Die Weber - Schauspiel Wuppertal
Friedrich Engels war auch nur ein Hipster
von Georg Kasch
Wuppertal, 2. Oktober 2020. Wer eine Imagekampagne braucht, hat meist Dreck am Stecken. Das Unternehmen XXX zum Beispiel: Der an Amazon angelehnte Konzern hat im Wuppertaler Opernhaus ein Logistikzentrum errichtet und ist offenbar der größte Arbeitgeber vor Ort. Wenn der einen Trailer voranschickt, in der zur penetrant fröhlichen Musik Angestellte und Bürger*innen versichern, dass XXX ein toller Arbeitgeber ist und Wuppertal – anders als erwartet – besser macht als erwartet, ist Skepsis angebracht. Wie sich auf der Bühne mit ihren Paketstapeln, Sackkarren und Transportregalen schnell zeigt: Das Unternehmen lebt von der Ausbeutung seiner Mitarbeitenden, überwacht sie per Kamera, schikaniert sie, und entlohnt sie mies. Ein weiteres Video zeigt, wie Thomas Braus' alter Baumert mit den Paketen durch die Stadt hetzt und auf dem Heimweg wehmütig John Lennons "Working Class Hero" mitsingt.
Engels als Hipster
Einen ziemlich großen Aufwand betreiben Regisseur Martin Kindervater und Dramaturgin Barbara Noth, um Gerhart Hauptmanns naturalistisches Drama "Die Weber" von 1892 über erst hungernde, dann sich erhebende Textilarbeitende ins Wuppertal 2020 zu holen. Sie haben neoliberale Slogans erfunden und Hauptmanns Fabrikantensätze mit Unternehmersprech aufgepeppt. Chef Dreißiger sieht bei Alexander Peiler mit angeklebtem Vollbart und Herrendutt aus wie eine Mischung aus Friedrich Engels und Hipster, Engels' von der Oper nur einen Steinwurf entferntes Geburtshaus wird zur Fassade des Dreißer'schen Anwesens. Außerdem kippt manchmal das sperrige Schlesisch ins Wuppertaler Platt.
Das sieht erst mal schick und überzeugend aus. Wenn es aber an die Details geht, kommen die Analogien bald an ihre Grenzen. Die Engels-Hausfassade mag ja noch angehen – der Mann war schließlich Fabrikantensohn. Aber warum Dreißiger ihm ähnlich sieht, seine Statue nahezu eins zu eins die im Engelsgarten nebenan kopiert? Weil Dreißiger sich in seiner Selbstüberschätzung für den neuen Engels hält? Als dann aber die demonstrierenden Weber auch noch Gelbwesten tragen, wird's politisch vollends schwammig.
So richtig lässt sich das wütende Service-Prekariat auf der Bühne jedenfalls nicht mit Hauptmanns ausgezehrten Dialektgestalten in Einklang bringen. Dass einem ihr Schicksal nie nahegeht, ihr Leid keine Wucht, ihr Aufbruch keine Kraft entwickelt, liegt aber auch an den zehn Spielenden, die 25 Rollen stemmen, dabei aber insbesondere als Weber ihre Figuren in die Überzeichnung treiben. Kindervater gelingt es nicht, ihr Leid zum Aufschrei, ihre Wut in Wucht zu verwandeln. Wo Aufstand sein sollte, Masse, auch Rausch, taumeln hier Vereinzelte durch eine Paketlandschaft und spielen maulendes Volkstheater mit Boulevard-Schlagseite.
Oben und unten
Am besten gelingen noch die Szenen beim Fabrikanten. Das Essen bei Dreißiger findet im eleganten Rangfoyer der Oper statt und wird – scheinbar – live auf die Bühne übertragen. Schon vor Beginn spielte sich dort ein formidables Streichquartett durch ein Best of von Wiener Klassik und Romantik (wobei auch da ja die riskante These durchschimmert, dass klassische Musik automatisch was für die oberen Zehntausend ist). Jetzt schlemmen und greinen dort jene, die kein Herz haben, verfolgt von der Handkamera, gehetzt von den Sprechchören auf der Straße.
Kaum springt die Handlung aber zurück zu den Underdogs, verliert der Abend an Drive und erzählerischem Sog. Auch hier gibt’s schöne Momente, etwa wenn Luise Kinners Moritz das Lied vom Blutgericht an der Rampe vorträgt und plötzlich so etwas wie Revolutionspathos zu spüren ist. Oder wenn Martin Petschan zu Beginn des 3. Aktes ein paar echte Zahlen zum XXX-Vorbild Amazon vorrechnet (das in Wuppertal tatsächlich ein Verteilerzentrum bauen will): Während ein Amazon-Lagerarbeiter 15 Dollar pro Stunde verdient, sind es bei Konzernchef Jeff Bezos 14,5 Millionen Dollar. Aber wie sich die Wut Einzelner zum Sturm auf die Paläste steigert, wie sich aus ihrem Leid eine Bewegung formiert, der sich kein fühlender Mensch verschließen kann, das wird hier nicht einmal in Andeutungen fassbar. Die Dreißiger-Skulptur fällt, Menschen stürzen, sterben. Warum genau? Das geht in der Kurzfassung wie im Bühnenchaos unter.
Herausforderung gesucht
"Die Weber" sind die zweite Produktion, in der das Ensemble und Mitglieder des vom Haus initiierten inklusiven Schauspielstudios zusammen auf der Bühne stehen. Es bietet Menschen eine Bühnenausbildung, die bislang an einer staatlichen Schauspielschule keine Chance haben, weil sie nicht ins Raster passen. Ein Elevensystem, das im Kern an Max Reinhardts Schauspielschule anknüpft: Ausbildung und Praxis gehen Hand in Hand. Super Idee! Noch toller allerdings wäre, wenn die Aufgaben, die man den Studio-Schüler*innen gibt, auch wirkliche Bewährungsproben wären.
Die Weber
von Gerhart Hauptmann
Regie: Martin Kindervater, Bühne & Kostüme: Anne Manss, Video: Jan Krämer,
Dramaturgie: Barbara Noth.
Mit: Alexander Peiler, Luise Kinner, Yulia Yáñez Schmidt, Thomas Braus, Stefan Walz, Kevin Wilke, Martin Petschan, Nora Krohm, Julia Meier, Hans Richter.
Premiere am 2. Oktober 2020
Dauer: 1 Stunde 40 Minuten, keine Pause
www.wuppertaler-buehnen.de
Insbesondere für das Schauspieler*innenkollektiv, das "Zerrissenheit und Not der Menschen glaubwürdig und spannend" darzustellen weiß, gibt es großes Lob von Monika Werner-Staude in der Westdeutschen Zeitung (5.10.2020). Aber auch die insgesamt ist sie von dieser Weber-Inszenierung unter besonderer Berücksichtigung des Wuppertalers Friedrich Engels überzeugt. "Hier weist ein Gute-Laune-Imagefilm für das Unternehmen den Weg ins Stück, hier erlebt der Zuschauer eine Abendgesellschaft, die angsterfüllt und erbärmlich in Dreißigers Unternehmensvilla (verpflanzt ins Kronleuchterfoyer der Oper) den Ansturm der Aufständischen erlebt – Hauptmanns 4. Akt als spannendes Reality-TV, das auf der Bühne fortgesetzt wird. Kritikerinnenfazit: "Eine spannende und aufrüttelnde Schauspiel-Premiere", der sie mehr Zuschauer wünscht als in Coronakrisenzeiten möglich sind.
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die erste Inklusive Produktion des Schauspiels und dem inklusiven Studio war schon in März 2020 mit dem Stück "Draußen vor der Tür".
(Dank für den Hinweis, ist im Text korrigiert, nachtkritik-Redaktion / sik)