Europa oder die Träume des Dritten Reichs - Theater an der Ruhr
Endstation Untergang
31. Oktober 2021: Wenn Theater in Trance versetzt und Unbewusstes offenlegt: Philipp Preuss kombiniert in "Europa oder die Träume des Dritten Reichs" Lars von Trier-Filme mit Traum-Aufzeichnungen aus Nazi-Deutschland.
Von Sascha Westphal
Endstation Untergang
von Sascha Westphal
Mülheim, 30. Oktober 2021. Im Zentrum von Ramallah Aubrechts Bühne stehen in regelmäßigen Abständen sieben gleich große Tore hintereinander, die sich komplett erleuchten lassen. Gemeinsam deuten sie eine Art von Tunnel oder auch einen Zug an. Gehen die Lichtbögen in rhythmisierten Intervallen nacheinander an und wieder aus, wirkt es, als ob dieser Zug durch einen Tunnel fährt. So entstehen in "Europa oder Die Träume des Dritten Reichs" immer wieder auf ganz simple Weise hypnotische Bilder, die in einen seltsamen Zustand zwischen Wachen und Träumen, Wahn und Wirklichkeit versetzen.
Zeugnis von der Macht des Unbewussten
Dieses ewige Dazwischen, dieser Schwebezustand, in dem sich alles miteinander vermischt und einem nichts Sicherheit geben oder Klarheit schenken kann, ist das eigentliche Reich von Philipp Preuss' Inszenierung, die zwei Filme aus Lars von Triers sogenannter "Europa"-Trilogie, "Epidemic" und "Europa", miteinander verschneidet und sie dann mit Auszügen aus Charlotte Beradts soziologischer Untersuchung "Das Dritte Reich der Träume" streckt. Diese drei so unterschiedlichen Stoffe, die aber alle von der Macht des Unbewussten zeugen, verbinden sich letztlich nur lose.
Aber das reicht: Gerade die Lücken und Brüche, die Preuss gar nicht erst zu verdecken versucht, provozieren ein Gefühl stetiger Verunsicherung, das zum Tor in einen anderen Bewusstseinszustand wird. Theater als Rauschmittel, das es einem ermöglicht, im Alltag verborgene Zusammenhänge zu erkennen. Das Verdrängte und Verschüttete, das tief im kollektiven Unterbewusstsein Versenkte, kommt im Rausch der Trance an die Oberfläche, wird sichtbar und lässt sich damit auch analysieren.
Hypnotische Lichtbögen
Ramallah Aubrechts Lichtbögen dienen jedoch nicht nur dazu, das Publikum im Verbund mit Petra von der Beeks Stimme zu hypnotisieren. Sie schaffen zugleich auch zwei sehr konkrete Räume des Innen und des Außen. Zwischen den Bögen spielen sich vor allem die Szenen aus Lars von Triers Neo-Noir "Europa" ab, in dem ein junger Deutschamerikaner wenige Wochen nach Ende des Zweiten Weltkriegs zum Spielball einer Nazi-Verschwörung wird.
Links und rechts der Bögen treten immer wieder Lars und Niels, die beiden Filmemacher und Drehbuchautoren aus "Epidemic", an Mikrofone und spielen sich ihre Ideen wie Tennisbälle zu. Die beiden von Fabio Menéndez und Alexander Gier verkörperten Künstler müssen innerhalb von fünf Tagen ein Drehbuch schreiben, an dem sie eigentlich schon seit anderthalb Jahren arbeiten. Eine unmögliche Aufgabe, die sie nutzen wollen, einen anderen Weg einzuschlagen. Fasziniert von mittelalterlichen Berichten über die Pest und ihre Auswirkungen wollen sie auf eine eher assoziative Weise von einer neuen Epidemie erzählen, die über Europa hereinbricht und ausgerechnet von dem Arzt verbreitet wird, der sie bekämpfen will.
Infiziert von einem ideologischen Virus
In dem Hin und Her zwischen Ebenen von Innen und Außen, Handlung und Reflexion, verschwimmen auch die beiden Filme und ihre Figuren miteinander. Albert Bork spielt mit weit geöffneten Augen und ungläubigem Blick den jungen, naiven Deutschamerikaner Leo Mesmer aus "Europa", der eine Ausbildung zum Schlafwagenschaffner bei dem von Max Hartmann geleiteten Bahnunternehmen Zentropa annimmt und sich in dessen Tochter Kat verliebt, und ist zugleich der Arzt aus dem Film-im-Film in "Epidemic". Nur ist es ein ideologisches Virus, von dem er infiziert wird.
Durch seine Beziehung zu Kat, der Dagmar Geppert mit ihrem hochartifiziellen Spiel zwei Gesichter verleiht – mal ist sie eine Femme Fatale des deutschen Faschismus, mal eine junge Frau auf der Suche nach Unschuld und Erlösung –, wird er zum Komplizen der nazistischen Werwölfe, die den beendeten Krieg mit Anschlägen und Attentaten weiterführen. Er, der keine Seite wählen wollte und davon träumte, Europa und Amerika direkt nach dem Krieg zu versöhnen, wird von beiden Seiten instrumentalisiert. Denn auch die Amerikaner nutzen ihn, in Gestalt des US-Offiziers Colonel Harris – bei Steffen Reuber ein zynischer "Uncle Sam" – für ihre Zwecke aus.
Kolportage, zum Comichaften gesteigert
Preuss und sein Ensemble verstärken die kolportagehaften Elemente von Lars von Triers "Europa" durch ein bewusst expressives, in einigen Momenten ans Comichafte grenzendes Spiel. So entstehen etwa in dem Moment, in dem der von Felix Römer gespielte Max Hartmann mit nacktem Oberkörper am Ende des Tunnels aus Lichtbögen steht und Blut von der Decke auf ihn herabtropft, Bilder, die direkt aus einem bizarren Albtraum stammen könnten. Aber Preuss spitzt "Europa" nicht nur zu. Er vertieft von Triers Genrefantasie, die von Jacques Tourneurs Film noir und Spionagethriller "Berlin Express" aus dem Jahr 1948 inspiriert ist und ironisch mit Elementen und Motiven des Hollywood-Kinos spielt. Dafür nutzt er die von Charlotte Beradt aufgezeichneten Träume von Deutschen während der ersten Jahre der nationalsozialistischen Herrschaft.
Immer wieder fallen die Spielerinnen und Spieler aus ihren Rollen und sprechen Beradts Traum-Texte, die auf eindringliche Weise verdeutlichen, wie der nationalsozialistische Machtapparat in das Unbewusste der Menschen eingedrungen ist und es sich zunutze gemacht hat. Gerade in diesen Augenblicken, in denen sich die Noir-Erzählung für die im wahrsten Sinne alltäglichen Träume des Dritten Reichs öffnet, geht die Analogie von Epidemie und Ideologie perfekt auf. In ihnen offenbaren sich die Linien, die von den 1930er Jahren über von Triers illusionsloses Porträt der "Stunde Null", die nur Lüge und Leugnung war, zu unserer pandemischen Gegenwart führen. Preuss' Theater der Trance gebiert so luzide Träume, aus denen es allerdings kein Erwachen mehr gibt. Am Ende von "Europa" stürzt ein Zug in einen Fluss. Und auch diese Inszenierung kennt nur eine Endstation: den Untergang.
Europa oder die Träume des Dritten Reichs
von Lars von Trier / Charlotte Beradt
Regie: Philipp Preuss; Dramaturgie: Helmut Schäfer; Bühne: Ramallah Aubrecht; Kostüm: Eva Karobath; Video: Konny Keller; Musik: Kornelius Heidebrecht; Licht: Jochen Jahncke; Ton: Franz Dumcius.
Mit: Petra von der Beek, Alexander Gier, Fabio Menéndez, Gabriella Weber, Felix Römer, Dagmar Geppert, Albert Bork, Steffen Reuber, Klaus Herzog, Rupert J. Seidl.
Premiere am 30. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 55 Minuten, keine Pause
www.theater-an-der-ruhr.de
Kritikenrundschau
Jens Dirksen schreibt in der Westdeutschen Allgemeinen Zeitung (online 31.10.2021, 11:09 Uhr): In Philipp Preuss’ "Destillations-Versuch" verschwömmen "geschichtliche Verhältnisse zu einem einzigen Kontinuum des Unheils", das mit "Film- und Psychoanalyse-Fetzen" tapeziert werde. Die Inszenierung finde "viele Bilder" dafür, dass die "Exzesse des Finanzkapitalismus" mit dem "Erstarken des Rechtspopulismus" und der "Ausbreitung von Covid-19" zusammenhänge. Zwar seien die Bilder im einzelnen "gut choreografiert" wirkten aber oft beliebig gesetzt. Das machen den Abend länger als seine zwei Stunden Dauer.
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