Die Köpfe der Hydra

5. April 2024. Mehrere Jahre lang wurde für diesen Abend recherchiert: Über toxische Strukturen, Übergriffigkeiten und Machtmissbrauch im Theaterbetrieb. Nun zeigt Regisseur Felix Hafner als Ergebnis eine Inszenierung, bei der Journalismus und Kunst ineinanderfließen. Voll im Trend also.

Von Martin Thomas Pesl

"Nestbeschmutzung" am Wiener Kosmos Theater © Bettina Frenzel

5. April 2024. Recherchetheater ist zwar nichts ganz Neues, doch in Österreich wirkt es, als käme die Form hier gerade erst so richtig an, mit voller Wucht. Zu gefühlt jedem Thema, das die Schlagzeilen dominiert, gibt es das passende Stück – und Elfriede Jelinek hat nicht einmal ihre Finger im Spiel. 

Kunst und Journalismus fallen ineins

Oft macht der Zufall die Aktualität: Calle Fuhr und "Dossier" arbeiteten an ihrem Benko-Abend lange vor der Signa-Pleite. Nächste Woche hat eine vor zwei Jahren konzipierte freie Produktion über den Wirecard-Skandal Premiere in Wien, prompt steht Jan Maršálek wieder in der Zeitung. Und im Kosmos Theater adressiert das Institut für Medien, Politik & Theater den Machtmissbrauch in der Kultur wenige Wochen nach dem Erscheinen der NDR-Doku "Gegen das Schweigen".

Für seine "Nestbeschmutzung" hat das Team – Regisseur Felix Hafner, Dramaturgin Jennifer Weiss und Journalistin Anna Wielander – selbst drei Jahre lang recherchiert, statt mit einem bestimmten Medium zusammenzuarbeiten. Es gibt auch keine begleitende Reportage oder dergleichen, das künstlerische Produkt, verkörpert durch drei Schauspieler:innen, ist gleichzeitig auch das journalistische.

Bestimmte Personen angreifen, das geht so natürlich nicht. Die Figuren und ihre Berichte bleiben abstrakt, nie fällt ein Name, nicht einmal ein fiktiver. Behandelt wird kein bestimmter Fall, der Text wirft vielmehr Schlaglichter auf die einzelnen Schuppen der Hydra – jener mehrköpfigen Schlange, mit der er den Kulturbetrieb vergleicht: Schlägt man einen Kopf ab, in Form einer wegen #MeToo gecancelten Intendanz, wachsen mehrere nach.

Gang durch die "Anlaufstellen"

Bei manchem, was gesagt wird, hofft man inständig, es sei überspitzt. Etwa dass die Ex-Schauspielerin einen heftigen Hallux hat, "weil alle meine Figuren immer Stöckelschuhe tragen mussten", gallig hingeraunzt von Birgit Stöger. Oder der Gang eines Übergriffopfers (Mervan Ürkmez mit stets hochgezogener Augenbraue) durch diverse "Anlaufstellen", die lieber den Advocatus diaboli spielen und vor den verschiedenen Arten von Backlash beim Schritt an die Öffentlichkeit warnen, als etwas zu unternehmen. Oder die Demütigungen, für die sich eine frisch preisgekrönte Schauspielerin (Tamara Semzov) voller Bitterkeit mit ungebrochen strahlendem Lächeln bei diesem ganzen kaputten System bedankt.

nestbeschmutzung 9007 c bettina frenzelMüssen wir drüber reden: Ensemble aus "Nestbeschmutzung" © Bettina Frenzel

Den szenischen Rahmen bildet eine Preisverleihung, ein glamouröses "Familientreffen" (ähem, NESTROY-Gala). Vor lachsfarbenen Vorhängen fallen typische Afterparty-Aussagen ("Lang war's, aber besser als letztes Jahr", "Bin nur wegen des Spritzerbuffets da"), während man sich linkisch und hemmungslos den Frust darüber von der Seele tanzt, dass eine "Jeanne d'Arc der gecancelten Dudes" als Moderator bei der Gala auftreten durfte. Tätern eine Bühne bieten, das könne die Branche.

Einige Seitenhiebe haben erkennbare Ziele. "Schauspieler lieben ihn trotz oder gerade wegen seiner Brüllerei", wird ein Paulus-Manker-iger Regiezampano bei der Gala angepriesen. Und dass der neue Intendant eh progressive Avantgarde mache und auch Frauen engagiere, spielt auf den schon wieder männlichen künftigen Volkstheater-Direktor Gloger an, dessen Bestellung die Wiener Kulturstadträtin mit ähnlich mauen Worten verteidigte.

"Never Have I Ever – Machtmissbrauch Edition"

Vieles spricht dem wohl mehrheitlich branchenzugehörigen Publikum sichtlich aus der Seele. Die Protagonist:innen bringen zwar nicht explizit eigene Erfahrungen vor, haben aber offenbar nichts dagegen, die trostlose Bestandsaufnahme ihres Umfelds mit Power zu vertreten. Sie alle waren oder sind Teil von Ensembles. Am Spiel "Never Have I Ever – Machtmissbrauch Edition" scheinen sie als sie selbst teilzunehmen. Hierbei muss trinken, auf wen Aussagen wie "Ich hab noch nie jemanden beruflich geghostet" nicht zutreffen.

Das alles ist unterhaltsam. Der Preis dafür ist die unweigerliche Verwässerung der wertvollen Recherche. Mit seinen auf- und zugeschobenen Vorhängen, knalligen Kostümen, Licht- und Musikwechseln will der Abend halt doch in erster Linie Theater sein, nicht Journalismus. So begnügt er sich mit dem Benennen systemischer Probleme in gewählten Worten.

Eine Lösung gegen die Hydra wird zwar angeboten: Alles niederbrennen und von vorn beginnen. Nur macht Birgit Stöger(s Figur) da nicht mit. Gut 15 Jahre älter als die anderen, hat sie für Neuanfänge keine Zeit mehr. Hm. Bleibt nur – nach einem peinlich resignierten Moment der Stille – leise versöhnlich die Restverzweiflung überspielend ein Lied zu singen. Es wird, so scheint es, so schnell nicht besser werden.

 

Nestbeschmutzung (UA)
von Institut für Medien, Politik & Theater
Konzept, Text, Recherche: Institut für Medien, Politik und Theater (Felix Hafner, Jennifer Weiss, Anna Wielander), Bühne & Kostüm: Camilla Hägebarth.
Mit: Tamara Semzov, Birgit Stöger, Mervan Ürkmez.
Premiere am 4. April 2024
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause

www.kosmostheater.at
www.institut-theater.at

 

Kritikenrundschau

"Die Stärke der satirisch getönten Inszenierung liegt darin, dass sie keine Betroffenheit ausstellt, sondern diese im Publikum der außen bunten, innen traurigen Szenen erst erzeugt", berichtet Michael Wurmitzer im Standard (6.4.2024). "Noch bedrückender wird der inhaltlich fokussierte, formal verspielte und deshalb voll überzeugende Abend, wenn man sich vor Augen hält, dass alles Dargestellte auch Selbsterlebtes der Darstellenden sein kann."

"Das Stück zeigt die toxischen Strukturen des Machtmissbrauchs in der Kulturbranche schlau und unterhaltsam auf, ohne diese zu verharmlosen, und löst – komplett ohne pathetische Mitleidsbekundungen – Betroffenheit aber auch Tatendrang im Publikum aus. Egal, ob man mit der Branche vertraut ist oder nicht, 'Nestbeschmutzung' bietet ein kurzweiliges und informatives Theatererlebnis und ist ein Vorzeigebeispiel für Recherchetheater, das sich seinen Themen nicht nur mit künstlerischer sondern auch inhaltlicher Verantwortung widmet", so
Simon Pfeifer auf thegap.at (8.4.2024).

Thomas Trenkler vom Kurier (7.4.2024) schreibt, das Trio biete keinen neuen Aspekte oder Fälle, "es beschreibt nur vage, aber mit bitterbösem Witz und viel Galgenhumor, das leider weiterhin gängige System der Abhängigkeit samt Übergriffen und Mobbing".

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