Der Teich - Kaserne Basel
Einmal tot sein und weiter leben
26. Mai 2022. Auf zwanzig Seiten Robert Walser-Prosa beruht Gisèle Viennes "Der Teich/L'Étang". Premiere hatte die Inszenierung 2021 in Lausanne, bei den Wiener Festwochen ist sie und mit ihr die Schauspielerin Adèle Haenel in einer der beiden Hauptrollen gerade noch einmal zu sehen. "Ein Ereignis", befand unsere Nachtkritik von der Schweizer Erstaufführung in Basel.
Von Andreas Klaeui
Basel, 19. Mai 2021. Welche*r Heranwachsende hat sich das nicht auch schon mal heimlich ausgemalt: Wie wäre es, wenn ich meine eigene Todesanzeige aufgäbe? Und dann schauen, wie die Reaktionen ausfallen! Robert Walsers Fritz will es wissen. Er glaubt sich nicht geliebt, insbesondere von der Mutter, also fingiert er seinen Tod durch Ertrinken im titelgebenden Teich. Interessant an dem kurzen Drama – zwanzig Druckseiten – sind dann aber weniger die Reaktionen der Nachwelt, als die Wahrnehmungsveränderungen, die der Prozess bei Fritz selbst auslöst, die Absurdität, mit der sich die Welt für ihn darstellt, das Surreale, das ihn umgibt, sein Fremdsein darin.
Berner Mundartdrama für den Festivalsommer
Robert Walser hat den "Teich" als Zwei-, Dreiundzwanzigjähriger in Berner Mundart verfasst, "si Chopf isch es ganzes Buech voll Gschichte" (Sein Kopf ist ein ganzes Buch voller Geschichten) heißt es darin über den Protagonisten, was ohne Abstriche gewiss auch für den jugendlichen Autor gilt, wie nebenbei die starke Mutterbindung. In der Schweiz wurde die berndeutsche Szenenfolge denn auch schon mehrmals aufgeführt, zum Beispiel durch Anna Papst oder Samuel Schwarz. Gisèle Viennes französischsprachige Produktion kam nach Corona-Verschiebungen vor zwei Wochen in Lausanne im Vidy-Theater heraus, die Kaserne Basel zeigt sie nun zum ersten Mal im deutschsprachigen Raum. Im Sommer kommt sie auch an die Ruhrtriennale und nach Hamburg.
Gisèle Vienne übersetzt den Text nochmal in die ihr eigene Körper- und Bildsprache, ein gestisches Vokabular, das die existenzielle Irritation sehr gut einfängt. Und zu dem seit jeher auch Puppen gehören: Am Anfang bevölkern nahezu lebensgroße Marionetten fast schon putzig die White Box, Mama und Papa im Ehebett, eine Kinderschar darum herum, eine*r auch schon bäuchlings auf dem Boden wie eine Leiche im Teich. Sie verleihen dem Abend zum Start eine Konkretion, auf der er daraufhin abheben kann. In eine Abstraktion der Verstörung, die mit ihrer Bildmacht beinahe vergessen macht, wie viel anschauliche Erzählung sie zugleich ist, wie stark – fast pausenlos – vom Text getragen.
Leiden am Vater, in Slow Motion
Gisèle Vienne verteilt die Dialoge auf zwei Schauspielerinnen, wobei Adèle Haenel die Kinderrollen zukommen, Fritz und seine Geschwister Paul und Klara, Ruth Vega Fernandez verkörpert den Elternpart. Weich und hart, Spiel und Rigidität, auch Verletzlichkeit und latent sadistische Dominanz stehen sich da gegenüber. Adèle Haenel spielt mit den Figurenreden wie ein Kind, das mit sich selbst spricht, mit Figuren seiner selbst, ein Kopf voller Geschichten. Sie spannt sich auf wie ein Messer, sie verkrümmt sich quasi erstickend unter der Vatermacht, das Publikum hält den Atem an, es ist ein Ereignis.
Die Spannung verstärkt noch, dass die Schauspielerinnenkörper neben der Rede asynchron gehen, immer in Slow Motion, verlangsamt und langgezogen, knirschend, knarrend, keuchend, auch mal aufreizend schmatzend, und auch die konkreten Geräusche sind verzerrt, akustisch überhöht zum schmerzenden Soundtrack, einer elektronisch empowerten Minimal Music, die sich aus Körpergeräuschen, spitz nachhallenden Schreien und Weltmusik-Harmonien ihre eigenen, beklemmenden Cluster zum Geschehen aufbaut.
Und das Licht! Es taucht die hermetische Box in wechselnde Farben, mehr ein Glimmen als ein Glühen, quer durch eine unterkühlte Farbpalette, vom eisigen Türkis zu fahlem Mauve, in dem sich ein Tischradio als kontrastierend grinsendes Smiley herausstellt. Nichts zu lachen gibt es in diesem bitteren Spaß des jungen Robert Walser, so wie Gisèle Vienne ihn sieht. Aber das eindringliche Bild einer Verstörung.
Der Teich / L’Étang
nach Robert Walser
Konzept, Inszenierung, Szenografie, Dramaturgie: Gisèle Vienne, Licht: Yves Godin, Klangkreation: Adrien Michel, Musik: Stephen F. O’Malley, François J. Bonnet.
Mit: Adèle Haenel und Ruth Vega Fernandez.
Premiere am 4. Mai 2021 in Lausanne
Dauer : 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause
Koproduktion: Nanterre-Amandiers CDN / Théâtre National de Bretagne / Maillon, Théâtre de Strasbourg – Scène européenne / Holland Festival, Amsterdam / Fonds Transfabrik – Fonds franco-allemand pour le spectacle vivant / Centre Culturel André Malraux (Vandœuvre-lès-Nancy) / Comédie de Genève / La Filature – Scène nationale de Mulhouse / Le Manège – Scène nationale de Reims / MC2 : Grenoble / Ruhrtriennale / Tandem Scène nationale / Kaserne Basel / Internationales Sommerfestival Kampnagel Hamburg / Festival d'Automne à Paris / Théâtre Garonne / CCN2 – Centre Chorégraphique national de Grenoble / BIT Teatergarasjen, Bergen / Black Box Teater, Oslo
www.kaserne-basel.ch
www.g-v.fr
Kritikenrundschau
Florian Baranyi vom ORF (26.5.2022) sah die Produktion bei den Wiener Festwochen. Er erlebte einen intensiven Aben über Adoleszenz und Machtmissbrauch, der Robert Walser eine bedrückende Aktualität abringe. "Gerade durch eine mehrfache Übersetzung – vom Dialekt ins Gegenwartsfranzösisch, für das Publikum dann wieder in knappe deutsche und englische Übertitel und von 1902 ins Heute – filtert die Inszenierung die emotionale Kraft, die in Walsers Skizze steckt." Und weiter: "Unterbrochen werden die Szenen von kleinen Zwischenspielen, in denen die innere Zerrüttung der Figuren mit Neonlicht und lauter elektronischer Musik wieder und wieder deutlich gemacht werden muss." Dieser "inzwischen fast schon zum Manierismus verkommene Regietrick" sei der einzige große Makel der Inszenierung.
Und in der Kleinen Zeitung (26.5.2022) heißt es: "Die choreografierte Verlangsamung jeder Bewegung intensiviert die Beklemmung, Ahnungen von Misshandlung, Inzest, Missbrauch schlingen sich wie Tentakel um Geist und Sinne: Was soll hier sichtbar werden, was unsichtbar bleiben? Eine formvollendete Übung in Unbehaglichkeit."
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Ich teile die enthusiastischen Kritiken hier nicht ganz. Ziemlich beeindruckt hat auch mich die darstellerische Leistung Adèle Haenels, stimmlich so viele Personen gleichzeitig verkörpern zu können. Und zwar so, dass man sie auch tatsächlich voneinander unterscheiden kann. Interessant- und sicher auch anspruchsvoll in der darstellerischen Umsetzung- fand ich auch, die Schauspierlerinnen in Slow Motion agieren zu lassen, um bestimmte Abläufe zu verdeutlichen. Zusammen mit der Verzerrung der Stimmen, dem Neonlicht und der überlauten Musik habe ich mich jedoch ziemlich reizüberflutet gefühlt, was das Stück anstrengend machte. Was soll damit genau bezweckt werden? Ein Weniger an dramaturgischen Mitteln wäre hier sinnvoller gewesen und hätte die beklemmende Botschaft nicht weniger gut rübergebracht. Am meisten hat mir die Musik missfallen, nicht nur weil ich überhaupt kein Fan von Heavy Metal bin, sondern auch weil sie viel zu omnipräsent und laut war. Da wurde bei mir fast schon die Schmerzgrenze überschritten. Wird einem die Dramaturgie derart eingehämmert, bewirkt das bei mir am ehesten, dass ich mich zurückziehe und die eigentliche Handlung mich nicht mehr berührt. Es wäre besser gewesen, den Originaltext Walsers stärker für sich sprechen zu lassen. Der aber wurde stark gekürzt und teiweise auch inhaltlich bearbeitet und dies nicht immer zum Positiven. Insbesondere ist auch die Rückübersetzung ins Deutsche nicht gelungen (für das Französische kann ich das nicht beurteilen) und raubt dem Original Walsers viel von seiner poetischen Kraft. Theater ist für mich immer auch gesprochener Text und wirkt v.a. auch durch die Kraft seiner Texte. Und das fehlte hier leider ein bisschen.