My love was a ghost / Angst reist mit - Doppelpremiere mit Texten von Jörg Albrecht und Sibylle Berg in Leipzig
Effi Briest in der Shrink Town
von Ute Grundmann
Leipzig, 5. Juni 2014. Kapitalismus. Sozialismus. Böse Märkte. Arme Menschen. Schrumpfende Städte. Leere Kulissen. Fast alle Stichworte der aktuellen politischen Situation werden abgehandelt in Jörg Albrechts Überschreibung von Theodor Fontanes "Effi Briest". Als Auftragswerk des Schauspiels Leipzigs hat er einen Theatertext verfasst, der sich vordergründig mit dem Roman befasst: "My love was a ghost and your love, your love was leaving this rotten town". Inszeniert hat die Uraufführung der junge Regisseur Steffen Klewar, als ersten Teil einer Doppelpremiere, die unterschiedlicher kaum sein könnte.
In der kleinen Spielstätte "Diskothek" begrüßt diffuse Musik die Besucher, Nebel wabert, Texteinblendungen in Frakturschrift sind auf einem schwarzen Kasten projiziert und verschwinden wieder. Aus dem Off erklingen Stimmen, Sätze von Gewerbegebieten, Shopping Malls, Kasernen, menschenleeren Zonen. Die Menschen, die dann erscheinen, sind gekleidet wie zu Fontanes Zeiten: Frack, Knöpfgamaschen, die Frau mit einer Steckfrisur, wie sie Effi Briest getragen haben könnte. Doch sie reden über Heutiges: Eine "Shrink Town" wollen sie verfilmen, der chinesische Geist würde eine gute Figur machen in der Industriebrache. Dann sind dieselben Figuren zu sehen in einem Schwarz-Weiß-Film, der Effi Briest in einem zerfallenen Raum zeigt oder bei einer Bootstour mit einem Mann.
Tanzende Video-Marionette
In diesem Wechsel aus Video- und Spielsequenzen hat Steffen Klewar Jörg Albrechts Text inszeniert, der von Fontanes Geist auf Geisterstädte kommt, in dem das Stadtmarketing noch lebt, auch wenn es nichts mehr zu vermarkten gibt. Von da zu den Jüngern eines Instituts für Postökonomie, weiter zum Gespenst des Sozialismus und der Scheißindustrie, deren Untergang den Himmel endlich wieder blau sein lässt.
Diese Textflut von Jörg Albrecht (der während der Buchmesse von Abu Dhabi mehrere Tage verschwunden, weil vom Geheimdienst festgesetzt war und erst nach einer Woche ausreisen durfte), die etwas mit Fontanes Roman zu tun haben könnte, aber nicht muss, hat Steffen Klewar ziemlich aufgeregt und hektisch bebildert. Da gibt es nachgespielte Filmzitate von Gründgens bis Fassbinder, Gewittervideos, da singt die Effi-Figur ziemlich schräg "Nur nicht aus Liebe weinen".
Die Figuren berauschen sich an ihrem eigenen Gerede, in dem sie kryptische Sätze für ganz einfache Dinge finden, Effi wird zur tanzenden Video-Marionette. Das alles bewegt sich zwischen Künstlichkeit und Beliebigkeit, ohne dass der Regisseur den Text in den Griff kriegen, in eine Richtung bewegen würde. Alles könnte so sein, aber auch völlig anders, irgendwie geht es um Menschen und Märkte, Geister des Sozialismus und des Marktes, aber auch um Angelica Domröse als Effi Briest und am Ende bleibt nicht nur die Frage offen, wer der Chinese ist.
Allein auf der Insel
Von ganz anderem Kaliber ist da die zweite Premiere des Abends, Sibylle Bergs "Angst reist mit" auf der Großen Bühne. Die schickt ein politisch-korrektes Lehrerpaar, einen Fotografen ("Kevin aus der Hauptstadt") und einen Journalisten auf eine leere Insel, wo sie außer dem Entschleunigungsfaktor nur zwei als Animateure fungierende Eingeborene vorfinden. Es gibt kein Elend zu besichtigen, keine armen Kinder zu hätscheln, nichts, woran man die eigene Überlegenheit messen könnte und für die Journalisten ist auch keine preiswürdige Story in Sicht. Die vier Touristen sind und bleiben auf sich selbst zurückgeworfen.
Für diese böse Komödie hat Hugo Gretler kein Insel-Idyll, sondern einen Kasten auf die Bühne gestellt, holzfurniert wie die Schrankwand daheim, davor spielt im Graben die Musik und dahinter spiegelt sich der Zuschauerraum. Es gibt quietschbunte Luftmatratzen, Plastikfische und Ein-Mann-Zelte. "E-Mann" und "E-Frau" sind mal afrikanisch, mal als Indianer, mal als Mexikaner kostümiert und so als Prototypen gekennzeichnet.
Wir sind Touristen
In diesem deutlich künstlichen Ambiente hat Regisseurin Schirin Khodadadian Bergs Stück als präzisen, bösen, komischen Irrsinn inszeniert. Dem Lehrerpaar sind die früheren Ideale längst so schal geworden wie ihre Ehe. Karla (Bettina Schmidt, wunderbar knochentrocken und widerspenstig) singt der Schweißwelt ein "Gut' Nacht", ihr Mann Karl (Wenzel Banneyer) persifliert herrlich die Guten-Morgen-Rituale der Gruppe, während zum Frühstück Bananen fliegen. Journalist Ansgar plantscht im Trockenen mit Plastikfischen und streitet sich mit den Alt-Linken.
Zur Musik von Johannes Winde und Friedrich Störmer wird schaurig-schön gesungen und Lagerfeuer-Atmosphäre beschworen. Und wenn die vier Touristen von den Einheimischen gefesselt werden, fragt sich nicht nur Karl, worum es hier eigentlich geht. Das alles ist so dicht inszeniert wie gespielt, werden präzise-beiläufig Pointen gesetzt, genaue Charaktere gezeichnet, ohne in Klischees zu rutschen – und dass wir damit gemeint sind, muss diese Inszenierung gar nicht erst betonen.
My love was a ghost (UA)
von Jörg Albrecht
Regie: Steffen Klewar, Ausstattung: Silke Bauer, Kostüme: Marianne Heide, Video: Iann Purnell, Stefan Ramírez Pérez, Dramaturgie: Alexander Elsner.
Mit: Ulrich Brandhoff, Daniela Keckeis, Michael Pempelforth.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
Angst reist mit
von Sibylle Berg
Regie: Schirin Khodadadian, Bühne: Hugo Gretler, Kostüme: Charlotte Sonja Willi, Musik: Johannes Winde, Dramaturgie: Julia Figdor. Mit: Felix Axel Preißler, Anna Keil, Wenzel Banneyer, Bettina Schmidt, Yves Hinrichs, Jonas Hien.
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
www.schauspiel-leipzig.de
Mit Text und Inszenierung verhalte es sich so, wie mit der Psychoanalyse, schreibt Steffen Georgi in der Leipziger Volkszeitung (8.6.2014) über Steffen Klewars Inszenierung von Jörg Albrechts Stück, die nämlich ihre Ostereier auch stets nur dort finde, wo sie sie zuvor selbst versteckt habe. Und im "Themenkörbchen der Gegenwartsdramatik" fänden sich ohnehin immer die gleichen Eiereien, und das sind Georgi zufolge: Gentrifizierung, Globalisierung und Kapitalismuskritik. Doch zum Leben, zum Spiel erwacht da aus Sicht dieses Kritikers nichts.
Als atemlos aber kurzweilig beschreibt Dimo Riess in der Leipziger Volkszeitung (8.6.2014) Schirin Khodadadians Inszenierung von Sibylle Bergs "hübscher Satire", die allerdings den Eindruck mache, als enthalte sie alles, "was sich ein Kabarettist bei Brainstorming" zum Thema Reisen auf den Zettel schreiben würde. Und weil unter dieser Last aus Kritikersicht die ganze Inszenierung ächzt, fällt das Fazit eher nüchtern aus, auch wenn die Geduld der Regisseurin, Bergs Gedankenflut in Bilder zu übersetzen, grundsätzlich gelobt wird.
Schön, dass Sie diesen Text gelesen haben
Unsere Kritiken sind für alle kostenlos. Aber Theaterkritik kostet Geld. Unterstützen Sie uns mit Ihrem Beitrag, damit wir weiter für Sie schreiben können.
mehr nachtkritiken
meldungen >
- 11. September 2024 Regisseur und Theaterintendant Peter Eschberg gestorben
- 11. September 2024 Saša Stanišić erhält Wilhelm-Raabe-Literaturpreis
- 10. September 2024 Tabori Preis 2024 vergeben
- 10. September 2024 Theaterpreis des Bundes 2024 vergeben
- 10. September 2024 Fabienne Dür wird Hausautorin in Tübingen
- 10. September 2024 Saarländisches Staatstheater: Michael Schulz neuer Intendant
- 08. September 2024 Künstlerin Rebecca Horn verstorben
- 08. September 2024 Österreichischer Ehrenpreis für David Grossman
neueste kommentare >
-
Tabori Preis Mehr Abstand
-
Tabori Preis Einzelleistung, hervorgehoben
-
Tabori Preis Nur halb so viel wie...
-
Tabori Preis Höhe des Preisgelds
-
Theater Görlitz-Zittau Qual der Wahl
-
Buch Philipp Ruch Alternative für Aktivisten
-
Nathan, Dresden Das liebe Geld
-
Empusion, Lausitz Weitere Kritiken
-
Essay Osten Bürgerliches Kunstverständnis
-
Essay Osten Kuratieren im Osten
nachtkritikcharts
dertheaterpodcast
nachtkritikvorschau
„Mühe allein genügt nicht“ heißt es in einer alten Werbung. Und mehr als Bemühungen sind in den meisten Inszenierungen der abgelaufenen Spielzeit am Schauspiel Leipzig nicht zu erkennen. Künstlerisch war fast alles enttäuschend, so auch „Angst reist mit“. Flache Text, die zu einer schwachen Inszenierung zusammengebastelt wurden. Und bei den Gesangseinlagen ist mir der-selbe Gedanke gekommen wie Dir.
(...)
Herzlichen Glückwunsch, Herr Lübbe, Sie leiten das am meisten beachtete Haus Deutschlands! Nachtkritik Charts Platz 1, Mülheimer Dramatikerpreisi, Besucherrekord - nicht schlecht für Jahr 1 (wer spricht noch über Neustarts Hamburg, Köln, Stuttgart?)
Ich frage mich ja ohnehin, wie man sich den Besucherrekord zusammengerechnet hat. Man möchte bei gerademal der Hälfte der angebotenen Stücke der Vorsaison das Haus in einem Maße gefüllt haben, dass man dafür umgerechnet 30 ausverkaufte Vorstellungen auf der großen Bühne mehr gegeben haben will, zusätzlich? Beziehungsweise eine ganze Ecke mehr, schließlich sind die Ränge außer zu den Premieren eben gerade wegen entsprechend geringem Dauerinteresse die meiste Zeit über geschlossen. Wie diese Zahl zustande kommt, das möchte ich doch wirklich gern mal vorgerechnet haben.
Nun kucken sie sich die Texte von @Torsten und Agnes aber mal ganz genau an! Na?! Das ist doch eine glasklare Kampagne! Bitte sofort die ips prüfen und aufklären!
@@Torsten
Besucherexplosion? Ist witzig! Glaub keiner Statistik, die du nicht selbst geschönt hast! Und mach vorher den Rang zu!
Das am meisten beachtete Haus? Vollkommen richtig! Die LVZ schreibt sofort zwei Kritiken zur Premiere. Aber nicht weils sonst keiner tut, sondern wegen voll der Beachtung. Höhere Marktanteile und so. Wo lag noch Hamburg?
Mülheimer Dramatikerpreis? Holla! Wie der Name sagt, wird hier ein Stück und keine Inszenierung ausgezeichnet.
Sie sind ja völlig außer Rand und Band bei dem weltweiten Erfolg vom Wolkenkuckucksheim Leipzig! Schauspiel Leipzig, sorry! Bloß nich umbenennen!
(Werte Kommentatoren,
bitte kommen Sie zurück zum Thema bzw. dem konkreten Theaterabend. Und bitte nehmen Sie Abstand von polemischen Pauschalanwürfen und unterfüttern Sie Ihre Äußerungen mit Argumenten und/oder Fakten/Zahlen. Andernfalls behalten wir uns vor, Ihre Kommentare nicht weiter zu veröffentlichen.
Vielen Dank,
Anne Peter / Redaktion)
Habe neulich im Sommertheater des TdJW den Satz gehört: "Besser ein volles Haus als gute Kritiken." Nach diesem Grundsatz wird am Schauspiel Leipzig gearbeitet.
Ich (...) möchte aber daran erinnern, dass die Findungskommission sich sicher aus gutem Grund nicht für Herrn Lübbe entschieden hat.
#7
Und die Steigerung der Zuschauerzahlen kommt nicht überraschend. Denn Herr Lübbe hat alles dafür getan: gefällige Inszenierungen, dabei viel Klassik, die meisten Inszenierungen enden nach 90 Minuten, alle Schulklassen im Umfeld von Leipzig werden ins Theater gelotst, zwei Weihnachtsmärchen usw. usw.
Viel Masse und wenig Klasse.