Jahrestage. Zweiter Teil - Schauspiel Leipzig
Drohne geht immer
3. März 2024. Vor einem knappen Jahr hatte in Leipzig Anna-Sophie Mahlers Uwe-Johnson-Adaption "Jahrestage. Erster Teil" Premiere. Jetzt schiebt sie den "Zweiten Teil" hinterher – allerdings fast ohne Johnson-Text, dafür mit Musik.
Von Matthias Schmidt
3. März 2024. Es sollte der zweite Teil einer Inszenierung von Uwe Johnsons monumentalem Roman werden. Herausgekommen ist ein kurzer, weitgehend belangloser Abend, der – für sich genommen – die Kriterien für einen Etikettenschwindel erfüllt. Dieser "Zweite Teil" enthält so gut wie nichts aus Johnsons Text. Mögen es ein oder zwei Sätze und drei oder vier Gedanken und vier oder fünf Namensnennungen sein, auf jeden Fall dürfte es nicht mehr als eine halbe Seite sein und damit rund 900 Seiten unter der Schwelle liegen, ab der Tantiemen für Aufführungsrechte fällig werden. Vor allem ist es einfach viel zu wenig für einen Abend, der "Jahrestage. Zweiter Teil" heißt.
Johnson ohne Johnson
Nimmt man den ersten Teil hinzu, der vor ziemlich genau einem Jahr gezeigt wurde, und denkt man sich, dass demnächst auch zumindest ein paarmal beide Teile zusammen gezeigt werden, fällt die Bilanz differenzierter aus, wenn auch nur unwesentlich. Denn Anna-Sophie Mahlers radikale Entscheidung, den Roman nicht weiterzuerzählen (im ersten Teil wurden die Bücher 1 und 2 bearbeitet), beruht darauf, dass der erste kein Erfolg war. Am Ende, hört man zu Beginn des zweiten Teils, spielte man vor 36 Zuschauern.
Die ersten zehn Minuten lang sind davon frustrierte Schauspieler zu erleben. Sie stehen mit dem Rücken zum Publikum (das auf der Hinterbühne sitzt) hinter dem geschlossenen Vorhang, schauen ab und an in den Zuschauerraum, um festzustellen, dass dieses Mal gar niemand im Saal sei. Ein hübscher, kleiner Theaterspaß, bei dem hier und dort geschmunzelt wird. Kann man mal machen. Dann aber wird die Idee breit ausgewalzt, und sie endet mit der dann doch ziemlich larmoyant wirkenden Erkenntnis, Johnson sei in Leipzig halt nicht bekannt, weil er in der DDR nicht verlegt wurde (was nicht ganz stimmt, es gab immerhin 1989 den Prosa-Band "Eine Reise wegwohin"). Sei’s drum, denn abgesehen von der kleinen Beckmesserei kommt dieser Startpunkt der Inszenierung einer Bankrotterklärung gleich: Wäre Bekanntheit ein Kriterium, könnte man keinen einzigen neuen Autor mehr spielen.
Wie wäre das: Der "Erste Teil" (der zwar berührende Momente hatte, aber eben keine inhaltlich überzeugende Idee), hat die Stadt und das potenzielle Publikum nicht erreicht, also versuchen wir es nochmal anders? Und zwar mit dem geschichtsprallen, sprachgewaltigen Text, der auf dem Programmheft vorne als Titel draufsteht. Stattdessen sitzt man auf den viel zu engen, harten Hinterbühnen-Bänken und muss zusehen, wie der "Rest" des Romans demonstrativ – quasi aus Trotz - nicht mehr gespielt wird.
Erinnerungen, Zweifel, Träume
Die neue Idee ist der "Erinnerungsraum": Die Schauspieler nähern sich persönlich an Johnson und den Roman an. Indem sie erzählen, was Heimat und der Verlust von Heimat für sie bedeuten. A la "Ist das nicht auch wie bei Johnson?" Oder "Das ist doch fast wie bei Gesine Cresspahl!" Bitte nicht falsch verstehen, das kann sehr spannend sein, und speziell im mittleren Teil hat die Inszenierung mit den Erinnerungen der Schauspieler an ihre eigenen Familiengeschichten einige wirklich starke Momente, die stärksten des gesamten Abends sogar. Aber das als "Jahrestage. Zweiter Teil" anzubieten, grenzt an Arbeitsverweigerung der Regie. Der Dichter – abwesend. Sein Roman – abwesend. Seine Themen, seine Sprache – abwesend. Wer den Stoff kennt, wird nicht bedient. Wer ihn nicht kennt, ist verloren. Für wen und zu welchem Zweck ist das eigentlich gedacht? Entgegenkommend interpretiert, könnten dies die Szenen sein, die dem ersten Teil fehlten. In diesen hineinmontiert, hätten sie ein Ganzes mit ihm werden können.
Hier werden sie gequält illustriert: mal stehen die Schauspieler wie die Musiker von Kraftwerk an Synthesizer-Pulten und improvisieren an einem Requiem herum, mal schlagen sie auf einen Boxsack ein, der auf der Bühnenmitte herumbaumelt. Motiviert ist beides nicht – was soll man machen, wenn es keine Handlung gibt?
Was immerhin als Trostpreis bleibt, ist, die vier Schauspieler und Schauspielerinnen etwas näher kennengelernt zu haben. Ihre Lebensgeschichten, ihre Erinnerungen, ihre Zweifel, ihre Träume werden in Nahaufnahmen auf den Eisernen Vorhang projiziert. Das waren intime und zugleich große Theatermomente. Für das komplette Fehlen des Stoffes entschädigen konnten sie nicht.
Am Ende ein kurzes Konzert
Das konnte auch die durch den Raum fliegende und dabei uns Publikum auf den "Eisernen" streamende Drohne nicht. Was sagt dieses Bild? Und ihr, woran erinnert ihr euch? Oder: Seid ihr die 100 Leipziger, die Johnson kennen? Oder: Drohne geht immer, wie im Fernsehen? Selbst da macht sie aus einer Nachricht aber kein großes Kino, das nur am Rande. Chapeau an den Piloten, immerhin: ohne GPS und automatische Hinderniserkennung, sehr schön gemacht.
Die letzten 20 Minuten der "Jahrestage" waren ein Konzert. Maria Schneider aka Mascha Juno sitzt am Schlagzeug, das weit hinten im Zuschauerraum, von Nebel umwabert auf einer Art Erdhügel steht. Michael Wilhemi spielt im Halbdunkel Klavier, Martin Wenk ebenda Gitarre und Trompete. Uwe Johnson für Schlagzeug, Trompete und Klavier? Ein bezauberndes, sehr atmosphärisches Kurzkonzert, in einem anderen Rahmen sehr gerne mehr davon! Am Ende dieses Abends aber wirkt es wie ein drangeklebter Fremdkörper und ein bisschen so, als habe man wenigstens 90 Minuten zusammenbekommen wollen. Nach 85 Minuten war Schluss.
Jahrestage. Zweiter Teil
Ein Erinnerungsraum zu Uwe Johnsons "Jahrestage".
Ein Projekt von Anna-Sophie Mahler und Ensemble / Uraufführung
Regie: Anna-Sophie Mahler, Text- und Konzeptionsmitarbeit: Falk Rößler, Bühne und Kostüme: Katrin Connan, Dramaturgie: Benjamin Große, Video: Fabian Polinski.
Mit: Thomas Braungardt, Andreas Keller, Bettina Schmidt, Denis Petković. Live-Musik: Maria Schneider aka Mascha Juno, Martin Wenk/ Tadeo Fisser, Michael Wilhelmi.
Premiere am 2. März 2024
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Kritikenrundschau
Ein "Theater als Schatten seiner selbst" hat Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (4.3.2024) am Schauspielhaus erlebt. "Der Erinnerungsraum drapiert sich dergestalt vorrangig mit Offenbarungsattitüden." Wenn Schauspieler*innen per Videosequenz von den Kriegs- und Fluchterfahrungen ihrer Eltern und Großeltern sprechen, dann sei "das dramaturgisch und inszenatorisch von einem Kalkül, dem etwas Plumpes und auch Prätentiöses anhaftet".
"Dieser völlig von Johnsons Vorlage abgespaltene metareflexive zweite Teil fesselt weitaus stärker als der erste", so Andreas Platthaus in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (11.3.2024). Wohl auch, weil gar nicht mehr versucht werde, die Vorlage inhaltlich auf die Bühne zu bringen. "Im Bild eines wiederholt aus dem Schnürboden herabgelassenen Punching-Bags, den die Akteure abwechselnd bearbeiten, wird ihr Kampf mit den 'Jahrestagen' und den eigenen Erinnerungen deutlich."
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2. "Heute ist eigentlich alles genauso schlimm wie damals in der DDR. Nur dass man damals wenigstens noch einen Ausreiseantrag stellen konnte. Zwar mit allen Konsequenzen, aber immerhin."
3. "Die Gesellschaft ist heute total gespalten. Man muss sich ständig positionieren, keiner versteht sich mehr." Das mag ein absolut berechtigtes Bauchgefühl sein. Zuletzt haben die Studie "Triggerpunkte" und die Demos für Demokratie gezeigt, dass die Gesellschaft nicht so gespalten ist, wie viele denken. Eigentlich sind sich die meisten Deutschen in vielen Dingen doch sehr einig. Was es aber tatsächlich gibt, sind Akteure, die davon profitieren, den Menschen das Gefühl von gesellschaftlicher Spaltung, Orientierungslosigkeit und Hoffnungslosigkeit zu vermitteln. Hier hätte ich mir irgendeine Positionierung oder Info gewünscht, die über ein pessimistisches Bauchgefühl hinausgeht. Gleichzeitig kritisiert Jahrestage 2 den Text von Uwe Johnson als zu pessimistisch. Wieder jemand anderes schuld. Hier hätte ich mir eine Haltung der Regie gewünscht. Die Darstellenden erzählen ihre Geschichten und Interpretationen des Textes (zum Teil sehr gelungen und spannend, zum Beispiel Bettina Schmidt und Lübeck), aber das Stück selbst hat keine Idee, keine Haltung. Stattdessen: Requiem.
Das ist natürlich alles nur meine subjektive Interpretation. Die richtige Interpretation von Jahrestage 2 kann mir Jahrestage 3 ja dann erklären.
Aber was soll diese Rahmenhandlung? Man wirft den Menschen, die gekommen sind und Jahrestage sehen wollen, implizit vor, dass keiner gekommen ist, um Jahrestage zu schauen. Das Regiekonzept, wenn man denn von einem solchen sprechen möchte, will zu viel und bietet gleichzeitig viel zu wenig. Wahrscheinlich wäre der Abend spannender, würden die Darstellenden ihre Texte einfach regie-/konzeptfrei an einem Tisch im leeren Raum erzählen. Dann könnte man ihnen besser zuhören.
Ich kenne die "Jahrestage" als Leseerlebnis von früher und war gespannt, wie das auf der Bühne aussehen soll. Dieser Abend hat mir gezeigt, warum das Buch schon damals für mich wichtig war und es auch heute wieder sein kann. Er hat die richtigen, wichtigen Fragen gestellt und mich dabei auf eine unterhaltsame, kritische, aber liebevolle Reise mitgenommen. Ich denke, Johnson hätte diesen Abend sehr gemocht.
Und was für eine Wohltat dieser radikale Ansatz im Meer der Romanbearbeitungen auf deutschen Bühnen ist! Hier wird ein Roman nicht auf seine Story und ein paar laue Dialoge eingekürzt, sondern wirklich gefragt, welchen Wert er für das Theater haben kann. Anna-Sophie Mahler und ihr Ensemble haben Verantwortung übernommen und gezeigt, dass es anders geht. Man kann einem großen Roman eine große Bühne geben, wenn man ihn nicht einfach nacherzählt. Man muss eben auch den Mut haben, dafür eine eigene Sprache zu finden. Im zweiten Teil der "Jahrestage" im Schauspiel Leipzig ist das auf beeindruckende Weise gelungen.