Titus Andronicus - Jan Klatas deutsch-polnischer Shakespeare wird in Dresden zur Geduldsprobe für das Publikum
Römerbraten auf Schwarzbrot - Manche mögen’s plakativ
von Matthias Schmidt
Dresden, 29. September 2012. Der Dresdner Theaterwirt hatte eine Tafel vor das Haus gestellt: "Heute Römerbraten mit Schwarzbrot". Witz mit Hintersinn, der hoffen ließ.
Wenn Deutsche die Römer und Polen die Goten spielen, dann wird es Analogien oder Pointen geben. Shakespeare, darf spekuliert werden, hätte diese Idee gefallen. Sie birgt historische Tragweite in sich und ebensoviel Tragik wie Komik. Jan Klatas "Titus Andronicus", eine Koproduktion des Staatsschauspiels mit dem Teatr Polski Wroclaw, setzt auf diese Doppelbödigkeit.
Nix versteh oder Die Goten spielen Luftgitarre
Im Programmheft wird die Fährte gelegt – mit einem Mailverkehr zwischen den beiden Dramaturgen, die sich über Vorurteile dem anderen gegenüber austauschen. Und tatsächlich, wenn sich beispielsweise die Gotenkönigin Tamora – eine Polin – dem römischen Kaiser Saturninus – einem Deutschen – als Gattin darbietet, sind sie da, die Vorurteile. Die Ostblockhure und der reiche Mann.
Im Großen und Ganzen allerdings, so deutlich muss man es leider sagen, geht diese Idee ziemlich in die Hosen. Verloren die Rolle der Goten, die Verbitterung Tamoras über den Mord an ihrem Sohn, die Enttäuschung des nibelungentreuen Titus’. Stattdessen landet der Abend gelegentlich in so unfreiwilliger Komik, dass man damit rechnet, Paola und Kurt Felix könnten gleich erscheinen und auf die versteckte Kamera zeigen. "Nix versteh", sagen die Polen-Goten immer wieder, als sie mit ihren Verbrechen an der Römerin Lavinia konfrontiert werden. Da wird natürlich gelacht, doch sicher nicht zuletzt deshalb, weil es vielen mit dem ganzen Stück so ergeht.
Jan Klata sich offenbar auf keine Haltung zu diesem Stoff festlegen wollte. Er startet martialisch: Heavy Metal dröhnt, die Römer stampfen, und die Goten spielen Luftgitarre. Minutenlang, endlos, plakativ, ärgerlich. Krieg ist brutal, das Morden hat kein Ende, Blut-Rache ist der falsche Weg – was für ein Erkenntnisgewinn!
Zum Teil mag das an seinem Sujet liegen. Das blutrünstige Frühwerk Shakespeares scheint inhaltlich und formal kaum noch vermittelbar. (Nebenbei, die mit Anthony Hopkins und Jessica Lange großartig besetzte Verfilmung von Julie Taymor fand offenbar aus genau diesem Grund in Deutschland keinen Kino-Verleih.) Viel schwerer aber wiegt, dass Regisseur
Slice me nice - Hysterie oder Parodie?
Aber gut, Theater mit Botschaft, warum nicht? Dann allerdings tönt Fancy aus den Boxen. Das ist, wie sagt man es den Jüngeren, Eighties-Disco-Trash? "Flames of Love" - man war froh, das endlich vergessen zu haben - macht den Beischlaf zwischen Tamora und ihrem Geliebten Aaron zu einem Event, wie es einer Erotik-Messe gut anstünde. Überhaupt, Aaron, der Mohr! Er ist ge-black-painted, und aus seiner Hose hängt ein wirklich riesiger schwarzer Penis. Ist das jetzt ein total lustiges Spiel mit dem Klischee oder postmodern oder doch endlich mal ein richtiger Fall für Bühnenwatch? Für den Fancy-Fanclub gibt es später noch mehr. Wenn das Schänden, das Quälen, das Körperteil-Abhacken beginnt, singt der bayrische Discofoxer dazu: "Slice me nice". Seit Jahrzehnten grübeln die Fancy-Insider, was er damit gemeint haben könnte. Nun wissen wir es: Zunge raus und Hände ab.
Eine Ahnung von Relevanz
Danach fällt es naturgemäß nicht ganz leicht, die Inszenierung weiterhin ernst zu nehmen, und genau genommen ist die Tapferkeit der Dresdener Zuschauer das Bemerkenswerte daran, denn viel mehr als ein dutzend haben den Saal trotz verbreiteten Kopfschüttelns darüber und die eingespielten Tinnitus-Messtöne und weitere Nervtöter nicht verlassen.
Das Ensemble schafft es trotz der ständigen Wechsel zwischen Hysterie und Parodie mit enormem Körper- und Stimmeinsatz für bewegende, schockierende und auch erheiternde Momente zu sorgen. Steckt ja alles drin, im Shakespeare. Immer, wenn er eine Chance bekommt, wenn wirklich gespielt und gesprochen wird, steigt schlagartig die Konzentration, wird die Dimension des Dramas spürbar. Bezaubernde Momente und originelle Bilder entstehen, bleiben allerdings klar in der Unterzahl. Sagen wir es mit den Worten einer Zuschauerin beim Verlassen des Hauses: "Also, was die darstellerisch geleistet haben - Hut ab! Aber insgesamt war’s schon schlimm."
Ganz zum Schluss werden einige Sätze aus Heiner Müllers "Anatomie Titus" auf die Hinterbühne projiziert, da ahnt man so etwas wie Relevanz: DIE TOTEN STEIGEN AUS DER SCHEISSE ROMS. Eine Endzeit, eine Dystopie, vielleicht gar eine Parabel. Dieser Abend war nichts von allem; er war nur - disparat.
Titus Andronicus
von William Shakespeare
Deutsch von Wolf von Wolf von Baudissin, unter Verwendung von Heiner Müllers "Anatomie Titus Fall of Rome: ein Shakespeare-Kommentar"
Regie: Jan Klata, Bühne: Justyna Lagowska-Klata, Kostüm: Justyna Lagowska-Klata, Mateuz Stepniak, Choreografie: Macko Prusak, Dramaturgie: Ole Georg Graf, Piotr Rudzki.
Mit: Wolfgang Michalek, Ewa Skibinska, Torsten Ranft, Wojciech Ziemianski, Paulina Chapko, Michal Majnicz, Marcin Pempus, Stefko Hanushevsky, Matthias Luckey, Sascha Göpel, Robert Höller, Michal Mrozek.
Eine Koproduktion des Staatsschauspiels Dresden mit dem Teatr Polski Wroclaw
Dauer: 2 Stunden 30 Minuten, keine Pause
www.staatsschauspiel-dresden.de
Sechs deutsche Schauspieler spielen die Römer, sechs polnische die Goten, die unterschiedlichen Ebenen der Inszenierung überlagern sich, und "ja doch, die Botschaft wird verstanden", so Rainer Kasselt in der Sächsischen Zeitung (1.10.2012). "Die Tragik ist eine Schwester der Komödie, Banalität die Gevatterin des Bösen", alles liege nah beieinander. "Klata ist kein Meister der Differenzierung. Er will es laut, plakativ und frontal." Seine Inszenierung will verstören. Er schreie die Thematik heraus, wuchte mit Musik und körperbetontem Spiel sein Anliegen auf die Bühne.
"Eine Theatergerechtigkeit neuen Typs, aus der es zweieinhalb Stunden lang kein Entrinnen gibt", ist Tomas Petzold in den Dresdner Neuesten Nachrichten (1.10.2012) beeindruckt. Eine Parallel-Projektion auf deutsch-polnische Verhältnisse werde nicht geliefert, "vielmehr ein Versuch am offenen Herzen, wie man sich verständigen und begegnen kann". Eine Inszenierung, "von makabrem, sarkastischem Humor getränkt, von absurdem Witz perforiert", der an die Gnadenlosigkeit erinnere, mit der ein Kind schließlich alles, auch seinen liebsten Besitz vernichtet.
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Das Stück ist schlimm. Der Stoff ist schlimm. Die Menschen können schlimm sein.
Der Abend ist großartig.
Provokant ohne zu verärgern.
Ein Abend der keine Dinge wegschiebt die sich auftun, sondern sich diesen mit einer spielerischen Leichtigkeit stellt; der nicht illustriert oder moralisiert sondern zeigt was vorhanden ist. Das Medium Theater benutzt. Unterschiedliche Spielweisen, ungewohnte Bilder, eine sagenhafte Melange aus Komik und Tragik, Konsequenz in der Regie, großartige SpielerInnen – beeindruckend, verstörend - sättigend.
"Ohnehin haben die Aktivisten der Bewegung speziell um Shakespeares schwarze Geister, eben um Othello, aber auch den mörderischen Aaron in "Titus Andronicus", bislang einen erstaunlich weiten ideologischen Bogen gemacht“, bemerkte bereits Schmidts Bruder im Geiste, Michael Laages, im Mai diesen Jahres anläßlich seiner Besprechung des Hallenser "Othello" (Regie: Wolfgang Engel).
Ist das der Wunsch nach mehr "Gezeter übererregter Zeitgenossen" (Laages), nach mehr "politisch korrektem Empörungsreflex" (Schmidt)? – Keine Ahnung …
Ebenso wenig finde ich eine Antwort auf die Frage, welchen eigenartigen, sinistren Gefallen Weiße Menschen daran finden, den Schwarzen Körper monströs zu überschreiben. - Zu überschreiben mit ihrer sexuellen Phantasie, ihrem Zerstörungswunsch, ihren Ängsten und Lustängsten. Denn vernünftig ist das alles nicht. Muß es auch nicht sein, denn es wird 'Kunst' genannt und die genießt bekanntermaßen grundgesetzlichen Schutz (Art. 5 Abs. 3 GG). – Gleich wie öbszön, stupid, reaktionär …
Was daran jedoch ein "total lustiges Spiel mit dem Klischee" (mit welchem eigentlich?) oder gar "postmodern" (beides Schmidt) sein könnte, wird ein Geheimnis bleiben. Schon der Gedanke 'Aaron', 'Othello' oder ihre dramatischen Brüder und Schwestern ('Monostatos', 'Muley Hassan', 'Bassa Selim', Jahnns 'Medea', 'Aida') könnten methaphorische oder allegorische Varietäten von etwas Nichtfiktionalem sein, ist so lächerlich wie verwunderlich. – Es ist doch schwer vorstellbar, daß diese Figuren reale Entsprechungen, Vorbilder hätten.
Weiße Künstler (es sind in der Tat immer Weiße Männer) scheinen seit mehr als Tausend Jahren nicht ohne das konstruierte 'Andere' leben zu können – dem muß ein schwindelerregender psychopathologischer Defekt zu Grunde liegen. Anders ist es schwer erklärlich, wie diese banalen Monstren ("schwarzen Geister" - wieder Laages) ihren Platz in der 'Weißen' Literatur, Malerei, Bildhauerei behaupten können. Erstaunlich ist auch, wie affirmativ Publikum und Feuilleton (mehrheitlich) diesen Kreationen infantil-narzisstischer Egos entgegenkommen. Vielleicht ist es aber auch die Sorge, oder gar das Wissen, sich dieser Künstlichkeiten zu entledigen, ihren Kreateuren die Spielzeuge zu entziehen, werde (erneut) Schlimmeres hervorrufen…
Meine eigentliche Frage ist aber folgende: Geht es hier jetzt um den Begriff des "Anderen" oder nicht vielmehr um den Begriff des "Fremden"? Der/die/das Andere ist für mich zunächst mal nur der/die/das Andere, im Sinne von anders als ich. Du (kolja) bist nicht ich, also anders als ich, also der/die/das Andere. Etwas, was - zunächst - ausserhalb meines eigenen Verständnishorizonts liegt. Der Begriff des "Fremden" dagegen ist eine negativ konnotierte Besetzung des Anderen, siehe die Stichworte "Überfremdung", "Fremdenhass" usw. Dass etwas anders ist als ich, schon allein deshalb, weil es zwei vollkommen identische Menschen nicht gibt, das heisst zwei Menschen, die identisch denken, fühlen und handeln, das ist doch erstmal okay, oder etwa nicht?
2. ) Auch dies passiert ständig: weil ein Theatermacher sich als gesellschaftskritisch und politisch reflektiert verkauft oder so beschrieben wird - wie hier eben Jan Klata – wird erstmal angenommen, politisch unreflektierte und unverantwortliche Darstellungen würden dann schon irgendwie kritisch gemeint sein. Paradox, dass die freidenkenden Feuilletonisten meist bereitwillig das kaufen, was ihnen angeboten wird. Es wäre doch schön, wenn die Erkenntnis der Zuschauerin, auf die sich Schmidt bezieht: „Aber insgesamt war's schon schlimm“ von Schmidt auch auf die rassistischen Bilder und Projektionen angewandt würde – als Teil und Zeichen der nicht vorhandenen Haltung von Klata. Die politische Problematik eines Stückes ohne Haltung (fehlende Reflexion träfe es allerdings wohl eher) zeigt sich EBEN GERADE (auch) in der rassistischen Blackface-Darstellung.
Andererseits ist das aber auch so eine Sache, das mit der Sprache. Nicht selten entstehen sprachliche Missverständnisse, weil Sprache keinen eindeutig bestimmbaren Referenten hat, sondern immer nur innerhalb eines sprachlichen Zeichensystems Bedeutung hervorbringt. Was machen wir jetzt zum Beispiel mit diesem Begriff "schwarze Geister"? Ich empfinde den nicht als rassistisch, weil es da für mich um die Metapher(!) des schwarzen Geistes geht, also um das - bildlich gesprochen - schwarze Bewusstein in JEDEM Menschen. Dass oder warum das dann auf "den Schwarzen" bzw. "den schwarzen Körper" projiziert wird, das wäre dann die nächste Frage. Metaphern können ja auch mit voller Absicht missbräuchlich verwendet werden.
Vielleicht will Klata im Hinblick darauf ja auch eine Aussage darüber machen, wie Aaron von den Polen (Goten) und/oder Deutschen (Römern) gesehen wird. Vielleicht ist das ja auch eine Aussage im Hinblick darauf, wie pauschalisierende Rassismen ("der Pole", "der Deutsche", "der Schwarze") und/oder Hierarchien zwischen den Geschlechtern ("die Ostblockhure") nur weiter verschoben werden.
Und ausserdem: Gibt es nicht auch Polen schwarzer Hautfarbe? Und warum sehen "wir" in dem schwarzen Polen dann immer wieder nur "den Schwarzen"? Für mich zeigt sich darin zweierlei. Erstens: Nationalismen sind eine veraltete Idee/Ideologie. Und zweitens: Wenn man die Kategorien gender, race und class nicht zusammendenkt, dann wird es für niemanden gut ausgehen. Und das ist sicher auch oft in der sogenannten realen Welt so.
Anstatt "uns" hier in Kleinkriegen zwischen allen Menschen als Weltbürgern zu verzetteln, sollten wir meines Erachtens lieber danach fragen, was (auch) medial verbreitete (ökonomistische) Ideologien in den Köpfen von Menschen anrichten können. "Wir Bürger" sind nicht "der Sicherheitsstaat", welcher nur eine weitere Entdemokratisierung nach sich zieht:
"Begünstigt durch neoliberale Verschiebungen liberaler politischer Grundsätze (Freiheit, Gleichheit, Rechtsstaatlichkeit) zugunsten von Kosten, Nutzen und Effektivität [und DA liegt "unser aller" Gegner!] reagiert der Sicherheitsstaat auf die Erosion und Bedrohung der staatlichen Souveränität mit einer Reihe ungewollt demokratieschädlicher Maßnahmen wie der Aufhebung der Reise- und Informationsfreiheit, Fahndungen aufgrund von Rassenzugehörigkeit (racial profiling), der Ausweitung von unter staatlicher Geheimhaltung stehenden Zonen bis hin zu andauernden unerklärten Kriegen." (Wendy Brown)