Ship. Bridge. Body. - Festspielhaus Hellerau Dresden
Krasser als jeder Text
29. Juni 2023. Wo Bässe wummern und Leiber zucken, kommt es gar nicht so sehr auf den Text an. Merkwürdig nur, dass für "Ship. Bridge. Body.", mit dem in Hellerau das Festival "Nebenan" für unabhängige Kunst aus der Ukraine eröffnet, ein Dramatiker:innen-Kollektiv verantwortlich ist. Das Resultat: eine rätselhaft-kraftvolle Performance.
Von Tobias Prüwer
29. Juni 2023."Nicht sterben, leben, leben." Im Stakkato erklingen die Worte, deren deutsche Übersetzung in knallendem Gelb auf den Hintergrund projiziert wird. Leben um jeden Preis – und doch schafften es nicht alle. "Die Realität ist krasser als jeder Text", heißt es später. "Pixel – Drohne – Frosch – Schmetterling – russisches Kriegsschiff – Krim-Brücke" donnert es mittendrin zu Beats in den Bühnenraum. Andere Passagen bleiben unübersetzt, erschließen sich nur Ukrainisch-Kundigen.
Dann kam der Krieg
Aber auf Verstehen zielt "Ship. Bridge. Body" offenbar ohnehin nicht, geht es doch immer wieder um das Unfassbare des Krieges, genauer: des russischen Angriffskrieges auf die Ukraine, das ukrainische Künstlerinnen und Künstler im Dresdner Kunstzentrum Hellerau thematisieren.
Im März 2022 hätte in Kyiv das Theatre of Playwrights eröffnen sollen. Dann kam der Krieg. So entstand aus diesem Kollektiv heraus im Exil der fragmentarische Abend, der zugleich das Dresdner Festival "Nebenan" eröffnete, das unabhängige Kunst aus der Ukraine zeigt. Dass dieses Theater der Stückeschreiber/Dramatiker nicht aus einem Stück oder mehreren besteht, sondern gar keinem, ist eine Überraschung.
Hohle Gesten, denen nichts Heroisches anhaftet
Zwölf Beteiligte arrangierten gemeinsam Szenen und Tumult um Texte, die von den drei im Titel genannten Themen handeln. Acht Perfomerinnen und ein Performer agieren dabei im weißen, leeren Bühnenraum – oft rezitieren sie nur stehend. Der geschundene Körper einer Ballerina, aber auch Zurichtungen der Sex-Industrie (oder so ähnlich) kommen darin vor, die Krim-Brücke wird per Video-Einspielung gesprengt, ein Boot nimmt Flüchtende auf, bevor der Text abbricht, weil die Realität krasser ist. Kraftvolle musikalische Auftritte, die 90er-Hits aufnehmen und teils live instrumentiert sind, halten das Unfassbare nicht zusammen, aber die Aufmerksamkeit des Publikums hoch: "This is not a Lovesong."
Da trommelt sich ein Performer in Trance und entfesselt einen energetischen Sog, in einem Wave-Punk-Song trumpfen mehrere weibliche Stimmen auf. Wild und zügellos sind solche Momente, während in anderen Leid oder Verzweiflung aus den verrenkten Körpern sprechen. Klassischer (Ballett-)Tanz trifft auf unorganisiert zuckende Leiber, Discofox und Gruppenreigen. Kämpferische Posen wie eine ausgestreckte Faust nimmt eine Performerin derart krampfhaft ein, dass sie diese der Lächerlichkeit preisgibt. Hohle Gesten, denen nichts Heroisches anhaftet.
Neue Realität: Hellerau
Diese Collage will keine Durchhalteparole sein, sondern vielstimmige Plattform für Kunstschaffende, die in ihrem Zuhause um die Bedingungen der Möglichkeit, Kunst zu schaffen, beraubt wurden. Dass sie die in Hellerau finden konnten, scheint die wesentliche Botschaft dieser 60 dramaturgisch wenig bearbeiteten Minuten zu sein. Zumindest aber die verständlichste: "Die Realität ist krasser als jeder Text."
Ship. Bridge. Body.
von Theatre of Playwrights
Idee und Organisation: Julia Gonchar, Alina Rashko und Anastasiia Seheda, Textvorlage: Liudmyla Tymoshenko, Oksana Savchenko, Julia Gonchar, Workshopleitung und Regie: Roza Sarkisian.
Teilnehmende Künstler: Nadiya Alunova, Serzh Avdey, Olena Avdieva, Serhij Bazhenov, Olena Bohdan, Dudu Dudunia, Elena Francalanci, Sergiy Glybin, Iride Hasanova, Maryna Ianina, Alona Kowalenko, Martina Lisa.
Kooperation von Theatre of Playwrights, Schaubühne Lindenfels und Hellerau
Premiere am 28. Juni 2023
Dauer: 1 Stunde, keine Pause
www.hellerau.org
Offenlegung: Weil der Abend eine halbe Stunde später als geplant begann, musste der Autor den Abend fünf Minuten vor Schluss verlassen, um den Zug zu erreichen.
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