Woyzeck - Düsseldorfer Schauspielhaus
"Gehn Sie ins Theater, ich rat' es Ihnen!"
10. Februar 2024. Kaum ein Stück wird derzeit so häufig inszeniert wie Büchners Sozialdrama um den prekären Woyzeck und seinen Mord an Partnerin Marie. Während viele Abende dabei eilfertig den nächstliegenden Diskursen hinterherlaufen, entscheidet sich Luise Voigt für einen genauen Blick und kommt zu außergewöhnlichen Ergebnissen.
Von Martin Krumbholz
10. Februar 2024. In seinen seltenen, aber höchst dezidierten poetologischen Äußerungen macht Georg Büchner regelmäßig einen Gegensatz auf zwischen "Marionetten", den idealisierten Figuren, die auf fünffüßigen Jamben daherkommen, und den lebensnahen "Kreaturen", die unser Mitleid herausfordern. Wenn in Luise Voigts "Woyzeck"-Inszenierung die Spieler an den japanischen Butoh-Tanz angelehnte Bewegungen ausführen, haben sie gleichfalls etwas Puppenhaftes, aber es hat einen anderen Sinn. Diese musischen und zugleich seltsam amorphen Tänze verdeutlichen den "Riss in der Schöpfung", der das Kernthema in Büchners strikt antitheologischer Agenda ausmacht.
Bei Woyzecks in der Wohnküche
Der "Fels des Atheismus", wie es in "Dantons Tod" heißt, er ragt auch in den viel engeren Woyzeck-Kosmos hinein. Und den hat die Regisseurin ein wenig verändert: Der Barbier und Soldat Woyzeck und seine uneheliche Partnerin Marie bilden eine Familie, eine fünfzehnjährige Tochter und eine Großmutter kommen hinzu. Die großartige Bühne (Natascha von Steiger) birgt diesen Biotop, eine mit Nippes bestückte Wohnküche, in einem geschlossenen Kubus, dessen Innenleben per Live-Video nach außen übertragen wird.
Dank der Hubsysteme des Düsseldorfer Schauspielhauses hat diese Bühne aber auch eine entschieden vertikale Dimension. Ein leerer Unterbau hebt den Kubus in die Höhe und erlaubt Raumspannungen von grandioser Wirkung. Live-Szenen und Filmeinblendungen finden parallel statt. Beispielsweise sieht man den von Sebastian Tessenow gespielten Woyzeck, wie er seinen Hauptmann (Thiemo Schwarz) rasiert, und in einer filmischen Weiterführung, wie er ihm die Kehle durchschneidet.
Voigt hat sich die Figuren genau angesehen. Der Doktor (Yascha Finn Nolting) ist kein Dummkopf, wie man bei flüchtigem Lesen meinen könnte, sondern so etwas wie ein langhaariger "Joker", ein Arrangeur und Durchblicker, perfide und diabolisch. Aber es geht nicht so sehr um Psychologie, die ist auch Büchners Stärke nicht. Es geht um soziale Spannungen und ihre Festschreibung in scharfen, brennenden Bildern.
Woyzeck ist ein Gehetzter von Anfang an. Er ist immer in Bewegung, ohne jeden Ruhepunkt. Die Familie, die sich die Zeit mit Kartenspiel vertreibt, beherbergt ihn nicht. Marie (Cathleen Baumann) flirtet mit dem völlig reizlosen, nicht einmal uniformierten Tambourmajor (Florian Lange). Die beiden Personen, die Woyzeck vielleicht am nächsten stehen, sind fast komplett stumm. Man kann sie gelegentlich in Großaufnahmen betrachten: Caroline Cousin mit ihrem schönen, ausdrucksstarken, nachdenklichen Gesicht als Teenager, und Markus Danzeisen als Woyzecks Kamerad Andres, der in einer entscheidenden Szene den Dialog verweigert und nur irgendwie wissend (halb-ironisch) vor sich hin schmunzelt.
Nichts Überflüssiges
Eine aufregende Toncollage (Friederike Bernhardt) liefert den Sound zu einem Albtraum, aus dem es kein Entrinnen gibt. Und ja, Büchners fulminante Sprache findet statt, auch wenn Manuela Alphons ihr Märchen fast beiläufig präsentiert: Luise Voigt kommt vom Hörspiel her. Viel Text ist gestrichen, wobei es bei Büchner natürlich nichts Überflüssiges gibt, die Aufführung dauert kaum anderthalb Stunden. Die Geschichte passt auf einen Daumennagel: Der Gedemütigte ventiliert seine Not in einer tödlichen Affekthandlung.
Häusliche Gewalt spielt durchaus eine Rolle, sogar noch mehr als im Original, da Voigt den Schluss vom freien Feld ins Haus verlegt. Aber die Regisseurin bedient keinen aktuellen Diskurs, nur weil es ein aktueller Diskurs ist. Der Mord findet statt, im Film, doch er scheint in einem rückwärts laufenden Mitschnitt buchstäblich zurückgenommen zu werden. Das hat wenig mit der Naivität einer besserwisserischen Umstülpung eines kanonisierten Textes zu tun, dazu ist dieser Vorgang zu verspielt. Wenn man einen fehlerhaften Protagonisten weder anklagt noch verteidigt, überlasst man die Schlussfolgerungen dem Publikum.
Kein Bett und nichts zu lachen
"Man muss lachend zu Bett gehen", sagt der Revolutionär Danton vor seiner Hinrichtung. Woyzeck hat in seinem ganzen Leben nichts zu lachen gehabt. Und im Grunde auch kein Bett.
Diese eigensinnige, knappe, radikal junge Aufführung löst Diskussionen aus: empörte Ablehnung und begeisterte Zustimmung. "Aber gehn Sie in's Theater, ich rat' es Ihnen", heißt es ebenfalls im "Danton".
Woyzeck
von Georg Büchner.
Regie: Luise Voigt, Choreografie: Minako Seki, Bühne: Natascha von Steiger, Kostüm: Maria Strauch, Musik: Friederike Bernhardt, Video: Stefan Bischoff, Licht: Jean-Marie Bessière, Dramaturgie: Robert Koall.
Mit: Sebastian Tessenow, Cathleen Baumann, Caroline Cousin, Thiemo Schwarz, Yascha Finn Nolting, Florian Lange, Markus Danzeisen, Manuela Alphons.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.dhaus.de
Kritikenrundschau
Von einer fesselnden, wagemutigen Inszenierung, die beweise, "dass Theater mit immer wieder neuen Mitteln die Augen öffnen kann" schreibt Bertram Müller in der Rheinischen Post (12.2.2024). Gemeinsam mit den fantastischen Ensemble verzichte die Regisseurin Luise Vogt auf individuelle Schuldzuweisungen. "Was sie kritisiert, ist die Welt, in der Woyzeck leben musste und der er zum Opfer fiel. Von dort zieht sie Parallelen zur Gegenwart." Denn Woyzecks Befund gelte nach wie vor: "Jeder Mensch ist ein Abgrund; es schwindelt einem, wenn man hinabsieht."
"True Crime des frühen 19. Jahrhunderts als Psycho-Sozial-Thriller und extrem stilisiertes Tanz- und Sprech-Theater", fasst Michael-Georg Müller in der WAZ (12.2.2024) seinen Eindruck zusammen. Luise Voigt entblättere, "wie eine Analytikerin das Innenleben des harmlosen, ursprünglich liebevollen Woyzeck, der zum Täter wird." Der Kritiker sieht Psycho-Bilder mit wenig Büchner-Text in knapp 90 Minuten vorübereilen. "Untermalt von perkussiven Sounds oder einer dumpfen, streckenweise dröhnenden Geräuschkulisse (Friederike Bernhardt). Das Gift, das Seele und Körper des Protagonisten zuerst verunsichert, sich dann allmählich aber wie ein mörderischer Virus ausbreitet, heißt Eifersucht."
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haben Sie Dank für Ihren Text zur Düsseldorfer "Woyzeck"-Premiere. Für mich bzw. uns, wir sind als Paar Theaterliebhaber, ist Ihr Text aufschlussreicher und spannender als es die Aufführung war. Aspekte, die Sie einbringen und antippen, sind uns ob quälender Langeweile und Kampf gegen Schlafanfälle, nicht in den Sinn gekommen.
Wir finden es anregend, eine ganz andere Meinung/ Auffassung zu der Inszenierung zu lesen. Sie haben unseren Blick erweitert.
Nur: Wir wundern uns, wieso Sie diese "Woyzeck"-Version als "radikal junge Aufführung" verstehen. Gerade Junges haben wir in dem Gewusel aus Castorf- & Wilson-Kopie plus Anleihen beim Expressionismus. All das Rauf- und Runterfahren der Bühnenaufbauten, das Zucken und Zappeln der Akteure, die überbordende Musik haben uns keine Räume eröffnet, weder Handlungs- noch Seelenräume.
Unmittelbar nach der Premiere haben wir Freunden geraten, die Aufführung nicht zu besuchen. Aber: Auf Grund Ihrer Rezension werden auch wir in einigen Wochen ein zweites Mal hingehen. Vielleicht entdecken wir dann mehr. Ihr Text jedenfalls hat uns bereichert. Danke.
Wir haben eine "Leitkultur", aber sie leitet niemanden mehr.
Die Kritik von Martin Krumbholz sollte in der Diagnose, die Regie werfe einen genauen Blick auf den Text, allerdings reflektieren, dass dieser vorwiegend ein figurenbezogener bleibt und ihm die von Christian Milz angemerkten Dimensionen (weitere könnte man hinzufügen) entgehen. Diese wiederum würden mit Sicherheit das Bühnenspektakelhafte verunmöglichen.