"Dieser Herbst ist ein Monster"

11. Februar 2022. Ein Terroranschlag, ein Attentat, ein Amoklauf: Dominik Busch erzählt von Reaktionen auf Gewalt, die plötzlich in das Leben bricht. In der Inszenierung von Brit Bartkowiak wird Unfassbares zurückhaltend und klar verkörpert mit Musik, die den Taten etwas entgegenstellen kann.

Von Valeria Heintges

© Ingo Hoehn

11. Februar 2022. Am 11. September 2001 fliegen zwei Flugzeuge in das New Yorker World Trade Center. 16 Tage später, am 27. September, erschießt ein Attentäter 14 Politiker:innen im Kantonsparlament in Zug und nimmt sich danach selbst das Leben. Einen Monat darauf läuft ein Mann Amok und tötet eine junge Frau in einer WG in Luzern. Er richtet sich hinterher selbst. Gemeint ist nicht die junge Frau, die stirbt. Der Täter will eigentlich seine Ex-Freundin treffen. "Dieser Herbst ist ein Monster", sagt eine Schauspielerin in der Uraufführung von Dominik Buschs "Der Chor" am Luzerner Theater.

Angst vor Unmittelbarkeit

Immer näher kommen die Gräueltaten, immer größer ist die Angst, ganz unmittelbar selbst betroffen zu sein. "Hoffentlich ist es keiner, den wir kennen", sagt eine Frau, die vor dem Zuger Parlament die Namen der Toten hört, einen nach dem anderen. Ist ihr Mann dabei? Nein, ist er nicht, weiß sie am Ende. Aber vorher muss sie alle Namen hören und sich jedes Mal fragen: Ist der nächste mein Mann?

Eine Produktion der Compagnie AffenherzAlleine bleiben oder Gemeinschaft suchen? Christian Baumbach im Bühnenbild von Hella Prokoph © Ingo Hoehn

Autor Dominik Busch ist selbst auf einem Chorwochenende, als der Amoklauf in Luzern stattfindet. Plötzlich stellt sich heraus: Die junge Frau ist die Tochter einer Sängerin. Von einem Moment auf den anderen ist alles anders, sind alle "zugeschnürt, zerstört und voller Angst". Wie geht die Gruppe mit der Nachricht um, wie jeder Einzelne? Viele Fragen stehen im Raum. Muss man allein damit fertig werden oder hilft Gesellschaft? Und ganz konkret: Soll der Chor das für den Abend geplante Konzert singen oder schweigen?

Mehr Gruppe als Individuen

Dominik Busch, der auch als Dramaturg am Luzerner Theater arbeitet, versetzt seine Textpassagen mit Abschnitten aus dem realen Tagebuch, das die Mutter der Getöteten geführt hat. Zwei Jahre lang schreibt sie über ihr Leben, das irgendwie ein "Weiter" versucht und es doch nicht kann. Auf der leeren Bühne ein runder Gazevorhang. Darin 22 Sänger:innen, die vor Beginn der Aufführung Stimm- und Lockerungsübungen machen, abgekapselt wie in einem Glas. Alle tragen gelbe Oberteile, helle Röcke oder Hosen (Kostüme: Britta Leonhardt), dazu Masken vor dem Gesicht. Coronabedingt natürlich, aber es erhöht die Anonymität der Sänger:innen, die mehr Gruppe sind als einzelne Menschen, die nur gemeinsam ein solches Werk erschaffen können. Zack! Plötzlich fällt der Gazevorhang, die Gruppe steht im grellen Licht. Das riesige Gerüst, an dem der Vorhang hängt, kippt wie das Schicksalsrad der Fortuna schräg in die Luft in der Bühne von Hella Prokoph. Von einem Moment auf den anderen ist alles anders – "wie ein Lichtwechsel" sagt Schauspieler Christian Baumbach, "von jetzt auf gleich".

Eine Produktion der Compagnie AffenherzDer Chor als Gemeinschaft, davor: Wiebke Kayser © Ingo Hoehn

Fünf Schauspieler:innen, die bis dahin an der Seite standen, kommen vor, hängen einen Teil der Gaze als Projektionsfläche auf. Ein Beamer projiziert Seiten, eng beschrieben mit einer klaren, ein wenig runden Handschrift: das Tagebuch der Mutter. Es gibt nur wenig Handlung, einige Monologe, einige Dialoge etwa zwischen Chormitgliedern oder den Leiter:innen, die sich überlegen, wie sie reagieren sollen. Anna Elisabeth Kummrow spricht eine Passantin, die in einem Fernsehgeschäft sieht, wie erst eins, dann ein anderes Flugzeug in die New Yorker Hochhäuser fliegt. Anja Signitzer und Hugo Tiedje übernehmen, zusammen mit Kummrow, die Rollen der jüngeren Chorsänger:innen. Zuweilen nutzen sie den Beamer, malen etwa Fingerabdrücke in Sand, um zu illustrieren, dass auch in Gemeinschaft jeder ganz individuell verschieden und singulär ist.

Klarheit und brutale Beats

Sehr zurückhaltend hat Brit Bartkowiak inszeniert, nur wenige, klare Bilder nutzt sie. Etwa wenn am Ende die Chormitglieder mit Pflanzen auf die Bühne kommen, ganz in Schwarz gekleidet, und sich dann so ausziehen, dass sie wieder im zuversichtlicheren Gelb dastehen. Oder wenn die Pflanzen dicht an dicht stehen, dass sie fast zum Dschungel werden. Der Chor beschließt, sein Konzert zu geben. Das ruhige "Ruhe aus, schlafe ein" wirkt zunächst wie ein leise-summender Kanon. Bis sich in der Komposition von Alexander Xell Dafov erst zischende Töne in den Gesang mischen und schließlich kräftige, brutale Beats in die Harmonien einbrechen.

Dominik Busch gelingen berührende Dialoge, die besonders Wiebke Kayser als Frau, die vor dem Parlamentsgebäude die Namen der Toten hört, mit feinem Gespür für Zwischentöne wiedergibt. Deutlich zeigt die Inszenierung, wie schwer es nach solch einem Schicksalsschlag ist, nicht selbst mit Hass und Gewalt (und noch mehr Waffen) zu reagieren. Die Kunst, konkret die Musik, wird zum einenden Erlebnis, das die Gesellschaft dem Hass entgegensetzen kann. Vielleicht aber könnte ein Regisseur oder eine Regisseurin woanders einen beherzteren, weniger konkret betroffenen Zugriff wagen. Dann wäre das Werk weniger lokal verankert und hätte die Chance, etwas allgemeingültiger daherzukommen.

 

Der Chor
von Dominik Busch
Regie: Brit Bartkowiak, Bühne: Hella Prokoph, Kostüme: Britta Leonhardt, Licht: Clemens Gorzella, Komposition und Musikalische Leitung: Alexander Xell Dafov, Chorleitung: Pirmin Lang, Daniel Thut, Stimmbildung: Franziska Schnyder, Dramaturgie: Melanie Oşan.
Mit: Wiebke Kayser, Christian Baumbach, Anja Signitzer, Hugo Tiedje, Anna Elisabeth Kummrow. Laienchor: Andreas Scheuber, Annekäthi Aegerter, Daniel Gieger, Lea Graf, Peter Hausherr, Josef Hess, Marcel Hofstetter, Caroline Ineichen-Hofstetter, Linda Kaufmann, Claudia Kayrooz, Heidi Kempf, Laila Koller, Pirmin Lang, Maria Peyer, Rebecca Probst, Laura Roggenbach, Kuno Schüpfer, Caroline Steffen, Daniel Thut, Marion Tobler, Urs Vogel, Guido Weber.
Premiere am 10. Februar 2022
Dauer: 1 Stunde 25 Minuten, keine Pause

www.luzernertheater.ch

Kritikenrundschau

"Ohne das Tagebuch der Mutter würde das Stück nicht funktionieren," schreibt Regina Grüter in der Luzerner Zeitung (11.02.2022). "Ihre Worte sind es, die Empathie beim Publikum hervorrufen und auch dem Schmerz der anderen Mutter, der des Täters, einen Platz geben." 

Julia Stephan berichtet in die Aargauer Zeitung (09.02.2022) wie in der theatralen Verarbeitung auf der Bühne auch die Zuschauer erfahren, wie es sei, wenn die Trennung zwischen dem eigenen Leben und einer nüchternen Zeitungsmeldung aufgehoben werde. "Wenn Sätze aus Statistiken über die Verwendung von Schusswaffen einen direkt ins Herz treffen."

 

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