur um Stücke, die verkaufbar sind, der Rest wird aussotiert. Löhle kommt halt gefällig daher, aber wehtun tuts nicht.
Mal ehrlich gesagt: seit Kroetz abdankte, herrscht doch echt Sendepause in der deutschen Dramatik. Deshalb stehen Regisseure höher im Kurs als Dramatiker.
Die Verlage liefern halt Mainstream ab, hauptsache Uraufführung.
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