Jahrestage - Schauspiel Leipzig
Stuhlkreis in Jerichow
19. März 2023. 1800 Seiten, die bis in die 1920er Jahre und später in die DDR zurückblicken: Anna-Sophie Mahler wagt sich an Uwe Johnsons epochalen Roman und hat daraus eine gut durchdachte Strichfassung mit heutigem Intro destilliert. Wird daraus auch ein fesselndes Theatererlebnis?
Von Matthias Schmidt
Leipzig, 18. März 2023. Gesine Cresspahl steht verloren auf der leeren Bühne, Bodennebel umwabert sie. Die Musiker spielen "Eleanor Rigby" von den Beatles, und Gesine nimmt ihrer Tochter Marie Uwe Johnsons "Für wenn ich tot bin" auf. Ein Gänsehautmoment, sehr atmosphärisch. Für solche Szenen geht man ins Theater. Da steckt alles drin, das Pathos eines Testaments und sogar eine Prise Leichtigkeit. "All the lonely people" singt sie und unterbricht: "So, jetzt weißt du erstmal, dass ich nicht singen kann." Dieser Moment versöhnt damit, dass es in den mehr als zwei Stunden davor meistenteils sehr nüchtern zuging auf der Bühne des Leipziger Schauspielhauses.
Gut durchdacht
Bis dahin war Anna-Sophie Mahlers Uraufführung der "Jahrestage" vor allem gut durchdacht. Eine Einführung, in der die Schauspielerinnen und Schauspieler darüber sprechen, wie sie Uwe Johnsons Roman entdeckt haben, wie sie ihn verstehen. Wie sie sich ihren Figuren angenähert haben, welche Momente sie besonders beeindruckt haben. Und dass es nicht ganz einfach wird, den komplexen, vielstimmigen Roman auf die Bühne zu bringen. Fallhöhe abbauen? Erwartungen dimmen? Immerhin sprechen wir von insgesamt 1800 Seiten, die zwar an 366 Tagen der Jahre 1967 und 1968 spielen, dabei aber bis in die 20er Jahre zurückblicken, später in die DDR, die über Zeitungsberichte aus der "New York Times" die Weltlage einbeziehen. "Wie ihr daraus einen Theaterabend machen wollt – keine Ahnung!", sagt Markus Lerch, der kurz darauf in die Rolle des Heinrich Cresspahl schlüpft.
Ein Intro, das beim Verständnis der Handlung hilft. Gut durchdacht auch die Strichfassung (gespielt wird nur das erste Buch der Tetralogie), der man gut folgen kann. Ebenso die motivisch eingesetzte Live-Musik, die die Ortswechsel nachvollziehbar macht. Durchdacht auch das Bühnenbild aus weißen Quadern, die multifunktional Möbel oder Häuser oder Sichtachsen verkörpern. Die manchmal aber auch nur hin- und hergetragen werden, damit etwas geschieht auf der ansonsten leeren Bühne. Was aus all dem gut Durchdachten nicht wird, ist ein sinnliches, ein fesselndes Theatererlebnis.
Mehr Auf- als Erzählung
Die Inszenierung fühlt sich lange an, als sei es eben doch vor allem eine Last, Johnsons Jahrhundertwerk genau 40 Jahre nach Erscheinen seines vierten und letzten Bandes uraufzuführen. Am Staatsschauspiel Dresden hat man sich kürzlich bei den "Mutmaßungen über Jakob" entschieden, ganz auf Johnsons Sprache zu setzen, auf seine Sätze, sein Spiel mit Lokalkolorit, mit Dialekt. In Leipzig wirkt es so, als habe bereits das Eindampfen des enormen Stoffes so viel Energie gekostet, dass keine Kraft mehr blieb, den Johnson-Sound herauszuarbeiten. Zumal der sich über weite Strecken der insgesamt 4 Teile des Romans in der Prosa versteckt, die beispielsweise Gesine Cresspahls Leben im New York der Jahre 1967 und 1968 beschreibt. Oder im hier ebenfalls kaum vorkommenden Plattdeutsch von Gesines Vorfahren. Alles kommt vor, wird mehr oder – meistens – weniger ausführlich erwähnt: Mecklenburg, das Wasser, die Zeitgeschichte sowieso. Allein, es wirkt mehr wie eine Auf- als eine Erzählung.
Vor allem bis zur Pause droht diese Szenenfolge immer wieder zu purem Stehtheater zu werden. Dann wird, als habe das Inszenierungsteam es selbst bemerkt, Live-Musik eingesetzt. Heraus kommen schöne Momente, die es schaffen, Landschaften zu imaginieren: Mecklenburg ist mit den Goldberg-Variationen gut zu fassen. In New York läuft Jazz, wird Pete Seeger gesungen oder "Give peace a chance" als musikalischer Umzug durch den Zuschauerraum performt. Man kann die musikalischen Qualitäten des Ensembles genießen und versteht, warum Sonja Isemer als Gesine sagte, sie könne nicht so gut singen. Weil Paula Vogel, die ihre Tochter Marie spielt, es so ausgezeichnet kann. Eine künstlerische Einheit mit dem Spiel bilden die für sich genommen großartigen musikalischen Einlagen aber bis zur oben genannten Szene mit dem Beatles-Song nicht.
Streckenweise eine Verzettelung
Die Inszenierung verliert also Johnsons, findet aber auch keinen eigenen Ton für den Stoff. Obwohl sie neue Blicke auf Autor und Werk andeutet, gleich zu Beginn beispielsweise mit einem Statement zu Uwe Johnsons "weißem" und damit vorgeblich rassistischem Blick auf die Welt. Glücklicherweise wird das im Laufe des Abends nur mit kleinen, durchaus geschickten Kommentaren Gesines wie "amerikanische Ureinwohner hat er nicht gesagt" fortgesetzt. Die thematische Auswahl der Nachrichten aus der "New York Times" deutet an, dass den Machern der Leipziger Fassung politische Botschaften wichtig sind: gegen den Vietnam-Krieg, gegen die Profiteure in Wirtschaft und Bankensektor. Natürlich wird das Aufwachsen des Nationalsozialismus in den Blick genommen, wenn Gesine ihren Vater Heinrich Cresspahl damit konfrontiert, dass man hätte sehen können, dass Hitler Krieg und Verbrechen plane. Und auch der "Genosse Schriftsteller", wie Gesine Uwe Johnson nennt, spielt mit, tritt vor dem American Jewish Committee auf und beklagt, dass die Deutschen ehemalige Angehörige der Nazi-Partei zu ihrem Kongress geschickt haben. Alles da, alles wichtig, alles gut gemacht.
Gespannte Aufmerksamkeit
Aber letztlich täuschen diese Fokussierungen nicht darüber hinweg, vielleicht sind sie sogar ein bisschen mitverantwortlich dafür, dass diese "Jahrestage" in ihrer komplexen Gänze nie so richtig auf der Bühne ankommen. Streckenweise wirken sie wie eine Verzettelung. Gleich nach der Pause etwa, wenn die weißen Quader gegen einen Stuhlkreis ausgetauscht sind. Familienaufstellung in Jerichow. Viel Ernst und wenig Leichtigkeit. So richtig freispielen kann sich kaum jemand, am ehesten Sonja Isemer als Gesine, die wenigstens einmal wütend wird und immer mal eine Portion Ironie einbringt, ein Lächeln in einer ansonsten kühlen, vor lauter Bedeutungsschwere nahezu humorlosen Inszenierung. Langweilig ist sie nicht, im Gegenteil, es herrscht gespannte Aufmerksamkeit. Man meint zu spüren, dass etwas Großes in der Luft liegt, aber man versteht eben nicht, was es ist. Nicht auszuschließen, dass die Antwort lautet: Ein epochaler Roman kann durchaus zu groß für die Bühne sein.
Jahrestage
(Erster Teil)
nach dem Roman von Uwe Johnson
Uraufführung
Regie: Anna-Sophie Mahler, Bühne und Kostüme: Katrin Connan, Text- und Konzeptmitarbeit: Falk Rößler, Musik: Martin Wenk, Michael Wilhelmi, Dramaturgie: Benjamin Große, Sounddesign: Rafal Stachowiak, Albrecht Ziepert, Licht: Carsten Rüger, Video: Tim Pathe, Ton: Anko Ahlert, Leon Grund.
Mit: Sonja Isemer, Paula Vogel, Thomas Braungardt, Markus Lerch, Amal Keller, Andreas Keller, Bettina Schmidt, Denis Petkovic.
Premiere am 18. März 2023
Dauer: 2 Stunde 50 Minuten, eine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Johnsons Romanzyklus ist ein Meilenstein der deutschen Literatur, "bislang noch nicht auf die Bühne gebracht – unfassbar angesichts der Schwemme von Romanbearbeitungen im deutschsprachigen Stadttheater", schreibt Andreas Platthaus in der FAZ (20.3.2023). Leider gebe es neben der von den zehn Mitwirkenden grandios vorgetragenen Musik und dem wie die Kostüme spartanischen Bühnenbild "keine Überraschung auf der Leipziger Bühne." Es werde deklamiert wie bei einer Romanlesung: "schön textverständlich, aber ohne den Effekt wirklichen Zusammenspiels".
"Jahrestage" sei ein Großstadt-, Provinz-, Familien- und Zeitroman. "Und ein Zeitungs-Roman außerdem. Was fraglos der große Schwachpunkt dieses Werkes ist - auf den Anna-Sophie Mahler und Falk Rößler in ihrer Inszenierung gleichwohl und irgendwie auch erwartungsgemäß nicht verzichten wollten", schreibt Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (20.3.2023). Ausbaden müsse das der Schauspieler Thomas Braungardt als personifizierte New York Times. "Dass Braungardt seine Presseschau wie ein putzmunterer Conférencier bewerkstelligt, macht es nicht weniger ermüdend." Musik helfe durch den zäh geratenen Theaterabend. Aber "die Verwobenheit von historischer und zeitgenössischer Dimension die den Roman auszeichnet, wird zum Moralfragen-Aufsage-Theater mit Musikeinlage". Fazit: "An der Vorlage hat man sich schlichtweg überhoben. Inszenatorisch eher ein dünnes Brett gebohrt."
"Warum nur wird aus der Komplexität der Ereignisse eine simple Geschichte? Johnsons Metaroman arbeitet gegen diesen Mechanismus im menschlichen Gehirn. Aber das Theater? Es kann kaum bebildern, wie da eine Erzählung sich selbst misstrauisch überwacht. Es ist halt immer Anwesenheit von Menschen und Abwesenheit von Welt", sagt Eberhard Spreng im Deutschlandfunk (19.3.2023). "Auch dieses Theater macht mit Literatur, was Theater immer mit Literatur macht. Es beschränkt sich auf Schlüsselszenen mit emotionaler Aufladung. Aus Wahrnehmung wird Gefühl, und nun wird auf dem Theater aus dem Gefühl ein Klischee mit Schauwert. Aber Anna-Sophie Mahler weiß, was sie tut: Das letzte, was wir sehen, ist eine Diskokugel über menschenleerer Bühne, mit umherhuschenden, glitzernden Lichtreflexen auf den Wänden und beruhigendem, flächigem Sound. Wer eine Literaturadaption so beendet, glaubt mit dem Mut zur Vereinfachung fest daran, dass sich alles Leben letztlich in Musik auflösen lässt."
Ein "Musical, leider mit mehr schlecht als recht interpretierten Beatles-Songs", hat Till Briegleb für die Süddeutsche Zeitung (21.3.2023) in Leipzig gesehen. "Die wenig originelle Rücksichtnahme der Regie, mit ziemlich biederen Erzählmitteln den Stoff zu bewältigen, findet ihren Rettungsanker in Sonja Isemer. Die Hauptdarstellerin dieses Abends sucht auf Johnsons zentrale Frage 'Wie sollen wir richtig leben?' eine seriöse Antwort. In ihrem ständigen Hinterfragen moralischer Dilemmata erfindet Isemer eine tiefsinnige, sehr empathische Figur."
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