Der lange Schlaf - Theater Oberhausen
Nichtstun als Chance
27. Mai 2023. Verdörrte Wälder und Hitzeperioden: Wie wäre es, die gesamte Menschheit in einen Winterschlaf zu versetzen, damit die Natur sich erholen kann? Nachdem Philipp Stölzl Finegan Kruckemeyers Gedankenspiel im Januar in Hamburg zur deutschprachigen Erstaufführung gebracht hat, schickt nun Christoph Mehler das Stückpersonal in die Ruhepause.
Von Karin Yeşilada
27. Mai 2023. Dass am Premierenabend im Oberhausener Theater etliche Plätze freibleiben, liegt wohl am wunderbaren Frühlingswetter. Endlich alles wieder grün! Allerdings ist den ausgedünnten Bäumen der Stress vergangener Extremtemperaturen anzumerken. Wie viele Hitzesommer werden sie noch aushalten? Und wie sehen unsere Parks aus, wenn die Platanen und Buchen abgestorben sind? Finegan Kruckemeyers Stück über den Klimawandel und darüber, wie die Menschheit versucht, ihn zu überleben und zu verhindern, holt uns genau dort ab, wo wir sind. Die Fakten sind ebenso bekannt wie beklemmend. Die nicht neue, aber originelle Idee, die gesamte Menschheit in einen zeitweiligen, kollektiven Dornröschenschlaf zu versetzen, um der Natur die dringend benötigte Regenerationspause zu verschaffen, ergibt als Gedankenspiel in der Regie von Christoph Mehler einen in weiten Teilen interessanten Theaterabend.
Mit Sommerkleid und Gasmaske
Die von Stefano di Buduo gestaltete, schräg ansteigende, schwarz gehaltene Bühne mit verschiebbaren Glaswänden an der Rückwand wird durch LED-Leisten gerahmt, was dem Raum etwas Laborhaftes verleiht. Gesteinsbrocken, zerbrochene Stühle und Müll markieren zusammen mit unheilvollen Elektroklängen und der raumfüllenden Kaleidoskop-Videoprojektion eine universelle Dystopie (Musik: Jakob Suske, Video: Stefano die Buduo). Ein Tisch bildet das Büro des Ministers. Anfangs wabert Bühnennebel, aus dem sich eine Figur in Sommerkleid und Gasmaske löst und mit dem Scheinwerfer durch die Düsternis leuchtet: Es ist Maggie (eindringlich gespielt von Franziska Roth), die von "damals" berichtet, 2030, als die Menschheit leistungsbesessen in einer bereits ökologisch zerstörten Welt nach den letzten Ressourcen giert: "Wir schlugen uns ums Wasser."
Für die Kinder hält die Zukunft nur noch Technik bereit; sie werden "nie einen Baum sehen". Diese Apokalypse ist unser Hier und Jetzt der Theaterbesucher:innen, denen das Lachen über die wenigen komischen Momente des Stücks im Halse stecken bleibt. Die Wissenschaft plant, die Menschheit auf einen lebensfähigen Nachbarplaneten zu evakuieren und den Weg dorthin durch Verabreichung des Betäubungsgases "E54 510E" zu erleichtern. Emily, eine junge Weltraumforscherin in Australien, dreht die Sache um: Warum nicht die Menschheit auf der Erde durch das Gas in eine Art Winterschlaf versetzen? Nichtstun als Lösung und Chance für die Natur.
Globale Zwangsmaßnahme
Ihren genialen Plan nimmt ein Spindoktor auf und feuert seinen Minister an, den Weltenretter zu geben (klasse Duo: Oliver El-Fayoumi und Klaus Zwick). Der plagiiert nun, vernetzt sich mit seinen internationalen Kollegen, und bald schon ist der verordnete Winterschlaf eine globale Zwangsmaßnahme, auf die man sich weltweit vorbereitet. Ein Textlaufband am Bühnenrand zeigt ab jetzt den Countdown im jeweiligen Teil der Welt an. Hier packen sie die Koffer für eine nicht stattfindende Reise (Nigeria), dort kriechen die Kinder zu den Eltern ins Bett (Libanon), und eine alte Seniorin bedauert, dass sie ausgerechnet zum Lebensende ein kostbares Jahr einbüßen muss (Kolumbien). Die Medien wiederum machen Geschrei um das Weltereignis (Los Angeles).
Im zweiten Teil schläft die Welt "ein Jahr". Doch nicht alle schlafen wirklich; Menschen mit synthetischen Lungen reagieren nicht aufs Gas und irren nun wie Schlafwandler durch die stille Welt, in der die Natur sich allmählich den Raum zurückerobert. In Canberra finden sich Maggie und Pete (immer besser: Khalil Fahed Aassy). Was treiben die beiden jetzt in dieser Dystopie? Und welche Regeln und Werte gelten, wenn alle wieder erwachen? Dass sie hier und da ein bisschen plündern und von einem Kran die Aussicht auf die Stadt genießen, scheint nicht verwerflich. Allerdings hat Maggie durch ein versehentlich ausgelöstes Feuer, durch das ein ganzes Stadtviertel niederbrennt, eine Tragödie mit Tausenden Toten zu verantworten. Als die Welt wieder erwacht, werden diese und andere Kollateralschäden der großen Lösung sichtbar – war es das wert? Die Menschen jedenfalls sind desillusioniert.
Nervender Medienfuzzi, profilneurotische Wissenschaftlerin
Das Oberhausener Ensemble (teils in wechselnden Rollen) spielt das zeitkritische Stück des australischen Autors durchaus engagiert: Simin Soraya verkörpert überzeugend eine anfangs bescheidene, später profilneurotische Wissenschaftlerin, Samia Dauenhauer nervt herrlich als Medienfuzzi, Anna Polke erzeugt Mitleid als debile Seniorin, und drei junge Mädchen spielen das libanesische Kind Amira tapfer unter all den Erwachsenen, von denen vor allem die Männerfiguren auch mal ordentlich laut werden (Elias Baumann und David Lau im Streit, Gastschauspieler Oliver E-Fayoumi als politischer Widersacher von der Empore aus herunterdonnernd).
Dennoch lotet Finegan Kruckemeyers erkennbar durch die Corona-Pandemie-Erfahrungen geprägte Fiktion die Sache nicht überzeugend aus. Details über die Umsetzung der "Vergasung" bleiben vage; Diskurse über Kollateralschäden der großen Lösung bleiben flach, stattdessen kippt die Liebesgeschichte von Maggie und Pete in den Kitsch, ebenso wie Emilys wahre Motivation für den ab jetzt periodisch stattfindenden globalen Winterschlaf. Damit wird eine Chance vertan. Da hätten Regie und Dramaturgie (Jascha Fendel) die ansonsten gelungene Inszenierung zum Ende hin mutiger kürzen können. Trotzdem ist es zu begrüßen, dass das Theater sich mit dem Klimawandel auseinandersetzt und Lösungen erprobt; nicht nur deswegen ist das Stück sehenswert.
Der lange Schlaf
von Finegan Kruckemeyer
Deutsch von Thomas Kruckemeyer
Regie: Christoph Mehler, Bühne und Video: Stefano di Buduo, Videomitarbeit: Chiara-Alicia Stuto, Kostüme: Nehle Balkhausen, Musik: Jakob Suske, Licht: Stefan Meik, Dramaturgie: Jascha Fendel.
Mit: Khalil Fahed Aassy, Elias Baumann, Samia Dauenhauer, Oliver E-Fayoumi, David Lau, Anna Polke, Franziska Roth, Simin Soraya, Klaus Zwick, sowie Reihan Asahr, Zeynap Asli Karayazi und Santa Philipos.
Premiere am 26. Mai 2023
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.theater-oberhausen.de
Kritikenrundschau
Der Abend biete enorme Schauwerte, schreibt Ralph Wilms u.a. in der Westfalenpost (30.5.2023) und hebt die Videokunst von Stefano Di Buduo hervor. Doch aus der hochspannenden Ausgangskonstellation vertändele sich " "Der lange Schlaf" an ein "konfektioniertes Well-made play". Finegan Kruckemeyers Figuren seien "zum größeren Teil klischeehafte Thesenträger", und am Ende steht für Wilms der zwiespältige Eindruck eines "so verwegenen wie krudem Gedankenspiels".
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Mir hat vor allem die gelungene Bühnengestaltung und die interessante erste Hälfte des Stücks gefallen. Es zeigt auch schön, dass der Prinz bzw. in diesem Fall die Prinzessin, die mit politisch-medialer Unterstützung die Menschheit in einen kollektiven Dornröschenschlaf schickt und sie auch wieder wachküsst ein utilitaristischer Frosch ist. Ich bin gespannt auf weitere Inszenierungen, die sich diesem Thema widmen. Gerne auch mit mehr Tiefgang.