Das Internat - Ersan Mondtag entwirft in Dortmund die Höllenvision einer ihre Fehler ständig wiederholenden Menschheit
Im Kreislauf der Gewalt
von Sascha Westphal
Dortmund, 9. Februar 2018. Fast fortwährend dreht sich die Bühne. Aus dem gelben Waschraum, an dessen Wänden statt Duschen neun dämonische Wesen mit leuchtend roten Augen hängen, wird ein Schlafsaal mit gemaltem Kaminfeuer und drei, in jeweils vier Etagen gestapelten winzigen Betten. Aus dem wird wiederum ein großer Raum, der je nach Mobiliar mal Klassenzimmer, mal Speisesaal, mal Partystätte und mal Folterkammer ist. Ihm folgt eine Außenansicht des Internats mit Zinnen, einer langen Treppe und einer ganzen Reihe gotischer Spitzbögen, und die geht schließlich wieder in den Waschraum über. Jede Drehung offenbart neue Details und verstärkt noch den albtraumhaften Eindruck, den die wie von Kinderhand bemalten Wände erwecken. Es gibt kein Entkommen, nur ein ewiges Kreisen gegen den Urzeigersinn.
Täter oder Opfer?
Der Anfang ist nicht der Anfang, schließlich lässt sich in einem Kreis kein Anfang ausmachen. Also stößt Ersan Mondtag das Publikum einfach mitten ins "Internat" hinein, diese Horrorvision unserer Welt. Während aus dem Off die "Stimme eines toten Kindes" erklingt, das als verführerischer böser Geist das Internat heimsucht, wird ein nackter Junge von einigen uniformierten Mitschülern in den großen leeren Saal geleitet. Philipp Joy Reinhardt ist zu diesem Zeitpunkt allerdings noch nicht wirklich nackt. Er trägt einen dieser bemalten Ganzkörperanzüge mit Stoffgenitalien, wie man sie aus Mondtags Die Vernichtung kennt. Unter den Blicken der anderen Zöglinge muss sich Reinhardt auf dem Boden legen, in Erwartung der Züchtigungen und Erniedrigungen, die unausweichlich erscheinen. Doch sie bleiben aus. Stattdessen beginnen die Schüler in ihren an vergangene Zeiten erinnernde blaue Uniformen sich rückwärts zu bewegen.
Analog zur Bewegung der Bühne dreht Mondtag die Zeit erst einmal zurück. Wie konnte die geschlossene Internats-Gesellschaft, in der es keine Erwachsenen, jedoch strengste Hierarchien gibt, an diesen Punkt kommen? Ist Reinhardt, den die Geisterstimme umgarnt und immer wieder den Jungen im Schnee nennt, nun ein Opfer oder selbst auch ein Täter? Die Rückwärtsbewegungen frieren meist ein und formen vertraute und dennoch verstörende Tableaus. Mondtag zitiert die bekannten Motive der Internatsliteratur und -filme, verzerrt sie aber durch eine schwarzromantische Folie, die nicht nur über dem Bühnenbild und den Kostümen liegt. In dieser Zöglingsanstalt werden die kaum unterscheidbaren Schüler nicht nur gedrillt und gebrochen. Sie werden vielmehr den allgegenwärtigen Dämonen geopfert.
Die Unterdrückten werden zu Unterdrückern
Wenn die Schüler gemeinsam Eichendorffs Zwielicht rezitieren und in eine Art Gebet verwandeln, offenbart sich der Kern dieser Gemeinschaft: eine paranoide Furcht vor jedem und allem, die den perfekten Nährboden für Gewalt und Gräuel aller Art bildet. Und eben diese alles durchdringende Furcht breitet sich wie ein Nebel von der Bühne in den Zuschauerraum aus. Die Erzählung mag rückwärts ablaufen, aber sie führt zu keinem fest umrissenen Anfang. Zwischen den einzelnen Szenen klaffen Lücken. Vieles könnte ein Traum sein. Hat Philipp Joy Reinhardts Junge im Schnee zwei seiner Mitschüler ermordet? Oder war das auch nur eine Phantasie?
Auf jeden Fall sind Mondtags Figuren in einem Kreislauf der Gewalt gefangen, dem sie ebenso wenig wie dem Internat entkommen können. Nach etwa 50 Minuten springt die Inszenierung dann zu ihrem Eingangsbild zurück. Nur ist Philipp Joy Reinhardt jetzt tatsächlich nackt. Die Einflüsterungen der Stimme des toten Kindes zeigen Wirkung. Die Gemeinschaft spaltet sich. Eine Revolution nimmt ihren Lauf. Nur bringt sie nichts als eine Wiederholung des schon Gewesenen. Vordergründig schreiten die Aufständigen, die ihre Uniformen von der Bühne herab dem Publikum vor die Füße werfen, nach vorne. In Wahrheit gehen aber auch sie nur rückwärts. Die Unterdrückten werden zu Unterdrückern.
Von der ewigen Kunst
Zu Beginn verkündet die Stimme des toten Kindes: "Ich glaube, die größte Barmherzigkeit dieser Welt ist die Unfähigkeit des menschlichen Verstandes, alles in der Welt zueinander in Beziehung zu setzen. Wir leben auf einer Insel der Ahnungslosigkeit." Aus der größten Barmherzigkeit erwächst allerdings auch das größte Grauen. Diese Insel ist wie das Internat, diese Welt im Kleinen, die Hölle. Also malt Mondtag, musikalisch unterstützt von T.D. Finck von Finckenstein, dessen teils minimalistische, teils romantische Kompositionen und Klangkulissen einen düsteren Echoraum des Schreckens und der Paranoia erzeugen, eine Serie von Höllenszenen, die den Visionen eines Hieronymus Bosch in Nichts nachstehen. Ein Albtraum gebiert den nächsten, und so geht es immer weiter.
In einer der Litaneien des Chors der Internatskinder, dem neben sieben Dortmunder Ensemblemitgliedern auch zehn Studierende des 2. Jahrgangs der Folkwang Universität der Künste gleichberechtigt angehören, erklingt der Satz: "Die Kunst erkennt man daran, dass sie ewig ist." Von einer zeitlosen Ewigkeit ist auch Mondtags Inszenierung. Allerdings legt sie eine andere Definition nahe: Kunst erkennt man daran, dass sie das Ewige sichtbar und damit vielleicht auch endlich macht.
Das Internat
von Ersan Mondtag
mit Texten von Alexander Kerlin und Matthias Seier
Regie, Bühne und Kostüme: Ersan Mondtag; Dramaturgie: Alexander Kerlin; Komposition: T.D. Finck von Finckenstein; Licht: Rainer Casper; Realisation des Kostüms, Kostümmalerei: Annika Lu Hermann; Video-Art: Tobias Hoeft.
Mit: Massiamy Diaby, Klara Eham, Christian Freund, Frank Genser, Johannes Hoff, Bettina Lieder, Max Poerting, Philipp Joy Reinhardt, Jojo Rösler, Uwe Rohbeck, Alicja Rosinski, Ansgar Sauren, Vera Hannah Schmidtke, Uwe Schmieder, Nairi Sevinc, Philipp Steinheuser, Merle Wasmuth.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theaterdo.de
Die "mehrdeutige Geschichte einer Gehirnwäsche" in einem anarchisch-detailverliebten "Gruselsetting" beschreibt Dorothea Marcus bei Deutschlandfunk Kultur (9.2.2018). Der Abend "schillert immer wieder und legt neue Fährten", er stelle große Fragen: Was ist eine gerechte Revolution? Ab wann ist Gewalt erlaubt? Mondtag nutze die meist chorisch sprechenden Schauspieler erneut "als Körpermaterial"; die "sehr verdichtete, poetische und assoziationsoffene Sprache" halle "groß und tief nach", so Marcus. "Und auch wenn die Grusel-Effekte auch an diesem Abend äußerst kalkuliert wirken, ist Ersan Mondtag ein starker Abend gelungen – eindrücklich zeigt er die Welt als endlosen Kreislauf aus Gewalt und Manipulation."
Ein begehbares Gemälde von Caspar David Friedrich, in dem es alles andere als romantisch zugehe: Optisch spektakulär, aber inhaltlich papierdünn findet Bettina Jäger in den Ruhr Nachrichten (10.2.2018) "Das Internat". Mondtag reiche "ein Buffet der Emotionen und Assoziationen", rühre "Kunstgeschichte und Elemente des Action-Films mit den Enthüllungen über brutale Heimerziehung zusammen", so Jäger. "Alles schmeckt nach wohligem Grusel und schaudert, ohne zu schockieren." Kurz: "Von diesem Gesamtkunstwerk muss man sich überwältigen lassen wollen. Freundlicher Applaus."
Eine "düstere Metapher für unsere Welt", brutal und blutig, hat Arnold Hohmann (11.2.2018) vom IKZ Iserlohner Kreisanzeiger und Zeitung gesehen – "zusammengeklaubt" aus Gothic Novels, Expressionismus, Horrorfilmen und "den Alpträumen von Autoren wie H.P. Lovecraft". Schwer erscheine das Leben in der von Musik und Bühnemaschinerie gestützen Endlosschleife, die Mondtag präsentiere. "Leider tut er das ganz ohne Leidenschaft, eher schon als sterilen Vorgang. Das bremst die anfängliche Begeisterung für die Bilder auf Dauer denn doch ein wenig" schließt Hohmann.
"'Das Internat' beschäftigt die Sinne aufs Verführerischste", schreibt Ralf Stiftel im Westfälischen Anzeiger (11.2.2018): "Eine Politparabel über totale Herrschaft wird als Choreografie in einem suggestiven Bühnenraum erzählt." Das Spiel schnurre mit der Präzision eines Uhrwerks ab, die klaustrophobische Burg rotiere auf der Drehbühne, ausdrucksstark begleitet von T. D. Finck von Finckensteins Musik – "mal melodiöse Kammermusik, mal atonale Klangballungen und Technorhythmen". "Hier fügen sich alle Elemente perfekt zusammen", alles vollziehe sich "aus dem Kollektiv, aus den Bewegungen und Gesten des Ensembles". Allerdings sei die erzählte Geschichte "nicht annähernd so komplex wie das Arrangement", meint Stiftel: "Weil das so absehbar ist, erschöpft sich der große Reiz des Bilder nach einer Weile."
Ein "ameisenhaftes Gewimmel" auf einer "schaurig-schönen Bühne" macht Martin Krumbholz von der Süddeutschen Zeitung (14.2.2018) schlichtweg "baff". Die Bühne sei der "Star des Abends"; sie lege "eine so verblüffende Vielfalt an Perspektiven frei, dass man sich fragt, wie eine einzige Bühne das nur schafft". Produktiv irritierend sei "der spitze Blick auf deutsches Kulturgut", den die Inszenierung inhaltlich zeige, wobei die Konsequenz, mit der "der Abend sich so genüsslich im Unabänderlichen einrichtet" gegen Ende hin auch für Widerstände beim Kritiker sorgt.
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Eine Spirale des Grauens sei der Abend in Dortmund gewesen, erneut ein unendlicher Loop der Gewalt. Das legen die sich permanent drehende Bühne und das Geschehen darin des aufbegehrenden Internatsschülers, der gegen seine Peiniger revoltiert, und Opfer und Täter schließlich Rollen tauschen, nahe. Das greift jedoch nur das Offensichtlichste auf. Tatsächlich ist der Umgang mit Zeit und Raum überhaupt das einzig Interessante an dem Stück. „Das Pendel schlägt zurück“ und die Schauspieler bewegen sich größtenteils rückwärts. Die Zeit verläuft in Form einer Parabel, kehrt sich eben tatsächlich um und macht Täter zu Opfern zu Tätern. Aber reicht das für Theater, einem Schauspieler ein Problem zu geben, sei es, dass er mit geschlossenen Augen spielen muss oder eben rückwärts?
Es sind nur zwölf Seiten Text, die Alexander Kerlin und sein Assistent Matthias Seier geschrieben haben, teils Klischees, teils romantische Lyrik. Die Schauspieler sind nur Körpermaterial, hineingestellt in eine Phantasie, was wie ein Gewaltakt der Regie im Alleingang wirkt. Die Schauspieler in eine selbst gebaute Bühne zu choreographieren, hat wenig mit künstlerischer Ensemblearbeit zu tun.
Die Bühne entwickelt eine monotone, wenn auch soghafte Alptraumhaftigkeit, die an die Bilder eines Kindes erinnern, das es zu psychotherapeutischen Zwecken malt. Und den sich permanent drehenden Raum, in dem Dinge gleichzeitig passieren, hat man besser schon bei Simon Stones „Drei Schwestern“ gesehen (abgesehen vom innovativen Umgang mit dem Bühnenraum hat dieser Abend mit dem beschriebenen natürlich nichts gemein.)
Die Kostüme, ebenfalls von Mondtag, seien expressionistisch, aber nur mit viel Wohlwollen lassen sich höchstens neorealistische Züge à la Lucian Freud erahnen. Die Körperlichkeit zweier Schauspieler in ihrer Nacktheit auszustellen, ist weder originell noch wirkungsvoll.
Auch musikalisch gibt es Kritik: Tommy Finke hat gute Musik geschrieben und ausgewählt, das ist unbestritten, aber was an Menge in der Borderline Prozession sinnvoll, ja sogar nötig war, um zum Gesamteindruck des überforderten Subjekts beizutragen, ist hier ausschließlich zu viel.
Die entstehenden Eindrücke sind keine „bildgewaltigen“. Hat man einmal die Bildsprache des traumatisierten Kindes, des schlechtes LSD-Trips, was auch das quälend langsame Erzähltempo untermalt, verstanden, -und das geht sehr schnell, denn kein Alptraum-Topos wird ausgelassen, von der SS- Uniform bis zu Bäumen und Zinnen im Dunkeln- ödet der Abend lediglich an.
Die eigentlich interessante Premiere des Wochenendes in Dortmund war Orlando nach Virginia Woolf in der Regie von Laura N. Junghanns im Studio.
Nur weil Ersan Mondtag der Shootingstar am deutschsprachigen Theaterhimmel ist, jung, dazu aus Neukölln, migrantisch, kein gerader Werdegang, heißt das nicht, dass man in der Kritik an seiner Theaterarbeit nicht auch ehrlich sein sollte. Schlechtes Theater sollte man auch als solches benennen dürfen. Ein Name kann keine Erlaubnis zum Freischuss sein, kritiklos alles annehmen zu müssen, was erwartet wird. Ein Name ist nicht gegen Kritik gefeit. Es geht nicht darum, Ersan Mondtag zum Opfer der Medienmaschinerie zu machen, sondern viel eher darum, ihn genau davor zu bewahren. Je mehr er durch Kritik, die nicht mehr weiß, was sie sagt, die nur nachplappert, was man hätte sehen sollen, was man mit viel Phantasie angelegt hätte sehen können, gelobt wird, und umso höher er steigt, desto mehr entfernt er sich von einem ehrlichem, ihn ernstnehmenden Umgang mit seiner Arbeit. Nur mit Ehrlichkeit wird man dem Theater überhaupt gerecht. Nur mit ehrlichem Hinsehen kann eine künstlerische Kritik auch nützlich sein.
Eine raunende Mädchenstimme führt in den Abend ein, zitiert Fragmente von Heiner Müller und gibt damit den düsteren Ton vor, der konsequent durchgehalten wird. „Das Internat“, das Mondtag gemeinsam mit Dortmunder Ensemble-Mitglieder und dem 2. Studienjahr der Folkwang-Schule entwickelte, gehört zu den besseren Arbeiten des hoch gehandelten Shootingstars. Mit „Die letzte Station“ produzierte er am Berliner Ensemble einen schnell abgesetzten Flop, sein „Internat“ hat ein anderes Format und überzeugt nicht nur ästhetisch, sondern als anregender Theaterabend.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2018/05/13/das-internat-ersan-mondtags-bemerkenswerte-dortmunder-collage-ueber-den-kreislauf-der-gewalt/
Die Texte, zusammengestellt von den Dortmunder Dramaturgen Alexander Kerlin und Matthias Seier, sind – und das gilt in erster Linie, aber nicht nur für die chorisch gesprochenen des Internatspersonals – meist mantraartige Aufzählungs- und Wiederholungskaskaden, bei denen die mechanische Konstruiertheit mindestens so wichtig ist wie die transportieren Inhalte. Sie vermitteln den Eindruck einer vollständig von einem enthumanisierten System aufgesaugten Wirklichkeit, das die zeit aufhebt und alles Lebendige begräbt. Bewegungen sind mechanisiert, immer wieder erstarrt das Geschehen in geisterhaften Tableaux. Im Albtraum begegnen wir einer Welt, die Gewalt produziert und sich von selbiger nährt. Eine Welt, in der das autonom denkende und handelnde Individuum der ultimative Feind ist, aber zur Strecke zu bringen ist, indem es seinen Platz im System, als vermeintlich handelnder Täter, bekommt.
In seiner konsequenten Deindividualisierung und Entmenschlichung, in seinem Spannungsfeld zwischen kaum erträglicher atmosphärischer Verdichtung (bei der die düster-romantischen Klangräume T. D. Finck von Finckensteins eine wesentliche Rolle spielen) und sperriger Distanziertheit ist Das Internat ein weiterer Schritt auf Ersan Mondtags Weg weg von einem Menschen- und hin zu einem abstrakten Theater der Mechaniken eines fremdbestimmten Lebens. Und vielleicht die kompromissloseste – und als solche am schwersten rezipierbare – Arbeit des jungen Regisseurs. Ewig sei die Kunst, heißt es einmal. In jedem Fall kann sie systemische Fragen stellen und sichtbar machen. Und eröffnet dadurch vielleicht die Möglichkeit, einen Ausweg zumindest zu denken?
Komplette Rezension: https://stagescreen.wordpress.com/2018/06/24/albtraum-ohne-ausweg/