Kapitalistische Körperbilder 

23. April 2023. Brechts Lehrstück spielt sich in Düsseldorf anschaulich auf einer Arena ab, mit vom Kapitalismus gekrümmten, deformierten Körpern, denen Bernadette Sonnenbichler mit Hilfe eines Butoh-Meisters zur Kenntlichkeit verhilft – und einer doppelt starken Hauptdarstellerin.

Von Max Florian Kühlem

"Der gute Mensch von Sezuan" von Bertolt Brecht am Düsseldorfer Schauspielhaus © Sandra Then

23. April 2023. Bertolt Brecht begann mit der Arbeit an "Der guten Mensch von Sezuan" bereits Ende der 1920er Jahre. Wenn man jetzt erlebt, wie das Publikum im Düsseldorfer Schauspielhaus nach der Premiere von Bernadette Sonnenbichlers Inszenierung tosenden Applaus im Stehen spendet, drängt sich der Gedanken auf, dass sich in fast hundert Jahren offenbar wenig geändert hat.

Das Publikum empfindet, dass ihm dieser Stoff, dieses ideale Lehrstück des so genannten Epischen Theaters, heute noch etwas zu sagen hat über den sozio-ökonomischen Zustand der Welt. Was er uns zu sagen hat, hat sich allerdings möglicherweise ein wenig geändert.

Spiel aus Macht und Härte

Tragendes Handlungselement ist der Rollentausch der Hauptfigur: Die Prostituierte Shen Te, ironischerweise der einzig auffindbare, vermeintlich "gute" Mensch in der Stadt, schlüpft immer wieder in die Rolle des von ihr erfundenen Vetters Shui Ta – und schafft es nur so, hart, gewieft und auch manipulativ zu sein, Macht über andere auszuüben, um sich das Überleben in einer prekären und von allen Seiten bedrohten Existenz zu sichern. Früher hat man gesagt, das sei die Deformierung, die die kapitalistische Gesellschaft dem Menschen zufügt. Er kann nicht nur gut sein, um zu überleben – er muss sich von sich selbst entfremden.

Heute kann man in dieser Shen Te, die auch Shui Ta sein muss, auch das Sinnbild der starren Rollenbilder sehen, in die das gesellschaftliche Sein die Menschen presst. Wenn sie ein Mitglied der Gruppe bleiben will, muss sie den Regeln folgen, die ein Spiel aus Macht und Härte formieren, in dem der eigene Vorteil nicht zu sehr aus dem Blick geraten darf.

Vor allem kann man in dieser Zeit, in der die Diskurse um Sexismus und Klassismus so stark sind, den Fokus auf die soziale Stellung der Hauptfigur legen, die ja auch einen Aufstieg probiert – fast einen wie ihn Annie Ernaux in den Büchern über ihre Eltern erzählt: von der einfachen (Sex-)Arbeiterin zur Ladenbesitzerin. Und natürlich auf die Geschlechterrollen, die sie beide verkörpert: Nur als Mann kann sie zu Kraft und Stärke finden, um andere in die Schranken zu weisen.

Deformierte Körper in einer deformierten Welt

Hauptdarstellerin Minna Wündrich, die vom Publikum in der NRW-Hauptstadt verzückte Jubelschreie erntet, legt ihre Hauptfigur klassisch an: Sie ist als Shen Te weich, zärtlich und hilfsbereit bis zur Selbstaufgabe – und als Shui Ta mit tieferer Stimme und markigeren Bewegungen hosenrollenhart, laut und gemein. Wündrich spielt allerdings immer mit, wie Shen Te darunter leidet, Shui Ta sein zu müssen, und findet teilweise zu einer ungemein starken Präsenz. Und der psychologisch geschulte moderne Mensch versteht natürlich auch: Sie muss Grenzen setzen für die Selbstfürsorge.

Mensch2 Sandra Then uButoh-Bühnen-Arena von David Hohmann mit Spieler*innen © Sandra Then

Mutigste Setzung der Inszenierung ist die alles bestimmende Ästhetik des japanischen Butoh-Tanztheaters. Das Ensemble agiert auf einer leicht schiefen Arena, die nicht direkt Beteiligten und Live-Musiker sitzen als Publikum davor. Alle sind nach Art des Butoh mehr oder weniger stark weiß geschminkt, haben bandagierte Gliedmaßen und führen alle Bewegungen mit einer sehr hohen Muskelspannung aus. Die Choreographie hat der in Deutschland lebende Butoh-Meister Tadashi Endo mit ihnen einstudiert. Dadurch wirken die Körper oft gekrümmt oder verzerrt, auch die Art wie die Spieler*innen sprechen wirkt angestrengt, belastet – eben: deformiert. "Wir haben uns gefragt, wie Körper aussehen, die sich in dieser Welt behaupten müssen", wird die Regisseurin dazu im Programmheft zitiert.

... und die Götter schleichen sich aus der Affäre

Der Soundtrack ist in diesem Brecht-Stück ja schon vorgegeben, weil es die Kompositionen und Lieder von Paul Dessau gibt. Die drei Live-Musiker*innen reichern sie in der Düsseldorfer Bearbeitung von Tobias Vethake mit Klangflächen an – und die Schauspieler*innen singen die Lieder nie schön, sondern gequält. Gerade die erste Hälfte tragen sie mit diesen Setzungen sehr gut durch die Zeit, man erlebt das Stück, das für viele schon Schulstoff war, neu. Die zweite Hälfte kann diese Spannung leider nicht aufrecht erhalten, weil man versucht, durch mehr Tempo und Lautstärke Intensität zu erzwingen, das Leid der Figuren emotional erfahr zu machen, dadurch aber auch Distanz schafft.

Sezuan SandraThen uMina Wündrich als Protagonistin Shen Te/Shui Ta © Sandra Then

So ist das Ende, das wie bei Brecht offen bleibt, aber auf den Hilfe-Schrei Shen Tes keinen Epilog mehr folgen lässt, auch eine Erlösung aus dem zunehmend lärmenden Stückgeschehen. Die Götter, die hier von einem diversen Ensemble-Trio mit riesigen Masken-Köpfen gegeben werden, schleichen sich aus der Affäre. Sie haben auch hundert Jahren später keine Idee, was sie einem Menschen raten sollen, der gut sein will, aber nicht kann.

Der gute Mensch von Sezuan
von Bertolt Brecht
Musik von Paul Dessau in einer Bearbeitung von Tobias Vethake
Regie: Bernadette Sonnenbichler, Choreografie: Tadashi Endo, Bühne: David Hohmann, Kostüm: Tanja Kramberger, Musikalische Leitung: Tobias Vethake, Licht: Thomas Krammer, Dramaturgie: David Benjamin Brückel.
Mit: Minna Wündrich, Kilian Ponert, Belendjwa Peter, Yaroslav Ros, Jonas Friedrich Leonhardt, Sebastian Tessenow, Glenn Goltz, Fnot Taddese, Anya Fischer, Markus Danzeisen, Katharina Dalichau, Amina Merai, Florian Gaar, Thomas Bähler/Otto Hauptmann, Philipp Jagiela/Theodor Taprogge. Live-Musik: Romy Camerun, Tobias Vethake, Karla Wenzel.
Premiere am 22. April 2023
Dauer: 2 Stunden 45 Minuten, eine Pause

www.dhaus.de


Kritikenrundschau

"Ein großes Kunstvergnügen" bescherte der Abend Sema Kouschkerian, die in der Rheinischen Post (24.4.2023) über Regisseurin Bernadette Sonnenbichler schreibt: "Sie langte beim Stoff des Meisters ohne Ehrfurcht zu und setzte markante eigene Schwerpunkte - mit starken Bildern, herausragenden Schauspielern, Witz und einem feinen Gespür für das Potenzial der Figuren." Die komödiantischen Vorlagen, die Brechts Werk liefert, wandele sie "köstlich" um. Minna Wündrich bewältige die Aufgabe der Doppelrolle von Shen Te und Shui Ta "großartig".

 

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