Diamante - Bei der Ruhrtriennale lässt Mariano Pensotti eine Privatstadt vor die Hunde gehen
Come in and find out
von Gerhard Preußer
Duisburg, 25. August 2018. Hinein ins pralle Menschenleben! Eintauchen wollen wir in Geschichten. Nun hat auch die Ruhrtriennale ihr Immersionsprojekt. Der auf vielen Festivals erprobte argentinische Regisseur Mariano Pensotti hat in die große Halle der Kraftzentrale eines alten Duisburger Stahlwerks eine kleine Stadt bauen lassen: Zehn kleine Häuser, ein Auto und eine provisorische Bühne bilden die Stadt "Diamante". Man geht hinein, ist mittendrin und doch getrennt. Die Häuschen haben eine Glasfront, durch die man die Schauspielerinnen und Schauspieler agieren sieht. Der obere Teil der Schaufenster ist Projektionsfläche. Dort erklärt uns und kommentiert ein Erzähler mit Übertiteln schriftlich, was wir sehen.
Elf Spielorte, also elf Szenen à acht Minuten, elf Mal ganz gleich gespielt, mit je einer Minute Pause, in der die Zuschauer wechseln. Alle Zuschauer können also alles sehen, mischen sich aber immer neu, in beliebiger Reihenfolge. Der Erzähler jedoch leitet uns sicher und vergibt alle wichtigen Informationen mehrfach. Die Geschichte ist, linear erzählt, etwa so: Ein Unternehmer gründet in Nord-Argentinien, in der Dschungelprovinz Misiones, eine Stadt namens "Diamante" – ursprünglich für Ölförderung und Schwerindustrie seiner weltweit operierenden Firma "Goodwind", später zur Softwareentwicklung. Die reiche Privatstadt wird nach außen abgeschirmt. Es leben in ihr überwiegend deutsche Familien.
Eine leitende Angestellte der Firma kandidiert für das Gouverneurs-Amt, der Betriebsratsvorsitzende wird ihr linker Gegenkandidat. In das Haus einer Rechtsanwaltsfamilie, die für die Firma arbeitet, wird eingebrochen. Der Betriebsrat wird beschuldigt, den Einbruch organisiert zu haben (tatsächlich war es der Wahlkampfmanager der Gegenkandidatin) – und verhaftet. Die rechte Kandidatin gewinnt die Wahl, aber die Firma fusioniert zunächst, es gibt Entlassungen, dann geht der Konzern bankrott. Diamante wird aufgelöst, die Verhältnisse werden chaotisch: Sekten, Gangs, Milizen. Die Stadt wird schließlich zum Theme-Park, in dem die verbliebenen Einwohner sich selbst spielen.
Die Privatstadt als Showroom globaler Zusammenhänge
Die Mikrochronologie ist unübersichtlich, die Makrochronologie jedoch eindeutig: Erst wird die Situation der Stadt und ihrer Bewohner exponiert, die Konflikte – Gouverneurswahl, Einbruch, Ehebrüche, Fluchtversuche – werden angedeutet. Im zweiten Teil, nach der ersten Pause, sind es nur noch neun Häuser, in denen gespielt wird. Die Konflikte entfalten sich, enden vorläufig mit der Wahlkampfrede des linken Kandidaten. Im dritten Teil sind zwei weitere Häuser geschlossen, die Stadt zerfällt, die Konflikte versanden oder werden zynisch gelöst.
Dass Unternehmer eigene Firmenstädte gründen, ist nicht neu. Alle haben es getan: die Fugger, Krupp, Bayer, Cadbury, Disney und nun auch Mark Zuckerberg. Solche Privatstäde sind geschlossene Kosmen, an denen sich vieles zeigen lässt: wie Politik und Wirtschaft verquickt sind, wie Familie und Beruf sich beeinflussen, wie sich ein Innen zu einem Außen verhält. Pensotti schöpft alle diese Themen aus. Es geht um Kolonialismus und Zukunftsvisionen, um Externalisierung von Konflikten und um Festungsmentalität, darum, wie wirtschaftliche Entwicklungen Menschen zerstören.
Lob der Fiktion
Die Texte erzählen Biografien und schließen jede Szene mit Reflexionen ab, mal banal, mal erhellend. Am treffendsten ist die (erfundene) Feststellung, die Amazonasindianer seien nicht an den Europäern zugrunde gegangen, sondern daran, dass bei ihnen die großen Erzählungen, die die Stämme untereinander verbanden, aus der Mode gekommen seien. Narrative seien nur noch reine Form gewesen.
Pensotti will beides: eine Erzählung, die auf ihre narrative Form aufmerksam macht, und einen kapitalismuskritischen Inhalt. Das Ende jeder Szene im dritten Teil ist ein Lob der Fiktion. Fiktionen überdauern alles: die Kindheit, Familien, Körper, Ideologie, Städte, das Leben, liest man da. Pensotti glaubt an die Macht der fiktionalen Erzählung im Theater.
Es ist wie beim Puzzeln, die Tätigkeit macht Spaß, das Ergebnis weniger. Wie passt das jetzt zusammen? Und dann: Wo soll man denn hin mit dem Ganzen? Man liest vor allem Erzähltext, die Szenen hinter Glas sind, vor allem im dritten Teil, wenig plastisch. Die wohl angestrebte widersprüchliche Ergänzung von projiziertem Text und gespielter Szene kommt beim Zuschauer kaum zustande. Man liest aufmerksam, schaut unkonzentriert. Man liest Gedanken, man sieht sie nicht. Es ist etwas für Freunde der peripatetischen Kombinatorik, ein Lehrpfad mit Übungen zum Erkennen von Verknüpfungen. Körper und Fantasie kommen in Bewegung: Man sitzt, man steht, man geht, man spricht. Aber man taucht nicht ein. Es bleibt eine Wanderung zwischen beschrifteten Aquarien.
Diamante. Die Geschichte einer Free Private City
Von Mariano Pensotti & Gruppo Marea
Text, Regie: Mariano Pensotti, Bühne, Kostüm: Mariana Tirantte, Musik: Diego Vainer, Licht: Alejandro Le Roux, Dramaturgie: Barbara Mundel.
Mit: Till Bauer, Michael Bayen, Anna Böger, Cristián Lehmann Carrasco, Cornelia Dörr, Javier Drolas, Marie Eick-Kerssenbrock, Bettina Engelhardt, Gaby Ferrero, Santiago Gobernori, Martin Horn, Julian Keck, Pavel Kovalenko, Juliana Muras, Moritz Peschke, Tonio Schneider, Judith Seither, Maximilian Strestik, Jonathan Tribe, Chris Urwyler, Martin Weigel, Michael Witte, Chen Yan.
Dauer: 5 Stunden 40 Minuten, zwei Pausen
Koproduktion mit Noorderzon Performing Arts Festival / Grand Theatre Groningen und Berliner Festspiele / Immersion
www.ruhrtriennale.de
Für Martin Krumbholz von der Süddeutschen Zeitung (27.8.2018) sind diese sechs Stunden als "immersives" Spektakel "ein Ereignis". Pensottis "Abend ist lang und anstrengend, dank einer ausgetüftelten, hieb- und stichfesten Dramaturgie aber durchweg spannend. Die Sache hat allerdings auch einen Haken. Pensotti ist grundsätzlich schlauer als seine Figuren. Die fortlaufenden 'Übertitel', die das Geschehen hinter den Fensterscheiben kommentieren, erzählen letztlich die eigentliche Geschichte und sind nicht selten aufschlussreicher als das, was die Schauspieler – Argentinier und Deutsche – in ihren akribisch eingerichteten Zimmerchen mit Hingabe performen."
Ein "postmodernes Theater, das Menschen als kalkulierbare Größen in einem System zeigt, das dem Einzelnen nicht mehr verpflichtet ist", hat Achim Lettmann vom Westfälischen Anzeiger (26.8.2018) bei Mariano Pensotti erlebt. "Die Inszenierung spitzt in drei Teilen den Niedergang und die Verrohung der Menschen langsam zu. Das berührt nur mittelbar, weil die Bühnenhäuser wie große Medienkisten wirken, die alles im Fiktiven halten. Einige Darsteller treten mehr als Projektionsfläche für die Story in den Übertiteln auf. Andere sind auch spielerisch gefordert, um sich in der Box bemerkbar zu machen."
"Diamante" male "die Gegenwart in bisweilen ironischer Schwärze", berichtet die Kritik der Neuen Ruhr Zeitung (26.8.2018). "Einzelne Szenen des Stücks von Pensotti zeigen sehr subtil die seelischen und zwischenmenschlichen Folgen von permanentem Druck, Effizienzsteigerung und Profitmaximierung. Andere operieren mit plattem Agit-Prop oder lassen hier das Schicksal, dort den Zufall zuschlagen."
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Enttäuschend ist an „Diamante“ vor allem, dass sich kein immersiver Sog einstellt. Die Inszenierung wurde als Teil der „Immersion“-Reihe der Berliner Festspiele koproduziert, fast die gesamte Handlung spielt sich jedoch hinter Glaswänden ab, die das Publikum noch zusätzlich neben den papiernen Figuren auf Distanz halten. Erschwerend kommt hinzu, dass die Inszenierung ihre These vom dystopischen Niedergang mehr behauptet als spielerisch entwickelt. Das Publikum ist vor allem damit beschäftigt, die deutschen Übertitel mitzulesen: Manchmal sind das einfach nur die Übersetzungen der spanischen Dialoge von den vier Stammkräften aus Pensottis Grupo Manea. Meist sind es aber ellenlange Erklärungen zu den Motiven der handelnden Figuren, zu den Verästelungen des Plots und sehr oft soziologische Diskurse. Bei diesem Parcours durch „Diamante“ wird quasi der komplette Text, der sonst im begleitenden Programmheft stehen würde, zum Bestandteil der Inszenierung und an die Hauswände projiziert. Wer die Texte nicht lesen möchte und sich ganz oft die meist recht blassen Spielszenen und banalen Alltagsdialoge verlässt, verpasst die wesentlichen Schnittstellen des Puzzles.
Bis auf die kurzen Massenszenen am Ende jedes Abschnitts (einer Jubiläumsfeier, einer Kundgebung der linken Protestpartei, die den Konzerninteressen Paroli bieten möchte sowie schließlich der feierlichen Umwidmung der Siedlung zum Disney-Themenpark), bei denen sich Publikum und Spieler*innen mischen, ist dieser Abend statt des erhofften immersiven Erlebnisses vor allem anstrengendes Spruchbänder-Mitlese-Theater mit ständigem Stühlerücken von Station zu Station. Die plakative Botschaft wird frontal und phasenweise zu sehr im Stil einer Telenovela vermittelt statt spielerisch entfaltet.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/11/17/diamante-immersion-berliner-festspiele-kritik/