Abscheulich ist schön

3. September 2023. Regisseur Evgeny Titov spinnt in Düsseldorf seinen Reigen gräulicher Shakespeare'scher Regenten fort: auf Macbeth folgt Richard III. Wieder mit André Kaczmarczyk in der Titelrolle, als finsterer Womanizer. Ein Fest voll elektrisierender Hässlichkeit.

Von Sascha Westphal

Shakespeares "Richard III." mit André Kaczmarczyk in Düsseldorf © Thomas Rabsch

3. September 2023. Knapp zwei Jahre ist es her, da hat André Kaczmarczyk den Tyrannen und Königsmörder Macbeth in Düsseldorf in Evgeny Titovs Shakespeare-Inszenierung als unschuldig grausames und grausam unschuldiges Kind porträtiert. Sein blutiger Griff nach der Krone glich dem Schöpfungsakt eines Künstlers, der die Welt nach seinem Willen und seiner Vorstellung formen will. Jeder Mord, ein weiterer Versuch, die Wirklichkeit zu überwinden und seinen Traum an ihre Stelle zu setzen. In dem Kinder- und Künstlerreich, das Kaczmarczyk, ganz in schwarz gewandet und von Dreck und Blut verschmiert, regierte, galt ganz im Sinne der drei Hexen, "gut ist böse, und böse ist gut."

Untergang eines Tyrannen

Erinnerungen an diese Inszenierung und an Kaczmarczyks radikales Spiel kehren nun mit aller Macht zurück. Denn einmal mehr verkörpert er einen Shakespeare'schen Mörder und Despoten auf eine höchst eigenwillige Weise, die all die Vorstellungen, die einem über "Richard III." durch den Kopf schwirren, zumindest in Frage stellt. Und wieder ist es Evgeny Titov, der zusammen mit dem Bühnenbildner Etienne Pluss und der Kostümbildnerin Esther Bialas eine Bühnenwelt zwischen Gegenwart und stilisierter Vergangenheit erschaffen hat. Der bröckelnde Putz an den angedeuteten Palastwänden nimmt erneut Verfall und Untergang des Tyrannen vorweg. Doch zugleich erweist sich dieser Raum mit seinen 'falschen', wie Vorhänge nach oben und unten fahrbaren Betonrückwänden als eine Art von Führerbunker.

Der Despot, der sich in einem niemals endenden Krieg mit den Menschen und der Welt befindet, hat sich so tief in seinen Vorstellungen eingerichtet, dass er längst nicht mehr für die Wirklichkeit erreichbar ist. "Foul is fair und fair is foul", dieser Spruch der Hexen schwebt auch über Kaczmarczyks Richard. Wie sollte es bei diesem körperlich entstellten Mann, der bei den Menschen um ihn herum erst einmal nur Abscheu und Ekel auslöst, auch anders sein.

Richard3 805 ThomasRabschIn der Schaltzentrale der Macht: Friederike Wagner, Claudia Hübbecker, André Kaczmarczyk, Manuela Alphons, Judith Rosmair, Blanka Winkler und Pauline Kästner © Thomas Rabsch

Kaczmarczyk balanciert leicht schwankenden Schrittes auf Pony High Heels, deren Plateausohle leicht golden schimmert, über den Abgrund, den Richards Äußeres und sein Inneres erschaffen. Er zelebriert das Hässliche regelrecht und stellt es vor allem durch den extrem fest gebundenen Netzstrumpf aus, den er über seinem Gesicht und Kopf trägt. Dieser schreibt sich fast schon in seine Züge ein und verändert sie. Seine Haut wirkt beinahe wie die eines Reptils. Die Assoziation liegt auf der Hand. Dieser Richard schlängelt sich nicht nur wie eine Giftschlange durch die Welt der Rosenkriege und beißt ausnahmslos alle, denen er auf seinem Weg begegnet. Er ist eben durch und durch kaltblütig, einer, der nichts dem Zufall überlässt und sich von keinerlei Bedauern oder Mitleid aufhalten lässt. Das wissen alle, und doch lassen sie sich, vor allem die Frauen in seinem Bannkreis, immer wieder von seinen falschen Schmeicheleien blenden.

Faszination durch Hässlichkeit

"Abscheulich ist schön." In einem Moment überdeckt die von Claudia Hübbecker gespielte Lady Anne Richard noch mit den wüstesten Schmähungen, die sie, wie es scheint, fast ohne Atem zwischen den Worten und Sätzen zu holen, ausstößt. Im nächsten kann sie ihm nicht nur nicht das Messer in die Brust stoßen, sie erliegt sogar seinem Werben um ihre Hand. Dieser Richard trägt seine Hässlichkeit derart offensiv zur Schau, dass sie sich tatsächlich in ihr Gegenteil verkehrt. Das Hässliche oder auch Abscheuliche wird zur Insignie von Macht, und die übt eine solche Faszination aus, dass sich alles auf der Welt in sein Gegenteil verkehren kann.

Richard1 805 ThomasRabschKönig Richard und die Frauen: André Kaczmarczyk mit Friederike Wagner © Thomas Rabsch

So rigoros und elementar wie André Kaczmarczyks Spiel ist letztlich auch Evgeny Titovs Zugriff auf Shakespeares Königsdrama. Er hat den Text auf ein Drittel zusammengestrichen und konzentriert auf die Frauen um Richard. Andere Männer kommen in dieser Inszenierung praktisch nicht vor, nur als Gefangene im Tower oder als Dahinsiechende, von deren Existenz vor allem die Särge zeugen, von denen nach und nach immer mehr auf der Bühne stehen. Es sind die Frauen, die von Richards Taten und Untaten auf eine weit perfidere Art getroffen werden. Sie sind ihnen ausgeliefert, und für sie gibt es nicht einmal die Erlösung des Todes, die auf alle Männer, Konkurrenten wie Mitstreiter, in Richards Umfeld wartet. Die Frauen leben weiter, so wie die frühere Königin Margaret, deren Verwünschungen und Flüche Friederike Wagner mit einer Sachlichkeit und Kühle vorträgt, die tiefer trifft als jeder Schrei, oder wie Richards Mutter, die von Manuela Alphons gespielte Herzogin von York, mit ihrem Zorn, ihrer Trauer, ihrem Schmerz und ihren widerstreitenden Gefühlen.

Der Lohn der Lieblosigkeit

Aus diesem Weiter-Leben destilliert Titov zusammen mit seinem Ensemble immer wieder höchst eindrucksvolle Szenen und Momente. So kann die Stimmung Judith Rosmairs Königin Elisabeth von einem Augenblick auf den anderen radikal umschlagen. Zunächst stimmt sie noch in die gegen Richard ausgestoßenen Beleidigungen ein. Doch gleich darauf schlägt ihr Hass um und richtet sich gegen ihre Vorgängerin Margaret. In einer Welt, die von der Gewalt der Männer geprägt ist, geraten die Frauen quasi automatisch in Situationen, die sie innerlich zerreißen. Einen Funken Sicherheit finden sie nur, wenn das Abscheuliche schön wird oder sie über alle Differenzen und Rivalitäten hinweg zusammenfinden.

So erwächst schließlich aus Richards Morden, das auch von den Frauen und ihren Haltungen befeuert wird, eine fast schon utopische Solidarität (für so viel Dialektik und Ambivalenz ist in Titovs nicht einmal zwei Stunden dauernder Inszenierung genug Zeit). Es sind die Frauen, die seine Spielbälle waren, die Richard schließlich überwinden. Was bleibt, ist ein einsamer, von seiner Lieblosigkeit gezeichneter Mann, der in seinen letzten Sekunden nicht einmal Mitleid mit sich selbst haben kann. Doch in genau diesem Augenblick empfindet man tatsächlich so etwas wie Mitleid mit ihm. So leise und zart wie Kaczmarczyks Richard einfach verlöscht, steht mit einmal eine andere Wirklichkeit im Raum. Vielleicht hätte es nie so weit kommen müssen, wäre die Welt dem 'Hässlichen' nicht so begegnet, wie sie ihm begegnet ist.

 

Richard III.
von William Shakespeare
Aus dem Englischen von Thomas Brasch
Regie: Evgeny Titov; Bühne: Etienne Pluss; Kostüm: Esther Bialas; Musik und Video: Moritz Wallmüller; Licht: Konstantin Sonneson; Dramaturgie: Janine Ortiz.
Mit: André Kaczmarczyk, Judith Rosmair, Friederike Wagner, Manuela Alphons, Claudia Hübbecker, Blanka Winkler, Pauline Kästner, Jochen Moser / Hans Mayer-Rosenthal, Sae Hanajima, Luke Dopheide, Theodor Taprogge / Rafael Wohlleber.
Premiere am 2. September 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause

www.dhaus.de

 

Kritikenrundschau

"Das Setting der Inszenierungen des russischen Regisseurs Evgeny Titov ist konservativ", schreibt Martin Krumbholz in der Süddeutschen Zeitung (3.9.23). Doch "in diesem scheinbar traditionellen Ambiente" erspiele "der Zeitgeistkiller Titov einen durchweg spannenden Horrortrip, der zudem schlüssig durchdacht" sei. Normalerweise gäbe es in "Richard III." nur eine Rolle, hier seien es sieben, so der Kritiker im Zusammenhang mit der Inszenierungsidee, bis auf den Protagonisten sämtliche Rollen mit Frauen zu besetzen. Judith Rosmair als Elisabeth verstehe dabei von allen am besten, "dass ihr Feind im Grunde ein unsicheres, sich verkannt fühlendes, präpotentes Bürschchen ist".

Von einer "zupackenden, hoch emotionalen" Inszenierung berichtet Michael-Georg Müller in der Westdeutschen Zeitung (4.9.23, €). "Kantig und pathetisch zeigt Titov uns hier einen großartigen Shakespeare-Quasimodo: Er schlägt dabei den Bogen zu Diktatoren unserer Zeit und entfesselt expressive, manchmal überspitzte Bilder", schreibt der Kritiker. Zudem steigere der Regisseur die Spannung "durch opernhafte Momente und großes Kino". Das Fazit des Rezensenten: "Ein fesselnder Theaterabend … über einen vereinsamten, gewalttätigen und mörderischen Diktator" mit "Ovationen" für die Regie, den in der Hauptrolle brillierenden André Kaczmarczyk und das Ensemble.

Eine "bildstarke Spielart interventionistischen Regietheaters" hat Patrick Bahners von der FAZ (4.9.23) gesehen. Evgeny Titov arbeite "mit starken, genauer gesagt emblematischen, zur Lesbarkeit verdichteten Bildern". Sein "Verfahren des Beschneidens und Umwidmens" sei dabei "nicht weniger drastisch als die gängigen Umarbeitungsmethoden des Hineinmontierens von Fremdmaterial und des scheinbar freien Paraphrasierens", urteilt der Rezensent und mutmaßt: "Erwartungen des Abonnementpublikums im Stadttheater dürfte entgegenkommen, dass der Aufwand der Bearbeitung in diesem Fall nicht vom Theaterereignis ablenkt, sondern diesen Ereignischarakter betont. Die Einbuße an der Dauer des Stücks wäre so gesehen als Gewinn an Theaterqualitätszeit zu verbuchen."

"André Kaczmarczyk macht aus Richard ganz und gar das, was Shakespeare dem Herrscher zudachte – eine Titelrolle", schreibt Lothar Schröder in der Rheinischen Post (4.9.2023). Mit ihm komme "alle Tragik und die Wucht der Niedertracht ins Spiel." Regisseur Evgeny Titov habe "aus dem klassischen Tyrannendrama eine Parabel gemacht. Monströse leere Räume, mal Bunker-ähnlich, mal ein riesiges Sterbezimmer, mal die Gruft der Könige, die sich mit Särgen bald zu füllen beginnt." Am Ende stehe eine "schaurige Gewissheit", dass "jede Flucht ausgeschlossen und keine Erlösung mehr greifbar ist".

Kommentare  
Richard III., Düsseldorf: Alles falsch verstanden?
Eins wüsste ich doch zu gerne: Ist es für diesen Stoff, den das Theater immerhin unter dem Namen Shakespeare ankündigt, wesentlich oder egal, dass es um einen Mann geht, der unbedingt und mit allen Mitteln an die Macht gelangen möchte; dass er dafür, jedenfalls zur Zeit der Handlung, alle Männer beseitigen muss, die ihm nach den Gesetzen der Erbfolge im Weg stehen; dass er zum selben Zweck Frauen heiratet; dass nicht persönliche Rache, sondern Krieg seinen Aufstieg verhindert? Und dient es der Aufklärung, wenn in einer Gegenwart von Putin und Prigoschin die Problematik von Intrige, Macht und Krieg vom Geschlechtergegensatz verdrängt wird, über den es ja wirklich treffendere Dramen gibt? Haben Thate, Voss, Stötzner, Hacker, Eidinger, Ian McKellen oder Al Pacino und ihre Regisseure alle missverstanden, worum es geht und wie aktuell es ist?
Richard III., Düsseldorf: Perspektive als Gewinn
#1: Vielleicht versperrt diese Erwartungshaltung auch einfach einen neuen Blick? Das Stück ist noch immer dasselbe, nur die Perspektive verschoben. Und der Stoff anders interpretiert als bei den genannten Beispielen (ach, wie toll kann Theater sein, wenn nicht alles Einheitsbrei ist). Es ging doch nicht schlicht Geschlechtergegensätze, sondern um eine Fokusverschiebung zugunsten derjenigen, die zurückbleiben, wenn Krieg, Verderben und Trauer über sie kommen. Und darum, wie diese Menschen (in dem Fall die Witwen und Waisen) auch noch mit dem Menschen / dem Grauen zurückbleiben, der diesen Irrsinn über sie gebracht hat. So hat man den Richard noch nicht gesehen und ich finde diese Perspektive einen Gewinn. Nun kann man sagen, dafür gibt es aber andere Stücke, aber gerade die Verwebung mit Assoziationen zu Bakchen / Frauen von Troja ist unerwartet und lädt (zumindest mich) zum Nachdenken ein - wenn man sich darauf einlässt und nicht nur das sehen will, was man von einem Richard eh schon weiß. Vielleicht liegt in diesem reichhaltigen Stoff ja auch das Futter für mehr als eine mögliche Interpretation. Hängt alles eben auch stark davon ab, wie sehr man sich von einem angeblich postulierten Geschlechtergegensatz vom Übrigen ablenken lässt und sich in ikonographischer Erwartungsenttäuschung verliert. Toll auch die Behauptung, zu wissen, wie Shakespeare seine Texte meinte und wie sie zu erzählen sind (im Regietheater!). Das Missverständnis sind bekanntlich die anderen.
Apropos die anderen / "das andere": Auch die Figur das Richards war aufregend und neu, die "Entstellung" oder "Missbildung" völlig überraschend und klug gelöst, ein absoluter Gewinn für die Interpretation dieser Figur (vorausgesetzt, man lässt sich darauf ein). Die Hinleitung von Richard zu Putin/Prigoschin ist naheliegend, aber irgendwie auch ein wenig plump. Diese Assoziation lag deutlich unter der Inszenierung, aber ohne, dass sie dem Publikum aufgedrängt werden musste. Was Th. Rothschild hier als angeblich "egal" stempelt, konnte man an dem Abend alles sehen, nur aus anderer Perspektive. Scheinbar haben ihm zu viele Frauen auf der Bühne den shakespear'schen Handlungsstrang vernebelt. Schlimm. Aber jetzt wissen wir wenigstens, wie viele Richards er bereits gesehen hat.
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