Onkel Wanja - Theater Dortmund
Die Lebensuhr steht still
2. April 2023. Ist es eine Komödie, ist es eine Tragödie? Jedenfalls fließt viel Wodka und auch viel Herzblut in dieser russischen Landgesellschaft. Der Brite Rikki Henry zeigt Tschechows "Onkel Wanja" in Dortmund. Mit Fingerspitzengefühl.
Martin Krumbholz
2. April 2023. Die Erste, die Wind in diese Aufführung bringt, ist die Windmaschine. Onkel Wanja, gespielt von Ekkehard Freye, noch allein auf der Bühne, ist in seinem Home-Office damit beschäftigt, die Blätter, die der Drucker ausspuckt und die sich schon zu Bergen stapeln, zu sortieren. Hastig läuft er hin und her, während sich der Zuschauerraum füllt; die Computer sind nicht die allerneuesten, aber immerhin. Schließlich, noch bevor der Professor mit seiner Entourage eintrifft, kommt ein heftiger Wind durch die Tür und bläst alles durcheinander. Wanjas Mission: hoffnungslos. Daran wird sich bis zum Schluss des Stücks nicht viel ändern.
Britischer Humor trifft russische Seele
Tschechows Onkel Wanja, wir erinnern uns, hat von seiner Schwester ein Gut geerbt, das er gemeinsam mit seiner Nichte Sonja verwaltet. Professor Serebrjakow, der Ehemann der Toten, hat wieder geheiratet, schreibt Bücher über Kunst, langweilt seine junge Frau Jelena und lässt sein Dasein von seinem Schwager finanzieren. Im dritten Akt wird er einen Eklat provozieren, er will das Gut verkaufen, Wanja schießt zweimal auf ihn, vergeblich, dann versöhnt man sich.
Der Londoner Regisseur Rikki Henry verlegt die Handlung in die Gegenwart, bleibt ihr ansonsten aber treu. Trotz des Sturms am Anfang ist dieser Dortmunder "Onkel Wanja" keine bilderstürmerische Inszenierung mit neuen Texten oder verbesserten Figurenporträts, sondern der Versuch, eine Balance zu finden zwischen dem komischen, fast boulevardesken Potenzial des Stücks und seinen ernsthaften Tiefenbohrungen. Britischer Humor und russische Seele, das ist eine ähnlich heikle Mischung wie 1. April und Palmsonntag. Und man ist im (gut gefüllten) Saal spürbar dankbar dafür, dass das Experiment (denn das ist es ja doch) funktioniert. Offensichtlich hat Rikki Henry viel Fingerspitzengefühl aus London mitgebracht.
Quälende Zeit
Die Uhr im Office zeigt zwanzig nach zwölf, und das zeigt sie immer, auch wenn Figuren gelegentlich etwas anderes davon ablesen. Zwanzig nach zwölf nachts, darf man ergänzen, denn einige Szenen handeln von Schlaflosigkeit, Wodkagenuss und müßigen Unterhaltungen. Der Professor, Linus Ebner gibt ihm eine verführerische Glätte und Larmoyanz, dieser eingebildete Kranke, lässt mehrmals seine Decke von den Knien rutschen, damit seine Frau sie ihm aufhebt: Am Anfang dieser Szene ist es also zwanzig nach zwölf, am Schluss ebenso, aber Jelena (Sarah Quarshie), für die die Zeit quälend langsam verrinnt, behauptet mit einem zu flüchtigen Blick auf die Uhr, es sei eins.
Auch für Sonja (Nika Miskovic) geht nichts voran. Sie ist, fast allzu offensichtlich, in den Arzt Astrow (Alexander Darkow) verliebt, diese Wiedergängerfigur, die in jedem Tschechow-Stück auftaucht: ein frustrierter Weltverbesserer, eloquent, einer, für den die Frauen schwärmen, der sich aber an nichts und niemanden bindet und seinen Charme gewissermaßen leerlaufen lässt.
In einer weiteren Nachtszene haben die beiden ein nettes Tete-à-tete, in dessen Fortgang sie ein trockenes Stück Käse zu nasenlochgroßen Häppchen verarbeiten, damit sie sich das ungenießbare Zeug in diverse Körperöffnungen stopfen können. Doch etwaige sexuelle Symbole machen Sonja falsche Hoffnungen. Astrow will nichts von ihr, vielleicht weil er glaubt, in Jelena verliebt zu sein, von der er ganz sicher weiß, dass er sie nicht haben kann.
Eskalation ohne Ausweg
In der vielleicht prominentesten Szene des Stücks macht diese Jelena sich zwar an den bedauernswerten Astrow heran, unter dem Vorwand, für Sonja zu vermitteln; es kommt zu einem leidenschaftlichen Kuss, aber der dient nur dazu, das Frustrationspotenzial dieser vertrackten Komödie zu verlängern. Schon taucht Wanja, ebenfalls in Jelena verliebt, mit seinem fatalen Blumenstrauß auf, als ärgerlicher Augenzeuge. Und Ekkehard Freye spielt diesen Einundfünfzigjährigen, der sich alt fühlt, exzellent. Erst recht in der Konfliktszene mit dem Professor. Tschechows Genie liegt ja nicht zuletzt darin, das Komische und das Tragische (oder doch Traurige) derart verschmelzen zu lassen, dass man tatsächlich nicht recht weiß, ob man lachen oder heulen soll. Schließlich haben beide Kontrahenten irgendwie recht: Der Professor, wenn er das ganze Home-Office-Ding für Schwachsinn hält, und Wanja, wenn er seines Schwagers Eitelkeit und Egoismus in Grund und Boden verdonnert. Diese Szene, in der alles eskaliert und sich doch nichts ändert, ist bravourös gelungen, vermutlich deswegen, weil der Regisseur Rikki Henry dem Text ebenso vertraut wie den Akteuren.
Onkel Wanja
von Anton Tschechow
In der Übersetzung von Angela Schanelec
Regie und Videodesign: Rikki Henry, Ausstattung: Emma Bailey, Choreografie: Rachael Nanyonjo, Sounddesign: Benjamin Osborn, Dramaturgie: Marie Senf.
Mit Linus Ebner, Sarah Quarshie, Ekkehard Freye, Nika Miskovic, Alexander Darkow, Antje Prust, Adi Hrustemovic, Lola Fuchs.
Premiere am 1. April 2023
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.theaterdo.de
"Tschechow auf schrill" so die Überschrift zu der Kritik von Kai-Uwe Brinkmann in den Ruhr Nachrichten (3.4.2023). Regisseur Rikki Henry verlege das Stück in eine verrückte Moderne, "wo die Zeit stillzustehen scheint. Wo getriebene, neurotische, ohnmächtige Existenzen allerlei Wind und Krawall machen, um sich Erleichterung zu verschaffen". Stoff, Personal, Affekte, Tonlage sein gnadenlos schrill und durchaus gekonnt auf Comedy getrimmt. Und auf "boulevardeske Sitcom, mit einem Bein schon im Lager der Farce, dabei gelingen amüsante Miniaturen. "Die Darsteller machen einen prima Job und steuern ihren Teil bei, dass der Abend kurzweilig ist." Allerdings habe die Komik ihren Preis: "Sie infantilisiert die Figuren, sie kostet Tiefe und dramatische Fallhöhe (...) Auf der Sinnebene bliebt der komödiantische Jux doch reichlich vage.
"Dauernd klingelt ein Telefon, einer wälzt Akten, jemand hämmert und bohrt", schreibt Sven Westernströer in der WAZ (3.4.2023). Tschechows "Onkel Wanja" verirre sich hier ins Büro. Das Dortmunder Ensemble müsse sich zwar ganz schön strecken, "um derlei Gefühle in diesem völlig verunglückten Setting zum Leuchten zu bringen. Immerhin: Es gelingt ansehnlich."
Rikki Henrys Einstand in Dortmund habe wirklich funktioniert, so Christoph Ohrem auf WDR 3 Mosaik (3.3.2023). Die Bühne ist ein in die Jahre gekommener Büroraum. Viel Melancholie sei ihm Spiel, "es gibt auch viel Trauer, aber das Ganze wird viel mit Ironie und Witz gespielt und das ist richtig schön anzuschauen".
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