Orpheus steigt herab - Düsseldorfer Schauspielhaus
Monster ohne Geheimnis
von Martin Krumbholz
Düsseldorf, 9. September 2021. Am Ende wird’s apokalyptisch. Der olle Jabe Torrance, von Thomas Wittmann in bester Splatter-Movie-Manier mit blutunterlaufenen Augen als Erzschurke auf die Bretter gestellt, hat, obwohl todkrank, spitzgekriegt, dass seine Frau mit dem dahergelaufenen Nichtsnutz Valentine Xavier ins Bett geht; er knallt sie ab, wirft dem verdutzten Val die Knarre hin, simuliert einen Raubüberfall; die Polizei gibt auch dem Liebhaber den Rest. Und als wäre es mit dieser Ballerei nicht genug, lässt Regisseur David Bösch die einsame, tapfere Carol Cutrere sich selbst die Kugel geben. Die Guten sind tot, die Bösen gehen einen trinken – so sieht’s aus.
Die Gitarre als Lebensgefährtin
"Orpheus steigt herab" ist eine Mischung aus Früh- und reiferem Werk, und leider muss man sagen, man merkt es. 1940, da war Tennessee Williams wie sein Protagonist knapp dreißig, entstand eine erste Fassung, die ziemlich floppte. 1957 schrieb der inzwischen erfolgreiche Autor den Text um, änderte aber wenig am Schwarz-Weiß-Schema, das die Dramaturgie prägt. Vom Orpheus-Mythos sind nur Spurenelemente erhalten. Val Xavier, der seine Gitarre als "Lebensgefährtin" sieht (was bezeichnend ist), "dreht sich um", als er aus der "Hölle" steigt (das sind wieder mal die anderen), will sagen: Er zögert einen Moment zu lang, als die Situation zwischen ihm und seiner Geliebten Lady Torrance brenzlig wird, und bezahlt dafür mit dem Leben.
Der Kern der Fabel ist aber ein anderer. Lady, eine Frau mit italienischem Migrationshintergrund, hat ihren Vater bei einem rassistischen Überfall verloren. In Val sieht sie nun eine Art Wiedergänger ihres toten Papas, den "Fremden", den Vogel ohne Beine, der nirgendwo landen kann, deshalb verliebt sie sich in ihn, und deshalb soll Val ihr bei der Rekonstruktion des "Weinguts" des alten Herrn helfen: Sie baut eine heruntergekommene Drogerie zu einer Patisserie um, die mit großem Trara eröffnet werden soll – an dem Abend, als eine Welt aus großen Illusionen vernichtet wird. Naturgemäß lässt Williams von solchen Illusionen nichts übrig, und sein Gespür für das untergründig Sexuelle menschlicher Konstellationen ist fast einzigartig, aber die Mittel wirken unausgereift, die Symbolik überladend, und Böschs Regie hilft in ihrem Detailrealismus der gut gemeinten Sache auch nicht weiter.
Die Frauen wollen nur ihn!
Um was für einen Menschen handelt es sich bei diesem "Orpheus" Val? So wie Sebastian Tessenow die Figur anlegt, muss man einen Abend lang erfolglos darüber rätseln. Ist das jemand, der seinem eigenen Charme nicht traut? Oder jemand, der einfach keine eigenen Impulse hat, der sich benutzen lässt, auf andere stets nur reagiert? Keiner dieser Ansätze kann so recht überzeugen, die Figur wirkt verloren, nicht allein im existenziellen Sinn.
So personenreich das Stück ist, so trivial wirkt vieles. Bis auf zwei Ausnahmen vor allem die Frauen, alle auf der Suche nach einem Liebhaber, und alle auch noch nach demselben. Die blonden Klatschweiber (Annina Hunziker, Michaela Steiger), die sich über das Wort "Spritztour" amüsieren; die Frau des Sheriffs, die Friederike Wagner mit ihren "Visionen" und ihren schrecklichen Malereien krass in die Parodie treibt – das sind belanglose Abziehbilder. Auf der anderen Seite die Männer, der Fascho-Sheriff (Andreas Grothgar), der schon erwähnte Jabe Torrance: Monster. Aber Monster ohne Geheimnis.
Der Autor übt Selbstkritik
Es gibt in dieser Lesart des Textes keine positiven Leerstellen, alles läuft plan ab. Immerhin gibt es Sonja Beißwenger und Lou Strenger. Letztere schwebt als Carol Cutrere in ihrem Rüschenkleid wie eine Märchenfee über die große Bühne (die Patrick Bannwart mit Tiefkühltruhe, Jukebox, Kuchenvitrine und Ventilator sparsam bestückt hat), zwischendurch darf sie von der Rampe ein paar launige Adressen ans Publikum richten, was, wenn auch halbherzig, einen gewissen Abstand zum Geschehen schafft. Beißwenger als Lady Torrance wiederum bringt eine glaubhafte Figur zustande, und man spürt, wenn man ihr zusieht, wenn man ihre Verzweiflung wittert, dass ein Autor hier aus Erfahrungen schöpft und nicht aus dramaturgischen Schablonen.
Eine Stelle übrigens ist beim Lesen wirklich lustig. Da schreibt Williams doch tatsächlich in eine Regieanmerkung: "Diese Szene ist zu lang. Dem kann aber durch eine lebhafte Spielweise abgeholfen werden." Ein Lob für die Selbstkritik, aber der zweite Satz bleibt rätselhaft. Sollte die Spielweise nicht ohnedies lebhaft sein? Oder ist das eine Falle? David Bösch hat das Rätsel nicht lösen können. Und so sympathisch und notwendig Ausgrabungen am Theater grundsätzlich sind, diese hier ist eher befremdend.
Orpheus steigt herab
von Tennessee Williams. Deutsch von Wolf Christian Schröder.
Regie: David Bösch, Bühne: Patrick Bannwart, Kostüm: Falko Herold, Video: Patrick Bannwart, Falko Herold, Musik: Karsten Riedel, Licht: Jean-Mario Bessière, Dramaturgie: Janine Ortiz.
Mit Annina Hunziker, Michaela Steiger, Lou Strenger, Sebastian Tessenow, Friederike Wagner, Sonja Beißwenger, Thomas Wittmann, Andreas Grothgar, Florian Lange, Samuel Franco.
Premiere am 9. September 2021
Dauer: 2 Stunden 15 Minuten, keine Pause.
www.dhaus.de
"Vorsorglich" wurde am Düsseldorfer Schauspielhaus, das derzeit einen Rassismus-Skandal aufarbeitet, aus dem Tennessee Williams-Stück die einzige schwarze Figur gestrichen, beobachtet Patrick Bahners in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (13.9.2021). "Der durch den Fall George Floyd bestimmten moralischen Reizbarkeit unseres historischen Augenblicks trägt Bösch Rechnung, indem der demokratisch unkontrollierte Sheriff seine Schießwut zum karikaturistischen Exzess treibt." Im Übrigen biete die Inszenierung "den Fatalismus aus dem Sortiment, den man von der Traditionsmarke Tennessee Williams erwartet, Bittersüßigkeiten zweiter Wahl".
David Bösch falle "wenig Zündendes" zum Orpheus-Mythos ein, schreibt Michael Georg Müller in der Westdeutschen Zeitung (online am 12.9.2021). "Einige Darsteller bleiben unentschlossen, kraftlos, fad – leider auch der sonst so agile und zupackende Hauptdarsteller Sebastian Tessenow." Sonja Beißwenger hingegen überzeuge als "angstzerfurchtes Wesen".
"Vor einer mehr oder weniger konventionellen Kulisse läuft sich das Stück leer", schreibt Lothar Schröder in der Rheinischen Post (11.9.2021). "Es scheint zu implodieren, so spannungslos ist das, was sich auf der Bühne abspielt und in klischeehaften Darstellungen erschöpft."
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