Die Austreibung des Sklavenhändlergeists

von Dorothea Marcus

Mülheim an der Ruhr, 4. November 2016. Während im Jahr 1607 "Orfeo" von Monteverdi, die erste Oper der Weltgeschichte, in Mantua zur Uraufführung kam, legten an westafrikanischen Stränden Schiffe voller Sklaven ab, um der europäisch geprägten "Neuen Welt" Wohlstand – und weiteren wohlfeilen Musikgenuss – zu ermöglichen. Eine Gleichzeitigkeit, die das Drama der Kolonialgeschichte zusammenfasst: Der Traum der einen war das Trauma der anderen Seite. Diese Ausbeutungszusammenhänge zu untersuchen, haben sich das in NRW spitzengeförderte freie Ensemble Kainkollektiv und das kamerunische Theater OTHNI mit "Fin de Mission – Ohne Auftrag leben" am Mülheimer Ringlokschuppen vorgenommen.

Barockmusik im Remix

Auf der Bühne sieht man zuerst nur turmhohe Plastikstuhlstapel, geisterhaft herumgeschoben von acht weiblichen und männlichen, kamerunischen und deutschen Performern, die in aus afrikanischen Stoffen geschneiderten Reifröcken zu Händels "Wassermusik" formvollendet steife Barocktänze vollführen. Immer stärker werden sie von Percussions und dem selbstbewussten Klagegesang von Madeleine Pélagie Nga Alima überlagert. Ein selbstironischer Remix, der andeutet, wie eine Kunst in einer gleichberechtigten Neuen Welt hätte aussehen können.

findemission2 560 Stephan Glagla uIm Licht und Schatten der Kolonialgeschichte: Edith Voges Nana Tchuinang, Catherine Jodoin, Kerstin Pohle und Madeleine Pélagie Nga Alima © Stephan Glagla

Bereits zum zweiten Mal arbeiten die Gruppen zusammen. Erneut klingt der Name Heiner Müllers durch den Stücktitel: "Fin de Mission" ist eine Art Überschreibung von Müllers Kolonialismusstück "Der Auftrag" aus dem Jahr 1979, das vom gescheiterten Versuch französischer Revolutionäre erzählt, in Jamaika einen Sklavenaufstand zu initiieren.

Gemeinsam mit ihren drei kamerunischen Kollegen reiste das Kainkollektiv im Sommer 2016 in den Ex-Sklavenhafen Bimbia und schipperte anschließend auf einer geradezu mythischen Bootstour unter strömendem Regen nach Manoka an der Küste Kameruns, wo heute noch ein wild bewachsener Gefängnisturm von der Verschiffung von 11 bis 15 Millionen Sklaven zwischen 1519 und 1867 berichtet. Etwa 20 Prozent der Afroamerikaner, inklusive Michelle Obama, lernen wir, haben kamerunische Wurzeln – doch die katastrophale Kolonialgeschichte des westafrikanischen Landes ist weitgehend unerforschtes Gebiet.

Blutrote Handelsrouten

Auf der Videoleinwand im Hintergrund der Bühne werden die Handelsrouten der Sklaverei blutrot computersimuliert, mitsamt den dazugehörigen Hafenumschlagplätzen von Nantes nach Trinidad. Bedrohlich thronen David Guy Kono und Edith Voges Nana Tchuinang auf Stuhl-Bergen und fragen die Zuschauer nach ihrer Verantwortung, doch die bleiben natürlich still. Die 200 Bühnenstühle werden zu Mauern, Barrieren, Friedhofsfeldern, die Tänzerin Catherine Jodoin behängt sich mit ihnen wie mit Sklavenketten und windet sich grazil hindurch. "Stop! Ist das Gespenstertheater für Kinder?", schreit Kono schließlich und erklärt, dass das einzige Mittel, um das Böse zu bannen, kein Theater, sondern nur ein gemeinsames Ritual sein kann: eine Opferung.

findemission1 560 Stephan Glagla uErzählen, wie der Tourismus die alten Sklavenhäfen erobert: Szene mit Edith Voges Nana Tchuinang und David Guy Kono © Stephan Glagla

Und so stürzt man sich gemeinsam hinein in eine afrikanische Auslegung von Theater, die Austreibung der schlechten Geister, mit Opferschreien, Tänzen und Gesängen, mit Redefetzen, die einen direkten Zusammenhang zwischen dem "Code Noir" des Louis XIV. und Angela Merkels Lippenbekenntnis zur "Bekämpfung von Fluchtursachen in Afrika" ziehen. Das Ganze läuft in ohrenbetäubender Lautstärke im Mix aus Gitarre, Percussion, eingespielten Tönen, Tanz, simultanübersetzten Wissenshäppchen auf Deutsch und Französisch – eine kalkulierte, zuweilen nervige und anstrengende Überforderung.

"Ich habe erst in Deutschland gelernt, dass Kolonialismus etwas Schlimmes ist"

Eigene Magie entfaltet dieser Abend dann, wenn es stiller wird, sich Raum für die echten Reisebeschreibungen öffnet, die surrealen Videos von durchnässten Performern auf dem Boot vor dem bewachsenen und vergessenen Sklaven-Turm in Manoka eingeblendet werden oder die Folterrelikte des Sklavenhafens Bimbia, der gerade als Touristenattraktion entdeckt wird. Schön ist, wie sich die Performer zuweilen poetisch selbst stilisieren als Wandernde durch dunkle, mythische Tore der Erinnerung und dabei stets die europäisch-afrikanische Doppelperspektive gewahrt bleibt. "Wir haben uns doch schon lange gegenseitig konsumiert", resümiert Edith Voges Nana Tchuinang.

Antoine Effroy bittet schließlich als leicht verstörter und verschwitzter Afrika-Tourist, halbnackt mit Filzhut, um Absolution – die ihm von den Kamerunern stolz verwehrt wird. So etwas wie Absolution gibt es erst im Finale, als sie in einer Reihe ein kraftvolles Rituallied singen.

In Kamerun, lernt man danach beim Publikumsgespräch, werde die Kolonialgeschichte in der Schule immer noch totgeschwiegen. Schüler läsen "Madame Bovary"-Exemplare, die ihnen aus Frankreich geliefert würden. "Ich habe erst in Deutschland gelernt, dass Kolonialismus etwas Schlimmes ist. Bei uns glaubt jeder, das sei völlig ok", sagt eine kamerunische Einwanderin im Publikum, und der Musiker Jean Calvin Yugye fügt hinzu, dass die blutigen Fakten dort allenfalls in Form von Kunst erzählt werden dürfen. Der Abend mag vollgestopft, überfrachtet, zuweilen recht vereinfacht und ziemlich enzyklopädisch wirken. Aber als Geschichtsforschung aus doppelter Perspektive entfaltet er nachhaltige Wirkung.

 

Fin de Mission – ohne Auftrag leben
Die erste deutsch-kamerunische Oper(ation) zum Gedächtnis der Sklaverei
Konzept und Inszenierung: Fabian Lettow und Mirjam Schmuck (kainkollektiv), Martin Ambara (OTHNI), Video: sputnic (Voges), Bühne: herrwolke, Kostüm: Alexandra Tivig, künstlerische Mitarbeit: Kathrin Ebmeier, Produktionsleitung: Mina Novakova,
Von und mit: Antoine Efroy, Catherine Jodoin, David Guy Kono, Carsten Langer, Madeleine Pélagie Nga Alima, Rasmus Nordholt-Frieling, Kerstin Pohle, Edith Voges Nana Tchuinang, Jean Calvin Yugye.
Dauer: 1 Stunde, 45 Minuten, keine Pause

www.ringlokschuppen.ruhr

Kommentare  
Fin de Mission, Mülheim zur Geographie
Das im Text erwähnte Manoka liegt an der kamerunischen Küste und hat mit Namibia, das sehr weit entfernt ist von Kamerun, nichts zu tun.

(Vielen Dank für den Hinweis! Wir haben die Angabe berichtigt. Mit besten Grüßen aus der Redaktion, Christian Rakow)
Fin de Mission, Mülheim: excellente initiative
Excellente initiative que cette réflexion autour des cultures nées en terres éloignées au départ. La rencontre qui est aussi musicale, célèbre d'autant la proximité des humains.
Fin de Mission, Mülheim: un très belle expérience
"Fin de Mission" très belle expérience pour moi. C'est un projet qui m'a parmi de savoir que bien que nous soyons différents, nous sommes aussi semblables et surtout à l’intérieur de chacun de nous il y a un être humain.

Also ich wahle "Fin de Mission"
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