Spaß und Mystik

6. November 2023. Beim 13. Fast Forward Festival präsentierte der europäische Regienachwuchs sich in bester Form. Der Trend geht zum Klassiker und die Schauspieler:innen sind überall hervorragend. Vor zahlreichem, jungen und dankbaren Publikum stellte sich in Dresden über vier Tage eine Vielfalt an Regie-Handschriften vor.

Von Michael Bartsch

Gewinner von Haupt- und Publikumspreis: "Koulounisation" von Salim Djaferi © Thomas Jean Henri

6. November 2023. Es war das 13. Fast Forward Festival am Dresdner Staatsschauspiel, und einmal mehr bot das Festival des europäischen Regienachwuchses vor ausverkauften Theatersälen eine höchst diverse Schau an Stilen und Auffassungen, blieb die Suche nach einem europäischen Trend müßig. Auch die Jury sprach zur Preisverleihung am Sonntagabend von einem "mix of genres". 

Grandioser Bilderbogen 

Bereits am Auftaktabend überwältigten die Kontraste. Introvertierter konnte man nicht einsteigen als mit dem griechischen Beitrag "Goodbye, Lindita" im Kleinen Haus des Staatsschauspiels. Frappierend, zu welcher Entschleunigung und Kontemplation ein 25-Jähriger Regisseur wie Mario Banushi fähig ist, einer aus der vermeintlich permanent reizsüchtigen Generation Spaß also, und wie ihm das siebenköpfige Ensemble folgt.

Goodbye Lindita Theofilos Tsimas"Goodbye Lindita" © Theofilos Tsimas

Auch die Zuschauer müssen erst einmal aus der Zeit aussteigen, als sich zwischen einem älteren Paar in einem spießigen Zimmer lange nur Banales ereignet. Die vermeintliche Belanglosigkeit endet mit einer Überraschung, der immer weitere Metamorphosen, schwer deutbare Abschiedsrituale und überwältigende Bilder folgen. Sie benötigen kein einziges gesprochenes Wort. Lindita ist erst eine tote junge Frau, die dann zur Heiligen wird, zur Braut – Metaphern, die noch tagelang beschäftigen und beim Publikum einen Begeisterungssturm auslösten.

Neigung zum Klassiker

Auch junge Zuschauer:innen, die beim Festival in der Mehrzahl waren, sind also mit solch mythischen Gemälden zu faszinieren. Die Resonanz ließ eigentlich den Publikumspreis für die Griechen erwarten. Beim darauffolgenden schrillen portugiesischen Beitrag "I'm still excited!" konnte man eine gefällige Aufnahme voraussetzen. Gezeigt wurde die inszenierte Wiederbegegnung eines eigentlich schon vor Jahren gescheiterten Paares. Ein zweites ähnlich überdrehtes tritt später hinzu. Ein bisschen Sitcom, ein bisschen Theater im Theater, Show, eine Prise Erotik: gekonnte Unterhaltung mit darstellerischem Maximaleinsatz, aber wenig Tiefgang. 

Wenn sich aus dem Facettenreichtum dieses glücklichen 13. Festivaljahrgangs ein Charakteristikum herausschälte, dann war es neben durchweg ausgezeichneten schauspielerischen Qualitäten die häufige Verarbeitung klassischer Stückvorlagen. In "Woyzeck" von Glossy Pain (hier die Nachtkritik von der Premiere im Theater an der Ruhr) taugt Franz weder zum Opfer der Verhältnisse noch zum frauenmordenden Mustermann. Hier wird ein Protagonist des Dramenkanons aus heutiger Perspektive neu gezeichnet.

Kirschlikör im Kirschgarten

Die fulminanteste Klassiker-Adaption lieferten jedoch Minna Lund und ihr hyperpräsentes fünfköpfiges finnisches Ensemble mit einer Kombination von Tschechows "Kirschgarten" und dem Chuck-Palahniuk-Roman "Fight Club". Dessen Protagonist Tyler Durden bricht mit seinen brutalen Botschaften selbstzerstörerischer Gewalt in die Auseinandersetzungen um das heruntergekommene russische Familienerbe und dessen Verkauf ein. Äußerstes Tempo und vehementer Körpereinsatz auf einer Festtafel als Kampfplatz, an der im Stil immersiven Theaters auch ein Teil der Zuschauer Platz und einen Kirschlikör nehmen kann.

messagefromtyler Pate Pesonius "Message from Tyler – Memento Mori, Kirschgarten" © Pate Pesonius

Überzogene Erwartungen hingegen weckte die Ankündigung des deutsch-norwegischen Beitrags "Second Season", basierend auf Carl Zuckmayers Lustspiel "Der fröhliche Weinberg". Nichts vom zeitlichen Kontext dieses 1925 gleichzeitig mit Hitlers "Mein Kampf" entstandenen Stücks, vom Irrtum des Autors, mit derbem Humor das Aufkommen der faschistischen Gewalt weglachen zu können. Einfach nur eine –  freilich sehr gekonnte – Parodie der vier Akteure auf das seinerzeit populärste deutsche Volksstück. 

Überraschung beim Hauptpreis

Überraschend gingen sowohl der Publikumspreis als auch der Preis der Festival-Jury an die Ein-Mann-Lecture-Performance "Koulounisation" des französischen Regisseurs Salim Djaferi. Man wird den Verdacht einer Konzession an den Zeittrend der wiederentdeckten Kolonialverbrechen und der Selbstanklage der Alten Welt nicht los. Vielleicht sprach diese Performance auch deshalb so an, weil sie als einzige des Festivals eindeutig politisch intendiert war. An die sprachlichen, mithin kulturverstümmelnden Auswirkungen der französischen Fremdherrschaft in Algerien erinnert Salim Djaferi nicht verbissen und gekränkt im Namen seiner algerischen Vorfahren. Biografie, Geschichte und Sprachbetrachtung verknüpft er vielmehr mit gewinnendem Charme bei äußerster Reduktion der Mittel.

Our Son Milena Arsenić"Our Son" © Milena Arsenić

Ästhetisch, sinnlich, theatralisch gab es weit stärkere Festivalbeiträge. Die Idee dieser etymologischen Vorlesung bleibt gleichwohl originell und anerkennenswert. Wie übersetzt man "Kolonisation" ins Arabische? Was sagen Sprachgebrauch und "phonetische Interferenzen" über Machtverhältnisse aus? Nach wie vor behindert ein algerisch geprägter Lebenslauf die Arbeitssuche in Frankreich. Man darf gespannt sein, welche Form der Preisträger bei der mit dem Preis verbundenen Inszenierung am Staatsschauspiel in der kommenden Spielzeit wählen wird.

Jugendpreis für Homophobie-Stück

Die Schüler der Jugendjury prämierten einstimmig die serbische Familiengeschichte "Our Son", in der ein inzwischen getrenntes Elternpaar um sein Verhältnis zum längst erwachsenen schwulen Sohn ringt. Hartnäckig hält sich vor allem bei der Mutter der Glauben an die Heilbarkeit dieser "Krankheit". Es war neben dem bildgewaltigen Auftakt die subtilste Arbeit dieses Festivals, sowohl in Text und Regie von Patrik Lazic als auch im fesselnden Spiel des Darstellertrios.

Fast Forward – 13. Europäisches Festival für junge Regie

Goodbye, Lindita
Regie: Mario Banushi 

I'm still excited!
Regie: Mário Coelho

Our Son
Regie: Patrik Lazic

Second Season
Regie: Boys* in Sync, Simon David Zeller

Koulounisation
Regie: Salim Djaferi

Message from Tyler – Memento Mori, Kirschgarten
Regie: Minna Lund

Woyzeck
Regie: Glossy Pain, Katharina Stoll

2. – 5. November 2023 am Staatsschauspiel Dresden

In Kooperation mit HELLERAU – Europäisches Zentrum der Künste und der Hochschule für Bildende Künste Dresden sowie Hole of Fame. Mit Unterstützung des Fördervereins Staatsschauspiel Dresden e. V. und der European Theatre Convention ETC

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

 

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