Serge - Düsseldorfer Schauspielhaus
Ausflug nach Auschwitz
19. März 2023. Eine jüdische Familie fährt nach Auschwitz, um in die Geschichte ihrer Vorfahren zu tauchen. Die gemeinsame Reise wirft sie dann aber eher auf sich selbst und ihre Zwistigkeiten zurück. Selen Kara hat den Roman von Yasmina Reza für die Bühne adaptiert. In gedeckten Farben und mit famosen Schauspieler:innen. Trotzdem fehlt was.
Von Martin Krumbholz
19. März 2023. Wie illustriert man den touristischen Besuch einer heutigen jüdischen Familie aus Paris in Auschwitz, an einem deutschen Theater, im Jahr 78 nach dem Holocaust? Am besten sicherlich gar nicht. Auf die Frage, warum es eine gute Idee sein soll, den Roman "Serge" von Yasmina Reza für den Spielplan des Düsseldorfer Schauspielhauses zu adaptieren, wird es am Ende keine Antwort geben, aber in einer zentralen Szene verdichtet sich die ganze Aporie des Abends: Die Familie Popper, drei Geschwister, eine Tochter, ist also in Auschwitz eingetroffen; drei ineinander verzahnte, neonbeleuchtete Theaterportale im Kleinen Haus, das eigentlich eine Raumbühne ist, werden auseinander genommen und ein Stück in die Tiefe gefahren, das Licht heruntergedimmt, die Figuren stehen rat- und planlos herum, irgendeine Musik ist auch dabei, und vier silberne Rollkoffer symbolisieren den touristischen Aspekt eines Unternehmens, das nur scheitern kann.
Verzanktes Geschwistertrio auf Auschwitz-Besuch
Worum geht es? Die Idee, als Familie nach Auschwitz zu fahren, stammt von Josephine, der Tochter der Titelfigur Serge; dessen Bruder Jean ist der Ich-Erzähler, Schwester Nana ergänzt das Quartett. Serge ist ein Egozentriker, tief gekränkt, weil sein Neffe Victor für eine Jobvermittlung nicht dankbar genug ist, und dieser Serge wird den "Ausflug" mit Ignoranz und Verbalattacken auf die anderen nach Kräften sabotieren. Josephines Appell, "wenigstens ein bisschen Interesse aufzubringen" für Gaskammern, "Judenrampe" und "Sauna" schmettert er ab. Und nicht einmal vollkommen zu Unrecht, denn der kuratorische Rahmen, in dem das Ungeheuerliche hier zu rezipieren ist, trägt durchaus ambivalente Züge.
Ist die Geschichte zum Lachen? Wer Texte von Yasmina Reza kennt, wird nicht davon überrascht sein, dass die französisch-jüdische Autorin ihr Thema, und sei es noch so heikel, nicht mit Orthodoxie oder zu großem Respekt vor Ritualen abhandelt. Aber was ist überhaupt ihr Thema? Das Programmheft verweist darauf, dass die Nöte und Probleme der zweiten und dritten Generation nach Auschwitz (man nennt es "transgenerative Weitergabe") in der Antisemitismusforschung bis heute eine untergeordnete Rolle spielten. Doch auch Reza räumt dem Komplex in ihrem Roman keine Priorität ein. Die Auschwitz-Szene hat tatsächlich etwas Komisches, weil die Figuren bei der Suche nach einer Haltung zum Gebotenen so lange hin und her schwanken, bis der ursprüngliche Anlass ihres Besuchs zu Staub zerfällt.
Das Konzept Familie auf dem Prüfstand
Gelacht wird in Düsseldorf wenig, aus verständlichen Gründen. Dabei hat "Serge" am Ende weniger in Primo Levis Büchern oder in Claude Lanzmans "Shoah"-Film (beide werden zitiert) seine gültigen Referenzen als etwa in Rezas eigenem Erfolgsstück "Kunst". Sogar die Figurenkonstellationen sind sich verblüffend ähnlich: Hier wie da drei Protagonisten, zwei davon (Serge und Nana) herzlich miteinander verkracht, der Dritte (Jean) schwankend dazwischen. In "Kunst" ist das Konzept Freundschaft das Thema, in "Serge" das Konzept Familie. Beide Konzepte werden auf ihre Tauglichkeit beziehungsweise Brüchigkeit hin untersucht, das ist Rezas großes Talent. Ihr Erfolg rührt daher, dass beide Konzepte populär sind und gebraucht werden.
Die Regie von Selen Kara, man muss es leider so hart sagen, ist holprig. Meistens stehen die Figuren eckig herum und öden einander an; die Textfassung erzählt viel zu brav die Fabel nach, ohne Mut zu Auslassungen und Zuspitzungen. Die Spieler, in schreckliche Kostüme gesteckt, Braun-Blau-Mischungen nicht ohne Karos, vielleicht im Fünfziger-Jahre-Stil, von vornherein also zu Karikaturen bestimmt, bleiben unter ihrem normalerweise in Düsseldorf zu erwartenden Niveau. Andreas Grothgar als Serge kotzt den Kotzbrocken aus, nicht einmal so genüsslich, wie man es von ihm kennt, ohne die Nuancen des Verblüffenden, des Weichen, die die Figur auch haben könnte. Von dieser Weichheit hat Thomas Wittmann als Jean dagegen fast zu viel, man entwickelt Mitleid mit einer Figur, die mehr Aufmerksamkeit verdiente. Die famose Claudia Hübbecker als Nana rettet sich in die Routine einer Schauspielerin, die ihr Geschäft blendend versteht, aber entdeckt wird hier nichts Neues. Schade.
Humor und Moral
Die brillanteste Pointe aus "Serge", kein Zufall, geht fast unter. Es gebe bei den Juden ein ungeschriebenes Gesetz, behauptet da Reza mit der ihr geläufigen Selbstironie, Bettlern immer und überall etwas zu geben. Und zwar nicht etwa aus moralischen Gründen, nein, sondern um die Zeitverschwendung zu vermeiden, die Anflüge entweder von Stolz oder von Scham ansonsten bedeuten würden. Der staubtrockene Pragmatismus dieses kategorischen Imperativs mag ein Topos sein, aber triftig ist er auf jeden Fall. Man muss sich nicht für einen besseren Menschen halten, wenn man Bettlern etwas gibt, man sorgt dabei auch für sich selbst – und für eine bessere Welt. Der Humor und die Moral von Yasmina Reza haben sich an diesem Abend für Düsseldorf als zu vertrackt erwiesen.
Serge
von Yasmina Reza. Aus dem Französischen von Frank Heibert und Hinrich Schmidt-Henkel, in einer Theaterfassung von Christopher-Fares Köhler und Selen Kara
Regie: Selen Kara, Bühne: Lydia Merkel, Kostüm: Anna Maria Schories, Musik: Torsten Kindermann, Jan-Sebastian Weichsel, Licht: Konstantin Sonneson, Dramaturgie: Christoph-Fares Köhler.
Mit: Thomas Wittmann, Claudia Hübbecker, Andreas Grothgar, Rainer Philippi, Sophie Stockinger, Mehdi Moinzadeh, Cathleen Baumann.
Premiere am 18. März 2023
Dauer: 1 Stunde 45 Minuten, keine Pause
www.dhaus.de
Kritikenrundschau
"Die Aufführung plätschert vor sich hin, die Pointen sind rar gesät, die biederen Kostüme riechen nach Provinztheater. Mit den Figuren wird man nicht warm, nur ganz zum Schluss, wenn bei Serge das Schicksal in Form eines Tumors zuschlägt, macht sich etwas Mitgefühl breit“, schreibt Sven Westernströer in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (20.3.2023). Das Ensemble bleibe unter seinen Möglichkeiten. "Zwar rennen sich die Schauspieler die Hacken ab, doch etwas Tiefe, Schärfe oder gar Wärme vermögen sie kaum zu transportieren."
Man sehe hier Figuren, die nicht in die Kategorien gut oder böse eingeordnet werden könnten. "Es sind einfach Menschen", so Stefan Keim von WDR 3 "Mosaik" (20.3.2023), der den Abend dennoch mitunter langweilig fand. Selen Kara mache verhältnismäßig wenig aus dem großen Thema. Ein Problem sei auch das Bühnenbil, das dem Kritiker gar nicht sagte: "In diesem Bühnenbild könnte man fast alles spielen."
Eine "charmante Chemie" und auch lustige Momente hat Christoph Ohrem für die Sendung "Scala" auf WDR 5 (20.3.2023) auf der Düsseldorfer Bühne ausgemacht; "aber das alles ist zu eindimensional und wenn man jetzt sagen möchte, da soll was über transgenerationale Weitergabe von Traumata erzählt werden oder wirklich mal nachgeguckt werden, was ist denn eine gelungene oder eine gescheiterte Erinnerungskultur? Das kann dieser Abend dann überhaupt nicht, da bleibt er rein auf der Ebene eines Unterhaltungstheaterabends."
"Serge" sei "kein Theaterstück, jedenfalls nicht in dieser Fassung", schreibt Lothar Schröder in der Rheinischen Post (20.3.2023). "Zu sehr klebt Regisseurin Selen Kara an der Romanvorlage (...). Das Stück hangelt sich nicht von Szene zu Szene, sondern mehr von Buchkapitel zu Buchkapitel. Das ist mitunter zäh, manchmal auch lähmend."
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