Vom Recht auf Angst

von Gerhard Preußer

Bochum, 30. Oktober 2020. Fünf zu zehn. Das Corona-Virus bringt alle Verhältnisse durcheinander: Fünf Schauspielerinnen und fünf Schauspieler stehen vor fünf Zuschauern. Das ist eher die Situation einer Jury ohne Auftrag als ein öffentliches Kunstereignis. Aber nur so konnte der Abschlussjahrgang des Schauspiel-Studiengangs der Folkwang Universität der Künste seine Produktion zeigen. Die Zuschauerzahl in der Nebenspielstätte des Bochumer Schauspielhauses, der ehemaligen Waschkaue der Zeche Eins, war durch das Hygienekonzept auf fünf reduziert. Nach der Absage im März hat die Inszenierung nun haarscharf vor der erneuten Theaterschließung noch die Premiere erreicht.

"Lock her up"

Dabei hatte man sich für die Produktion der Schauspielschule, die in Bochum schon seit langem ein fester Bestandteil des Spielplans des Schauspielhauses ist, diesmal eine echte Uraufführung geangelt. Stefano Massinis "Stato contra Nolan" blieb in der italienischen Originalfassung bislang ungespielt – dafür aber jetzt auf Deutsch als "Die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Herbert Nolan" in Bochum. Gerichtsdramen gibt es genug seit Sophokles’ "König Ödipus". Und der Film trägt dieses Erbe weiter. So hat Stefano Massini sich offensichtlich Sidney Lumets Klassiker "Die Zwölf Geschworenen" als Vorbild genommen und einen Fall aus den USA von 1956 ausgegraben. Auf einer einsamen Farm wird ein Mann erschossen. Der Prozess geht nicht um den Schützen, der kurz darauf verstorben ist, sondern um die Nutznießer der Tat: die Presse und die Waffenindustrie.

Vereinigte Staaten4 560 Birgit Hupfeld uEin stiller Ort? Calvin-Noel Auer, Leon Rüttinger © Birgit Hupfeld

Dabei kann Massini viele derzeit gängige Themen unterbringen: Realität und Täuschung, das Geschäft mit der Angst, Verschwörungstheorien und Pressefreiheit. Und alles, was dem gesitteten Europäer so seltsam an den amerikanischen Verhältnissen vorkommt: die Selbstverständlichkeit der Bewaffnung aller, die Geldgier der religiösen Gemeinschaften. "Lock her up" brüllt die bärtige Meute, als die Staatsanwältin das Recht der freien Meinungsäußerung gegen ein Verbot der Blasphemie verteidigt.

Assoziativer Aktionismus

In der Nachfolge von Lumets Film stellt Massini uns die Geschworenen und ihre Gedanken vor, aber im Zentrum stehen Staatsanwalt, Verteidiger und Zeugen. So wird im Verlauf der Zeugenbefragung deutlich, wie eine Gewehrfabrik und ein an ihr beteiligter Zeitungsverleger den eher zufälligen Tod eines Fremden zur Bewaffnung eines ganzen Bezirks ausnutzen. Seit dem Tod von George Floyd und Donald Trumps Botschaft an die "Proud Boys" weiß man auch bei uns, dass das nicht nur in den 50er Jahren passieren konnte.

Massini wagt nicht Lumets Reduktion auf die Auseinandersetzungen innerhalb der Jury, er zeigt den ganzen Prozessablauf, nur das Urteil fehlt. Thomas Dannemanns Inszenierung aber öffnet das Stück noch weiter. Auch die bei der Zeugenbefragung erwähnten Ereignisse werden gespielt. Man sieht die Szene des tödlichen Schusses in zwei Versionen: in der wahrscheinlich wirklichen und in der durch den Zeitungsbericht verzerrten. Am eindringlichsten ist dabei die Befragung der jungen Frau (Rosalia Warnke), die von dem Erschossenen angeblich belästigt worden sein soll. Wie sie immer wieder stockt, mit hängenden Armen schweigt, nach Worten sucht, dann unwirsch widersprüchliche Aussagen herausbringt, ist spannender als die klischeehafte Bebilderung.

Vereinigte Staaten3 560 Birgit Hupfeld u© Birgit Hupfeld

Dazu werden alle Zeugenauftritte durch assoziativen Aktionismus der gerade nicht Beteiligten garniert: Wird ein Gewitter erwähnt, saust gleich die Windmaschine, donnert der Blecheimer und rollen alle schreiend durch den Raum. Wenn die Grundschullehrerin aussagt, spielen alle anderen wie die Kinder. Wenn der anabaptistische Pastor aussagt, tragen auch alle anderen Vollbärte und hämmern an irgendwelchen hölzernen Requisiten herum. Es wird hier mehr geballert als in jedem Italowestern. Aufgelockert wird der scharfe Dialog durch amerikanisches Liedgut von "Mister Sandmann", "Give peace a chance" bis zu "Speak, Lord, speak to me", und "Bang, bang, he shot me down", alles a capella gesungen.

Eskalation von Aktion und Sprache

Thomas Dannemanns Inszenierung setzt alle Schauspielschülerinnen und -schüler in gleicher Weise ein. Und sie können alles: singen, fliegenden Rollenwechsel, jede Figur mit passender Gestik ausstatten. Aber es schleicht sich im Laufe des Abends eine künstliche Erregtheit ein, eine immer vorschnelle Eskalation von Aktion und Sprache. Sie soll am Ende mit der Rede des eigentlichen Angeklagten, des Zeitungsbesitzers Herbert Nolan, kontrastiert werden, mit dessen Ruhe – einer Ruhe, die so gefährlich wirken soll wie das Ortsschild "A quiet place", das doch nur bedeutet, dass hier die Unruhigen erschossen werden. Aber so überdreht die Konfrontationen vorher waren, so spannungslos wirbt dieses zynische Plädoyer für das Recht, Angst zu verbreiten. Das Stück wird seinen Weg noch machen (und sei es als Film), und auch die Schauspielabsolvent*innen sind nun in die Umlaufbahn geschossen.

 

Die Vereinigten Staaten von Amerika gegen Herbert Nolan
von Stefano Massini
Uraufführung (Deutsch von Sabine Heymann)
Regie und Bühne: Thomas Dannemann, Kostüme: Tanja Maderner, Musik: Hajo Wiesemann, Lichtdesign: Bernd Kühne, Dramaturgie: Dorothea Neweling.
Mit: Calvin-Noel Auer, Nadja Bruder, Fabian Hagen, Carlotta Hein, Annelie Korn, Leon Rüttinger, Pujan Sadri, Linus Scherz, Clara Schwinning, Rosalia Warnke.
Premiere am 30. Oktober 2020
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, eine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Fünf Zuschau­er waren zur Premiere zuge­las­sen. Nach­dem die Premie­re im Früh­jahr verscho­ben worden war, wollte das Schau­spiel­haus sie nun unbe­dingt über die Bühne brin­gen", verspreche es vor der Präsi­den­ten­wahl doch ein Zeit­stück, eine Fabel über Trump-Land, so Patrick Bahners in der FAZ (2.11.2020). In Bochum sind die jungen Schau­spie­ler die zehn­köp­fi­ge Jury, und immer wieder treten sie aus dem Kollek­tiv heraus, um die Rollen der ande­ren Prozess­be­tei­lig­ten zu über­neh­men. "Massi­ni siedelt sein Lehr­stück in der schein­ba­ren Zeit­lo­sig­keit des alten länd­li­chen Ameri­ka an, wo zwei­deu­tig bleibt, ob das Volk der unbe­quem Herum­ste­hen­den Gerichts­or­gan oder Mob ist. Das Urteil wird im Stück nicht gespro­chen, sondern dem Publi­kum über­las­sen, der Jury hinter der Jury." Aber fünf Zuschau­er sind nicht genug, um einen Umstand zu bilden, so Bahners.

 

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