Life and Times - Episodes 3 & 4
In der konzeptuellen Mausefalle
von Kai Krösche
Wien, 21. Januar 2012. Na, was ist das denn? Eine liebevoll-mittelmäßig mit Kamin, Wandbildern und Tapete bemalte Guckkastenbühne, möbliert mit alten Herrenhaussesseln und -sofas, geziert von einer Kunstglasfront, die den Blick freigibt auf eine gemalte Schneelandschaft – und das im Kasino des Burgtheaters? Man könnte auf den ersten Blick annehmen, hier handle es sich nicht um das Bühnenbild zu den neuen Episoden des Nature Theater of Oklahoma, sondern stattdessen um das Gastspiel eines konservativen, hübsch-realistischen Klamottentheaters, das einen alten Agatha-Christie-Schinken zum Besten gibt.
Und tatsächlich, die Darsteller, die nach und nach auf die Bühne kommen, tragen historische Kostüme aus der Zeit Agatha Christies. Und tatsächlich, das verraten sowohl der Blick ins Programmheft als auch etwaige Erinnerung an die Schultheaterzeit, spielen sie – zumindest grob – die Handlung von Christies wohl bekanntestem Stück, "The Mousetrap".
Stundenlange "Ähs" und "Öhms"
Allein, der Text erzählt etwas grundlegend anderes, denn natürlich wird auf dieser Bühne kein klassisches "Whodunnit" zur Aufführung gebracht, sondern die Episoden 3 und 4 der bisher jährlich fortgesetzten Reihe "Life and Times" in der Regie der beiden New Yorker Off-Off-Broadway-Theaterschaffenden Kelly Copper und Pavol Liska. Für ihre theatrale Umsetzung eines menschlichen Lebens führten Copper und Liska zehn jeweils stundenlange Gespräche mit der knapp 40-jährigen US-Amerikanerin Kristin Worrall; den dabei entstandenen Text transkribierten sie minutiös und bringen ihn, ungeordnet und ungekürzt, mit allen "Ähs" und "Öhms" auf die Bühne.
Der Text wird allerdings nicht einfach monologisch gesprochen – stattdessen nutzen sie ihn als Grundlage für streng formale Theaterperformances, deren teils experimenteller Charakter die Schauspieler auf ungewöhnliche (heraus-)fordern. In der 2010 zum Berliner Theatertreffen eingeladenen Episode 1 wurde der Text kollektiv in Form eines Musicals präsentiert – allerdings konterkariert durch eine durch Live-Anweisungen erzeugte, von sozialistischer Massengymnastik geprägte Bewegungs-Ästhetik. Episode 2 setzte auf Synthesizer-Musik und Show-Choir-Gemeinschaftstanz und reflektierte auf spannende Weise die menschlichen Mechanismen von Zugehörigkeitswunsch und dem zeitgleichen Drang, auszubrechen.
Das Pathos der ersten Schamhaare
Und nun also Agatha Christie, Mystery, düstere Geheimnisse. Der Text wird von den Schauspielern in großen Teilen rezitiert – allerdings nicht auswendig, sondern in Echtzeit abgelesen von über tausend handbeschriebenen Texttafeln, die ihnen eine nach der anderen vorgehalten werden. Den Text, das erfahren wir im Programmheft, sehen die Schauspieler an diesem Abend zum ersten Mal in seiner Gänze – geprobt wurde ursprünglich mit dem Textbuch von "The Mousetrap". Geblieben sind die dräuenden Gesten und Blicke, der geschwollen-verschwörerische Ton, die ständige Atmosphäre, dass etwas Schreckliches bevorsteht. Als laste auf ihnen allen eine schwere Schuld, rezitieren die Schauspieler Episoden aus Kristin Worralls Leben wie Beichten; finstere, warme Orgelklänge erinnern an die schlafwandlerische Atmosphäre klassischer "Midnight Movies". Soviel Pathos führt natürlich zwangsläufig zu Reibungen mit dem oberflächlich betrachtet ganz gewöhnlichen, ja beinahe banalen Text: Wenn die ersten Schamhaare oder das Einsetzen der Regel zu hochdramatischen und entsetzlichen Ereignissen stilisiert werden, wenn sogar kurz vor der Pause – ganz wie in "The Mousetrap" – ein Mord geschieht (ironischerweise an der ebenfalls auf der Bühne stehenden Kristin Worrall), so wirkt das unweigerlich komisch.
Einen Ausweg aus dem ständigen Kreislauf von Schuld, Geheimnissen und Bedrohung liefert dabei nur die Liebe. An jenen Passagen, in denen Worrall von ihrem ersten Kuss und ihrem ersten Freund schwärmt, kippt die Inszenierung in jene Musical-Ästhetik der ersten "Life and Times"-Episode. Das ist zum einen rührend, wirkt doch dieser unbeholfene Text mit all seinen Fehlern unendlichmal ehrlicher als der typische Musical-Schmalz. Andererseits zeigt sich hier auch wieder jene bereits in der zweiten Episode nachdrücklich eingesetzte Technik, bestimmte Themen bewusst mit Melodien zu belegen, die ganz bestimmte Gefühle ansprechen. Ein Bekenntnis zur Liebe als vielleicht einziger Weg zum irdischen Glück wird mit der scharfen Reflexion theatraler Mittel und deren Wechselwirkungen mit dem Text konterkariert.
Abschalten ausgeschlossen
Ähnlich zweischneidig gestaltet sich auch die Länge des Abends: Fünf strapazierende Stunden mit Flicker-Licht-Effekten führen zwar zu hypnoseartigen Ermüdungserscheinungen von Auge und Hirn, andererseits wird man durch das hochfrequente Flackern zu jener andauernden Aufmerksamkeit gezwungen, in der sich die Schauspieler ohnehin die ganze Zeit befinden. Ausruhen, Wegschauen oder Abdriften wird nicht geduldet. Den langen Abend beschließt – ein wenig für sich stehend – ein mit Gesang unterlegter, halbstündiger Trickfilm, den Liska und Copper in mühsamer Detailarbeit im Laufe des letzten Jahres gezeichnet haben. Was schön anzusehen ist, sich jedoch nur streng an dem einen Konzept abarbeitet, einen gewöhnlichen Text in eine komplexe und aufwendig gestaltete Form zu gießen. Inwieweit die künftigen Episoden von "Life and Times" aus ihrem strengen "konzeptuellen Konzept" ausbrechen werden, lässt sich – zumindest auf dem Theater – allerdings erst wieder ab Episode 7 begutachten: Episoden 5 und 6 werden aufgrund von defekten Aufnahmebändern zu einem Bilderbuch sowie einem Laden mit Objekten künstlerisch verarbeitet.
Life and Times – Episodes 3 & 4
von Nature Theater of Oklahoma
Konzept und Regie: Kelly Copper und Pavol Liska, Ausstattung: Peter Nigrini, Musik: Robert M. Johanson und Dan Gower, Dramaturgie: Florian Malzacher, Licht: Norbert Gottwald.
Mit: Anne Gridley, Sabine Haupt, Nora Hertlein, Julie LaMendola, Kristin Worrall, Dan Gower, Robert M. Johanson, Fabian Krüger, Markus Meyer, Moritz Vierboom.
http://www.burgtheater.at
Sebastian Fleischer schreibt auf der Webseite des Deutschlandfunks (22.1.2012): Manuskripte hätten die Schauspieler nie erhalten - stattdessen läsen sie den Text von Papptafeln am Rand der Bühne ab. Wann die Darsteller auf- und wieder abträten, bleibe "weitgehend ihnen überlassen". Die vielen Erinnerungen der Kristin Worall hätten "rein gar nichts mit der Inszenierung zu tun", Setting und Figuren erinnerten an einen Krimi von Agatha Christie. Das sorge "natürlich für reihenweise komische Momente". Immer wieder seien Lieder "in diesen Theaterabend eingestreut"; ansonsten stehe die Musik nicht so im Vordergrund wie bei den Episoden 1 & 2, sie werde als "dramaturgischer Kontrast zum gesprochenen Wort eingesetzt", in Form eines elektronischen Soundteppichs. Jedoch habe der fast fünfstündige Theaterabend "einige Längen". Am Ende hinterlasse "Life and Times" dennoch den "starken Eindruck eines ambitionierten Theaterkonzepts."
"Dass das Sprechtheater stets nach Erneuerung sucht und dabei in freier Wildbahn recherchiert, ist erfreulich, dass es - wie in diesem Fall - auch noch auf die Bestmöglichen trifft, fast schon ein Wunder", so feiert Margarete Affenzeller im Standard die Fortsetzung der "Life and Times"-Reihe. In der Arbeit des Nature Theatre stecke "nicht nur eine politische Haltung, die dem Unaufregenden, den durch keinerlei Höhepunkte oder Außergewöhnlichkeiten geadelten Verhältnissen Bedeutung verleiht. Es entsteht damit auch ein demokratisches Theater, in dem sämtliche Lebensabschnitte gleichwertig behandelt werden." Durch die geschickt "von Suspense und Mystery durchdrungene Szene" werde der dokumentarisch einfache Text dramatisch spannend gemacht und "für die volle Länge von fünf Stunden" bliebe der Abend "anrührend und in Bewegung".
Hörbar leicht angefressen schreibt Norbert Mayer in der Wiener Zeitung Die Presse (23.1.2012): "Die Darsteller probten in einem Kammerspiel-Set Agatha Christies Theaterhit „Die Mausefalle", Verbrechen, Verhöre und Beichten inklusive, mit leitmotivischen Orgelklängen und irritierenden Stroboskopeffekten." Der oft banale Text werde ihnen "erst live auf gut tausend Tafeln präsentiert". Man müsse "die Leistung des Ablesens bei gleichzeitigen hochdramatischen Gesten bewundern". Nur durch "schauspielerische Glanzleistungen" sei solch "gnadenlos avantgardistische Anmaßung erträglich". Es gebe viele"Momente reiner Poesie" und "Passagen erhebenden Gesangs", Aufmerksamkeit indes schaffe "vor allem die hohe Konzentration der Vortragenden". Lauter Könner in einem um zwei Stunden zu langen Experiment.
Ulrich Weinzierl schreibt auf Welt Online (1.2.2012): Auch wenn "künstlerisch Experimentelles im Sinne des Fortschritts" noch so "verdienstvoll" sei, in der Regel wirke es "mühsam". Bei "Life & Times" liege die Banalität des Berichteten auf der Hand. Es handele sich um eine völlig durchschnittliche Existenz, ohne besondere Höhepunkte oder Katastrophen. Bisher hätten Copper und Liska es verstanden, aus "der Präsentation solcher Nichtigkeiten Funken zu schlagen". Sie gaben "dem Unbedeutenden strenge formale Bedeutung, was (...) auf die Qualität des vermeintlich Unwichtigen und Trivialen zurückwirkte: Es wurde emotional aufgeladen, hatte so das Potenzial, uns anzurühren und zum Nachdenken anzuregen." Das Verfahren bei den Episoden 3 & 4, die Darsteller im Setting von "Die Mausefalle" agieren zu lassen und ihnen erst am Premierenabend den Text z präsentieren, erzeuge einerseits einen hohen Grad an Unsicherheit und Spannung, und verfremde andererseits die harmlosesten Mitteilungen ins Mysteriöse und mache sie buchstäblich fragwürdig. Daraus folge Komik, manchmal auch Verstärkung des Gesprochenen. Das Alltägliche bekäme einen Zug ins Allgemeingültige, auch ins Poetische. Nur dauere die ganze Angelegenheit viel zu lange. Man verlasse den Saal, "voller Hochachtung vor den Ausführenden, zermürbt".
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