Man darf kein Tier sein

2. September 2023. In ihrer zweiten Inszenierung fürs Schauspielhaus Bochum beschäftigt die finnische Autorin und Regisseurin Saara Turunen sich in Form einer Parade verschiedener Charaktere mit weiblicher Selbstkontrolle – klar und nuancenreich. 

Von Sarah Heppekausen

 

"Früchte der Vernunft" von Saara Turunen am Bochumer Schauspielhaus © Isabel Machado Rios

2. September 2023. Der Raum ist klar abgesteckt. Drei Wände, oben drüber Holzvertäfelung, rechts und links je eine Tür für Auf- und Abgänge, hinten ein größerer Durchbruch mit Falttür. Sofa, Tisch, ein Stuhl und gelegentlich auch mal mehrere. Saara Turunen mag begrenzte Bilder, so wird sie auf dem Programmzettel zitiert. Ein Theater, bei dem klar ist, wohin der Blick gehen soll. Klarer geht's kaum. Die finnische Regisseurin und Autorin zeichnet auch in ihrer zweiten Inszenierung am Schauspielhaus Bochum konkrete Szenen im Guckkastenformat, fürs Auge realistisch definiert. Das farbliche Spektrum von Bühne und Requisiten bleibt im grün-beigen Bereich. Optische Alltagstristesse wie in einem Kaurismäki-Film, nicht kühl, selten knallig.

Lebendige Ausrufezeichen

Das Thema diesmal: der weibliche Körper. Und wie der kontrolliert wird. In "Früchte der Vernunft", das Turunen im vergangenen Jahr in Helsinki uraufgeführt hat und jetzt mit dem Bochumer Ensemble inszenierte, treten fünfzehn Figuren auf, darunter die Mutter, die genusssuchende Frau, die Sexbombe, der Mann, der Storch, die einsame Trauernde. Und die kinderlose Frau: Darstellerin Anna Drexler trägt weites, grünes Hemd über grüner Hose – und stets ein Ei bei sich. Genauer eine Eieruhr im Ei-Design. Die biologische Uhr der Frau tickt. Wieder so ein deutliches Bild der Regisseurin, das aber überhaupt nicht nervt, sondern vielmehr fasziniert in seiner ausgestellten Unmissverständlichkeit. Genau so wird das Thema Kinderlosigkeit schließlich auch herangetragen an Frauen, die über 30 Jahre und nicht schwanger sind. Und auf der Bühne stehen um die kinderlose Frau herum die Mütter und wiegen ihre Babys im Arm. Wie lebendige Ausrufezeichen. Es sprechen ihre Blicke.

Fruchte der Vernunft c Isabel Machado Rios 13Lukas von der Lühe, Veronika Nickl, Jing Xiang, Michael Lippold (v. li.) © Isabel Machado Rios

Saara Turunen braucht in ihren Arbeiten nicht viele gesprochene Worte. Für knapp 30 Szenen hat sie gerade einmal 20 Seiten Text geschrieben. Da erzählt dann zum Beispiel die kinderlose Frau, dass sie Fortpflanzung immer für unvernünftig gehalten habe. Weil die Karriere der Frau dann in den Hintergrund gerät, während die Väter weiterhin für berufliche Abendveranstaltungen in Restaurants sitzen. Oder die genusssuchende Frau (Jing Xiang) berichtet, wie sie sich beim Sex mit ihrem Mann plötzlich kritisch von außen betrachtet habe ("Spectatoring" heißt das in der Sexualforschung): "Hatte ich ein groteskes Gesicht? (…) Und die Brüste, wie sahen die aus? Bestimmt nicht besonders gut, aus dem entsprechenden Winkel betrachtet." Sie ist es auch, die eine ständige Begleiterin hat, eine Aufseherin im langen Mantel und mit Maske im Gesicht. Eine erscheinende Kontrollinstanz, die sie später in einem ausladend choreografierten Kampf besiegt. 

Rhythmus und Struktur

Überhaupt ist jede Bewegung der Darsteller*innen präzise gesetzt. Charaktere und Stimmungen zeigen sich in Körperhaltungen – im erhobenen Kinn der Mutter (Veronika Nickl), die immer alles besser weiß und kann, in der hängenden Schulter des enttäuschten Mannes (Michael Lippold) oder in den Grimassen der Kinder, die entsetzt das Mädchen beobachten, das sich Schokokuchen in den Mund schiebt. Lukas von der Lühe sitzt da viel zu groß als kleines Mädchen mit roter Schleife im Haar und verschmiertem Mund, um sich von seiner Mutter immer wieder sagen zu lassen: Man darf kein Tier sein, man muss ein Mensch sein. Ein Mantra des Abends wie das Ticken der Uhr. Alles ist Rhythmus und hat Struktur. Selbst vermeintlich unkontrollierte Bewegungen imitieren bloß das Wilde, Tierische. 

Fruchte der Vernunft c Isabel Machado Rios 6Michael Lippold, Jing Xiang, Lukas von der Lühe, Anna Drexler, Veronika Nickl (v. li.) © Isabel Machado Rios

Kunst und Können des menschlichen Körpers

Was bis hierher vielleicht ziemlich ernst und starr klingt, hat aber – und das ist eine feine Kunst – einen bizarren Humor. Das Ganze ist eine Mischung aus zarten Andeutungen, konkreten Bildern, bestimmender Musik, reduzierter, aber Bände erzählender Sprache, Brutalität und Komik. Eins geht ins andere über, wie auch die einzelnen Szenen ineinander wabern. Es erzählt eine ganze Menge über Kunst und Können des menschlichen Körpers, wenn die "Sexbombe" (Lukas von der Lühe) erst mit ihren großen Brüsten schlackert, um dann gleich danach den Kopf der verstörten, sich selbst infrage stellenden Ehefrau sachte tröstend an den Busen zu legen. Saara Turunen zelebriert ein Körperbewusstsein, inhaltlich ebenso wie in der Art ihrer choreografierten, genau abgestimmten Inszenierung.

Früchte der Vernunft
von Saara Turunen
Aus dem Finnischen von Stefan Moser
Regie: Saara Turunen, Bühne: Milja Aho, Kostüm: Roosa Marttiini, Siru Kosonen, Lichtdesign: Ada Halonen, Pietu Pietäinen, Sirko Lamprecht, Choreografie: Janina Rajakangas, Lara Pilloni, Sounddesign: Tuuli Kyttälä, Dramaturgie: Dorothea Neweling.
Mit: Anna Drexler, Michael Lippold, Veronika Nickl, Lukas von der Lühe, Jing Xiang.
Premiere: 1. September 2023
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause

www.schauspielhausbochum.de

 

Kritikenrundschau

"Als leichtfüßige Tragikomödie, die läuft wie ein Schweizer Uhrwerk, macht 'Früchte der Vernunft' beim Zuschauen einfach Spaß", urteilt Sven Westernströer in der WAZ (4.9.23, €) –"auch wenn das Lachen gelegentlich im Halse steckenbleibt". Das Ensemble schultere "die teils überbordende Situationskomik mit gehöriger Raffinesse", schreibt der Kritiker. Die Szenen seien "wunderbar gebaut" und trügen den Abend "mit Leichtigkeit".

"Eine Inszenierung, die ein großes, beladenes Thema ironisch lässig und lustig thematisiert", schreibt Tom Thelen in den Ruhr Nachrichten (4.9.2023). "Freunde von Filmen von Chantal Akerman, Kaurismäkis, Louis Bunuels oder Alejandro Jodorowskys finden hier Referenzen, Elemente surrealer oder absurder spielerischer Kunst werden auf die Bühne gebracht. (...) Das Mimen-Quintett hält über 90 Minuten die Spannung hoch und überspielt zuweilen dramaturgischen Minimalismus meisterhaft."

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