Rand - Schauspielhaus Wien
Wollen wir kuscheln?
von Martin Thomas Pesl
Wien, 30. September 2020. Ein wohligeres Anfangsbild hätte Tomas Schweigen für die neue Saison am Schauspielhaus kaum finden können: Statt menschlicher Virenschleudern gibt es erst einmal Luft. Undefinierbare Stoffhäufchen auf der Bühne expandieren zu raumgreifenden Bällen, erst blau, dann rosa angeleuchtet und begleitet von epischem Sound, als fände hier Wiens gesündestes Clubbing statt. Bis alles aufgeblasen ist, braucht es seine Zeit. Dann setzt das klinische Weiß ein, das die Kulisse die nächsten zwei Stunden dominieren wird. Vera von Gunten schiebt sich zwischen zwei Ballons durch und sagt: "Ich bin ein Tetrisstein."
"das passt ja genau da rein"
Natürlich sagt sie das, handelt es sich doch um den neuen Text von Miroslava Svolikova, jener 1986 geborenen Wienerin, die sich 2017 mit dem Stück Diese Mauer fasst sich selbst zusammen und der Stern hat gesprochen, der Stern hat auch was gesagt in die Herzen des Schauspielhaus-Publikums schrieb. Ulkige Gestalten aller Art sagen bei ihr ulkige Sachen, auch in "Rand", dessen für April geplante Premiere nun nachgeholt wurde: Die Tetrissteine demonstrieren hier ihr quasisexuelles Bedürfnis, sich ineinander zu schieben ("uh. das passt ja genau da rein"), während die sie erforschen wollenden Soziolog*innen an den Strapazen der Expedition und an ihrer akademischen Eitelkeit zugrunde gehen. Es kommt zu einem blutigen Massaker, bei dem ein abgerissenes Bein als Waffe dient (ohne Saustall auf der Bühne, denn weiße Ballons eignen sich hervorragend als Projektionsleinwände).
Eine Mickey Mouse tapst auf der Suche nach Käse umher (Vera von Gunten), ein Priester will Kakerlaken killen und findet dabei Gott in sich selbst (Jesse Inman mit wahrlich göttlichem Corona-Bart), ein polterndes Einsatzteam weiß nie so recht, ob es Polizei, Feuerwehr oder Rettung ist (Til Schindler und Sophia Löffler), und so weiter. Die Autorin baut diese Figuren nicht etwa in eine Handlung ein. Sie hat jeweils kleine Textinseln für sie geschrieben und wünscht sich, diese mögen "am ende etwas verwoben sein".
Kopulierende Tetrissteine
Hausherr und Uraufführungsregisseur Tomas Schweigen geht mit Charme und Fantasie an den Text heran. Nach Möglichkeit führt er die Regieanweisungen aus. Das scheitert oft weniger an deren Absurdität ("die tetrissteine kopulieren, indem sie sich ineinanderfügen") als daran, dass sie massive Publikumsinteraktion nahelegen, was so heute leider nicht geht. Zur Entschädigung hegt und pflegt Schweigen die allumfassende Putzigkeit des Textes. "wollen wir kuscheln", regt Sebastian Schindegger sowohl als Tetrisstein als auch als Astronaut an. Die Astronaut*innen sind eine weitere "Rand"-Gruppe, mit der in der unfreiwilligen Corona-Pause sogar kleine Spin-offs für Theaterfoyer und Homepage entstanden.
Dem Publikum gönnt Schweigen auch nach dem Beginn noch weitere Momente der Textlosigkeit – Ballspielen in angedeuteter Schwerelosigkeit, tanzende Kakerlaken –, der Kostümbildnerin ein ansehnliches Konzept: Jede*r der fünf Spieler*innen hat eine Signature-Farbe, egal, ob die Kostümteile sie als Astronautin, Soziologin und Tetrisstein kennzeichnen.
Foucaults Begriff der Sichtbarkeit
Unbunt und irgendwie fast ernst wird es erst in der zweiten Hälfte, als Schindegger den gelben Anzug ablegt und sich dem Hintergrundweiß angleicht: Erst im Bademantel, dann in Unterhose und Socken gibt er einen jämmerlichen Terroristen, der alle zu erschießen droht und es doch nicht kann. Obwohl Schindegger sich wirklich gut in die existenzielle Verzweiflung hineinsteigert, mit der seine Figur die wohlstandsverwahrloste Bequemlichkeit von uns, der "Mitte", voll blumigen Sarkasmus zeichnet, kann und will man ihn inmitten dieser Überschüttung mit Kuscheligkeit nicht mehr ernst nehmen.
So gut es die Regie mit dem Text meint, entlarvt sie ihn doch zunehmend als leere Spielerei. Der Gegensatz zwischen Rand und Mitte, auf den die meisten Figuren früher oder später zu sprechen kommen, ist laut Programmheft von Foucaults Begriff der Sichtbarkeit unterfüttert, Svolikova also gewiss kein intellektuelles Leichtgewicht. Doch anders als bei ihrem Altersgenossen Thomas Köck muss man die Substanz bei ihr jenseits der gesprochenen Worte und gespielten Szenen suchen. Jede Figur tritt hier auf, als wäre sie nur eine Randbemerkung zu allen anderen. Die Neugier auf die vermeintlich umkreiste Mitte verblasst mit jeder Minute, die sich der Abend seinem – leider auch noch mehrmals hinausgezögerten – Ende nähert. Das ist wie beim Tetris dieses eine zugebaute Loch in der untersten Ebene, das man nie wieder los wird.
Rand
von Miroslava Svolikova
Uraufführung
Regie: Tomas Schweigen, Bühne: Stephan Weber, Kostüme: Giovanna Bolliger, Musik: Dominik Mayr, Dramaturgie: Anna Hirschmann, Lucie Ortmann.
Mit: Vera von Gunten, Jesse Inman, Sophia Löffler, Sebastian Schindegger, Til Schindler.
Premiere am 30. September 2020
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.schauspielhaus.at
Wenig unversucht ließe das Team um Thomas Schweigen, den "durchaus vergnüglichen Szenenreigen" mit Leben zu füllen, schreibt Stephan Hilpold im Standard (1.10.2020): "Retro-Nostalgie vermählt sich mit Space-Age-Futurismus", der Mord mit einem Tetrisstein ergebe "ein schönes Blutbad". Doch der Höhepunkt kommt für eine Thriller-Dramaturgie zu früh, und nur einmal schaffe es eine Figur, "sich inmitten all der Randerscheinungen zu behaupten", wobei sich Sebastian Schindeggers Monolog als "Terrorist mit Ladehemmung" inmitten des Szenenreigens allerdings wie ein Fremdkörper ausnehme. Was für eine Seminararbeit eine valide These wäre – dass die Ränder die Mitte konstituieren –, sei für ein Theaterstück eine "etwas sperrige Angelegenheit", so Hilpold.
Vielfältig, manchmal aber auch spröde wirke Svolikovas Stück, schreibt Barbara Petsch in der Presse (2.10.2020). Bühnenbild und Kostüme seien die Highlights dieses Abends über die Faszination Weltall und den Rand der Gesellschaft, an dem sich alles sammle, was in ihrer Mitte nicht willkommen sei. Eindrucksvoll bewältige das Ensemble die "postdramatische Textflächen voller Chiffren, Avatare und Theorie". Insgesamt, so Petsch, "sehenswert, manchmal rätselhaft".
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