Von morgens bis mitternachts - Christiane Pohle zischt in Leipzig mit Georg Kaiser durch die Bezirke der Gier und der Verdammnis
Erste Menschen, letzte Menschen
von Ralph Gambihler
Leipzig, 9. Februar 2012. Menschen, denen das Blut in den Adern rauscht. Sätze, die tanzen. Einen Morgen, einen Mittag, einen Abend lang. Georg Kaiser hat seinen namenlosen Kassierer vor genau 100 Jahren am Schreibtisch geboren und wurde zunächst von der Zensur ausgebremst. Das deutsche Kaiserreich taumelte noch ein Weilchen und wollte sich nicht behelligen lassen von einer Menschheitsdämmerung, die der Dichter in ein ekstatisches Licht tauchte. Heute heißt das Expressionismus.
Die Geschichte hinter den Wortkaskaden ist im Grunde einfach: Ein kleiner Bankangestellter greift spontan und unerlaubt in die Kasse. Er kann nicht anders. Er ist dem Handgelenk einer schönen Frau verfallen.
Ein Ausbruch
Der Gierbanker von heute sitzt in einem Büroturm und sinniert über seine Bad Bank. Sein armer Untergebener muss erst einmal dem viel zu kleinen Kassenhäuschen entkommen. Es dauert etliche Minuten, bis sich der plötzlich rasende Schalterbeamte, gespielt von Guido Lamprecht, mit schweren krachenden Stuhlbeinschlägen aus dem Gefängnis seiner täglichen Arbeit befreit. Hier wird nicht eingebrochen, hier wird ausgebrochen. 60.000 Mark, lieblos in zwei Abfallbeutel gestopft, sind eine Möglichkeit.
Die Sache geht natürlich schief. Bei Georg Kaiser, dem hitzigen Vielschreiber und Erfolgsautor der Weimarer Republik, nicht anders als in der verknappten, stellenweise mit Fremdtexten ergänzten Version von Christiane Pohle (Regie), die erstmals am Centraltheater Leipzig eine Arbeit zeigt. Pohle erzählt das Stationendrama des ins Leben ausbrechenden kleinen Mannes, diese zischende Faustiade im Fallada-Kostüm, als wild aufschäumendes Stück über Gierverzweiflung und Zerstörungslust. Erste und letzte Menschen bevölkern die Bühne. Einen Namen hat keiner.
Richard Wagner als Hausmusik und Ohrenstrafe
Ein Endspiel, gewiss. Zuvor müssen aber Geldprobleme gelöst werden. Die schöne Frau (als zweifelhafte Dame: Birgit Unterweger) hat einen Sohn, der zum Tyrannen wird, wenn er nicht kriegt, was er will. Und was er will, Kunst nämlich, kostet. Ein echter Cranach, läppische 3.000 Mark teuer. Die Bank indessen lässt die Mutter zappeln. Die Mutter ist sauer und verrichtet ein erstes Zerstörungswerk. Cranachs "Adam und Eva"-Gemälde wird zerfetzt und besudelt, als sei es die normalste Sache von der Welt. Mit hohen Absätzen, spitzen Fingern und falschem Urinstrahl.
Diese Welt ist dem Untergang geweiht – das ist gewiss. Und es ist auch zu hören. Gleich anfangs gibt Ernst Surberg (Musik) mit einer aufwändig geisterhaften, von Ferne an Stockhausen erinnernden Geräuschoper die Richtung vor. Dann kommt Richard Wagner, der Meister aller Jenseitsgelüste. Allerdings ganz ohne das süße Gift der Untergangsekstase, das zuletzt auch Lars von Triers in "Melancholia" schlürfte. Stattdessen verkommt die "Tannhäuser"-Ouvertüre in der Familienepisode zur Hausmusik und Ohrenstrafe, von dilettierender Tochterhand um jeden Rausch gebracht. Die Kleinfamilie, bei Georg Kaiser noch eine Bratpfannenhölle, ist ins Kunstbeflissene gewendet. Ahnung von Kunst hat man zwar nicht, aber immerhin Hingabe und das richtige Outfit für den Gang in die Oper.
Im Irrenhaus der Geldillusion
Der Abend – die Premiere wurde freudig aufgenommen – ist eine Fahrt durch ein Irrenhaus, zum wohltemperierten Untergangsspektakel arrangiert, das schon. Klug aber, dass Pohle nicht auf der Binse von den Werten, die man nicht kaufen kann, von der Wertlosigkeit des Geldes, herumreitet. Den billigen Kommentar zur Finanzkrise überlässt sie anderen. Ihr Stück ist mehr eine schillernde, bestens rhythmisierte und immer wieder erfrischend zugespitzte Groteske über den Kunstcharakter des Geldes und die Geldbedürftigkeit des Künstlers.
Etwa in einer eingeflochtenen biografischen Spiegelung, die den Dramatiker Georg Kaiser (der trotz reicher Heirat und beträchtlicher Bühnenerfolge wegen Unterschlagung verurteilt und inhaftiert wurde) als Kiepenheuers ewige Honorarnervensäge zeigt. Geschichten vom Wahn und von der Wahrheit des Geldes werden versammelt, ohne dass es platt und blöd würde. Das ist eine Kunst.
Von morgens bis mitternachts
von Georg Kaiser
Regie: Christiane Pohle, Bühne: Maria-Alice Bahra, Kostüme: Sara Kittelmann, Musik: Ernst Surberg, Dramaturgie: Uwe Bautz.
Mit: Mareike Beykirch, Günther Harder, Carolin Haupt, Zenzi Huber, Matthias Hummitzsch, Andreas Keller, Guido Lambrecht, Birgit Unterweger.
www.centraltheater-leipzig.de
Alles über die Regisseurin Christiane Pohle im Lexikon.
Eher ratlos steht Nina May von der Leipziger Volkszeitung (11./12.2. 2012) Christiane Pohles Inszenierung gegenüber. Zwar zeigt sie sich immer wieder berührt von der "teilweise schmerzlichen Subjektivitiät" dieses Zugriffs, beeindruckt sie die schauspielerische Leistung aller Beteiligten ebenso, wie "manch aufrüttelnde Bild". Grundsätzlich jedoch kritisiert May eine mangelnde Analyse des Stoffs, der ihr so kaum Erkenntnisse zu vermitteln vermag. Auch der biblische Bezug der Interpretation, die den Stoff als Passionsgeschichte eines Kassierers deuten wollte, erschließt sich der Kritikerin nicht recht. Denn die beiden Holzplatten auf der Bühne, die das Kreuz symbolisieren sollen, rufen bei ihr eher Baumarkt-Assoziationen hervor. Allerdings wird der ausströmende Holzgeruch und auch der nüchterne Kontrast dieses Settings als Kontrast zum surrealen Spiel durchaus als Gewinn empfunden.
Von ästhetischen Experimenten spricht Ulrich Seidler in seiner Kritik für die Dumont-Redaktionsgemeinschaft in Frankfurter Rundschau und Berliner Zeitung (13.2.2012). In Leipzig sieht der die expressionistische Kunst dem Publikum nur so um die Ohren fliegen. Und das Geld, "um das es ja eigentlich geht", das Seidler zufolge "in dicken Packen unbeachtet durch die Gegend" fliegt. Doch aus Sicht des Kritikers explodieren die Summen im Zuschaerraum folgenlos. Regissseurin Christiane Pohle lasse die Kohärenz des Stoffes "konsequent platzen". Fragen des Kritikers am Schluß: "Was soll so eine Castorfiade in der Messestadt Leipzig?" "Ist so eine ernst, zynisch und verzweifelt gemeinte Kunstvernichtungs-Kunstanstrengung in diesem Stadttheater-Rahmen nicht zwangsläufig dem langweiligen Provokationsmechanismus unterworfen?"
Wie die Figuren, die zu überdrehten Karikaturen degeneriert seien, verheddere sich auch der ganze Abend "in immer konfuser und zufälliger werdenden Bildern, die zeigen, dass es vielleicht kein Zufall ist, dass Kaisers expressionistische Aufgeregtheiten mittlerweile von den Spielplänen verschwunden sind", schreibt Peter Laudenbach in der Süddeutschen Zeitung (24.2.2012) – und ordnet Christiane Pohles Inszenierung gemeinsam mit Sebastian Hartmanns "Trinker" nach Fallada am Berliner Gorki Theater einem "angejahrten Pop- und Trashtheater" zu, das im Verfallstadium angelangt sei.
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Was an disem Stück zu beobachten war, ist auch an anderen Abenden schon zu sehen gewesen und es ist vielleicht DAS Problem am Centraltheater, ein wesentlicher Grund weshalb dem Leipziger Theater so an die 100000 Zuschauer pro Spielzeit fehlen. Es fehlt "der rote Faden", der mich als Zuschauer wach hält. Man kann dem Abend schlichtweg nicht folgen. Es fehlen damit Entwicklungen der Figuren, die Temperatur erhöht sich im Laufe des Abends kein bißchen, Szenen bauen nicht aufeinander auf, Spannung fehlt durchweg. Das ist für einen 2 Stunden Abend zuviel. Es ist anvangardistisch und bleibt trotzdem langweilig. Selbst ein Castorf kannte Spannungsbögen innerhalb eines Stückes und konnte eine Geschichte erzählen. Mit diesem Stil vergrault sich das Theater seine Zuschauer, für die es eigentlich gemacht werden sollte. Sorry, aber das musste mal gesagt werden.
Eine Freude für die Humanität.
Viel Google zum Kaiser.Das sagt man auf.
WÄRE THEATER NICHT EINE SO WAHNSINNIG UNWICHTIGE SACHE - ERGO AUCH KOMMENTARE ZU THEATER HIER UND IRGENDWO ANDERS - KÖNNTE MAN SICH NICHT SO SCHÖN DARÜBER AMÜSIEREN, DASS SIE IN NEUN ZEILEN ALLES UND JEDEN ALS "PLATT, BLÖDE, GEISTLOS, SINNENTLEERT" NIEDERMACHEN, DER NICHT IHREM VERSTAUBTEM GESCHMACK NACHKOMMT, UM SELBST IN ZEILE 10 ALS HUMANISTEN ZU ENDEN. (...) ABER WIE GESAGT: ES GEHT NUR UM THEATER. GINGE ES UM WAS WICHTIGES, (...) EINE FREUDE FÜR JEDEN ANTI-AGGRESSIONSTRAINER.
wieso alles in Kapitälchen? Weil kein Argument, dann schriftliche Lautstärke?
Na ja, das ist es eben - wenn man Theater als so irrelevant ansieht, dann geht eben alles...
DASS SIE VERSALIEN HÖREN IST EIN SYNÄSTHETISCHER DEFEKT, BEI DER BEHANDLUNG KANN ICH IHNEN LEIDER NICHT HALB SO GUT HELFEN, WIE SIE MIR MIT IHREN KLEINSTBÜRGERLICHEN REPLIKVERSUCHEN. DAS IST ALSO DER LEIPZIGER THEATERBESUCHER, DER SEIN THEATERVERSTÄNDNIS FÜR MEHRHEITSFÄHIG HÄLT UND SEINE INTOLLERANZ ALS HUMANISMUS VERSTEHT. ABER ES IST, WIE ES IST: WIE SIE DA WOHL ZU HAUSE SITZEN, IN IHRER DEUTSCHEN SITZECKE, UND IHRE OLIVETTI-SCHREIBMASCHINE ANS W-LAN ANGESCHLOSSEN KRIEGEN WOLLEN, DAS VERSÜSST MIR EINFACH DEN TAG. DANKE DAFÜR!
Das Ensemble ist einfach fantastisch in Leipzig. Ich wünsche den Kollegen noch viele erfolgreiche Aufführungen und hoffe, dass der Abend sein Publikum finden wird
Aber bitte, gerne.
Falle die entscheidenden Kriterien sein, denke ich. Wie schnell führt heute jemand das Auslastungsargument an, und morgen, unter einer anderen Intendanz, gefällt ihm plötzlich "sein" Theater, und was passiert ? Auch hier ists Essig mit Auslastung ! Und dann hat man mit der Anbetung des Auslastungsfetischs noch dazu mit-beigetragen, daß nun auch das Theater, was einem nun plötzlich gefällt, "dicht" gemacht wird. Was sich als sachlich unangemessen jederzeit ausweisen läßt, ist in diesem Falle dann sogar recht unklug, oder ? Im übrigen bin ich zB. jetzt in Leipzig im Urlaub größtenteils deswegen, weil es hier das Centraltheater ("unter" Herrn Hartmann) gibt. Ich sah bereits am Ankunftstag, passend zu einem Urlaubsbeginn, "Die Wildeweitewelt-Schau", vorgestern "Von morgens bis mitternachts" und gestern "Nackter Wahnsinn- was ihr wollt", und kann ein Haus eigentlich nur beglückwünschen und eine Stadt fast ein wenig beneiden, wo/in der es in so kurzer Abfolge drei so sehr unterschiedliche, allemal gut zu diskutierende Abende zu erfahren gibt. Da muß einem zweifelsohne lange nicht alles gefallen, und Abende, die so sehr zu Oratorien oder beinahe, wie der Pohle-Abend, zu Gottesdiensten "verkommen" (in einer Zeit, wo die Frage nach Gott nicht allzuhäufig ganz vorn ansteht eigentlich), erwecken, bei den Voraussetzungen, die sie machen (müssen) und die -entgegen der Zielrichtung eigener Aussagen- immer weniger im Publikum werden goutieren bzw. verstehen können (manches scheint so aufgesetzt zu sein, daß es auch kaum verstanden werden kann ...), schnell den Eindruck krasser Widersprüchlichkeit (und so konnte ich dem Pohle-Abend in seiner geradezu "Erlösungshoffart" der letzten Gitarrenszene so sehr nicht folgen, daß mir nicht einmal mehr nach Beifall zumute war für etwas, das mindestens als "Experiment" zu Kaiser (siehe obige Kritiken) alle Achtung verdient im Grunde). Wieder so ein Beispiel dafür, daß Applaus nicht alles ist im übrigen..