EWS - Theater Neumarkt Zürich
Pffffff!
7. Oktober 2022. Eveline Widmer-Schlumpf war die erste Bundesrätin aus der konservativen SVP – und zwar gegen den Willen der eigenen Partei. Jetzt setzen Piet Baumgartner und Julia Reichert ihr und dem "einzigen Politthriller der Schweiz" ein so großartiges wie unterhaltsames Denkmal.
Von Valeria Heintges
7. Oktober 2022. Sie sind zu elft – und sehen alle aus wie Eveline Widmer-Schlumpf. Alle im gleichen, superengen Rock, alle im grauen Blazer, alle im hautfarbenen Shirt und mit Perlenkette. Und vor allem alle mit der gleichen Frisur: große Locken, ein wenig faserig, ein paar Strähnchen in die Stirn und auf den Seiten brav zurückgeföhnt. Und natürlich alle in wadenhohen Nylonstrümpfchen und schwarzen, mittelhohen Pumps (Kostüme: Delia C. Keller und Tania Perret). Der Chor der grauen Damen, könnte man denken, in immer neuen Posen. Aber weit gefehlt: Eveline Widmer-Schlumpf sah in ihrem Amt vielleicht nicht nach Model aus, sondern eher nach Büromaus. Aber sie verursachte den "einzigen Politthriller der Schweiz", behauptet der Untertitel der Inszenierung "EWS", die Piet Baumgartner und Julia Reichert am Theater Neumarkt ausgeheckt haben.
Das Wort "aushecken" passt, denn man kann sich vorstellen, mit welchem Spaß, aber auch welcher Lust an der Ent- und der Aufdeckung das Produktionsteam ans Werk gegangen ist. Der gesprochene Text ist ein Kondensat aus Medienberichten, Filmausschnitten, Archiven und vor allem aus Interviews mit Beteiligten – inklusive einem mit Christoph Blocher. Der war 2003 für die rechtskonservative Schweizerische Volkspartei (SVP) in den Bundesrat, die Schweizer Regierung, gewählt worden. Allerdings benahm er sich überhaupt nicht dem Schweizerischen Kollegialitätsprinzip entsprechend, das den Bundesräten eine Zusammenarbeit über Parteigrenzen hinweg vorschreibt. Blocher arbeitete gleichzeitig als Bundesrat und als Opposition – das missfiel nicht nur der Konkurrenz, sondern auch Teilen seiner Partei. Deshalb gelang es einer kleinen Gruppe aus Politikern der Sozialdemokratischen Partei (SP), eine alternative Kandidatur aus der SVP heraus zu organisieren und Eveline Widmer-Schlumpf gegen den Willen ihrer eigenen Partei zur Bundesrätin zu wählen. Und damit gleichzeitig Christoph Blocher abzuwählen. Ein Erdbeben, für Schweizer Verhältnisse.
Das Murmeln der Büroleute
Die Texte werden nun – teils zu Schnipseln verkürzt, teils in kurzen Monologen oder Diskussionen, oft als hochkomisches Satzpingpong aus Worthülsen, Gestotter, Geheimniskrämerei und Geschwätz – den diversen Evelines in den Mund gelegt. Die erzählen, grob chronologisch, die acht Jahre von Bundesrätin EWS, mit deutlicher Betonung ihrer Wahl, natürlich. Baumgartner erweist sich dabei als kreativer Kopf, dem immer wieder neue Mittel einfallen, um den drögen Politikbetrieb zu durchleuchten.
Natürlich werden auch Reden geschwungen – etwa in einer Glanzleistung der Stuttgarterin Melina Pyschny, die eine Rede an Blocher gerichtete Rede seines Bruders Gerhard nachspricht und dabei exakt Blochers Körpersprache und Sprechweise imitiert – auf Schweizerdeutsch, wohlgemerkt. David Attenberger, geboren im Ruhrgebiet, spricht ebenso famos echt eine Rede der Berner Parlamentarierin Ursula Wyss. In diesem an Anna Viebrock erinnernden Bürobühnenbild von Anna Wohlgemuth gibt es auch Feiern zu Ehren von Eveline Widmer-Schlumpf. Da murmelt das Büropersonal – also elf Eveline Widmer-Schlumpfs – wie man eben so murmelt, wenn man zu einem Empfang in ein Büro geladen wird. Nur zwei sind dabei deutlich zu hören, die die Sicht des Auslands auf EWS wiedergeben.
Nachrichten a cappella
Das Kernteam bilden dabei die neuen Ensemblemitglieder Melina Pyschny und David Attenberger. Und Lara Stoll, ihres Zeichens Slam-Poetin, Trägerin des Deutschen Kleinkunstpreises 2019 und des Salzburger Stiers 2021. Sie singt eine Rede zur Gitarre und beweist, dass auch Worte wie Toleranz, Konkordanz, Kollegialität und Amtsgeheimnis wie der Refrain eines Country-Songs klingen können. Sie ist ganz in ihrem Ursprungselement, wenn sie in einer Satireeinlage zwölf Mal die Buchstabenfolge S-V-P ausspricht und am Schluss nur noch ein pffffff übrigbleibt.
Dazu kommen Filmausschnitte, von Reden, aus dem Bundeshaus in Bern, aus SRF-Filmen und – am schönsten – als Schnipsel der Nachrichtensendung Tagesschau, vom Chor Eins zu Eins wiedergeben. Inklusive der – supernervtötenden – Hintergrundmusik, die der Sender meint, unter seine Nachrichten legen zu müssen. Auch die kann man nämlich als A-Cappella-Gesang intonieren, wie der Laienchor eindrücklich zeigt.
Mehr Anstand im Politikbetrieb
Das Ganze wird zu einem Bild einer Politik, die sich mit der "Integration" (sic!) der Frauen schwertat und diese über Jahre eher stauchte als förderte. Es wird auch zum Bild eines Politikbetriebs, der eine Frau anfeindete und gegen den sich Eveline Widmer-Schlumpf mit eiserner Konzentration auf die Sachfragen wehrte. Und sie wird auch zum Bild einer Gesellschaft, die für EWS demonstriert, zu mehr Anstand aufruft – und dabei übersieht, dass die Bundesrätin, ganz im Einklang mit ihrer zuweilen regelrecht rechtsextremen Partei, völlig anstandslos die Ausweisung von politisch aktiven Asylsuchenden und straffällig gewordenen Ausländern fordert. Zum Glück fehlt diese Szene nicht, denn sonst wäre das Porträt doch gar zu rosig ausgefallen. So aber: Politikunterricht der ganz großartigen und unterhaltsamen Art.
EWS – Der einzige Politthriller der Schweiz
Regie, Dramaturgie und Konzept: Piet Baumgartner, Julia Reichert, Bühne: Anna Wohlgemuth, Kostüme: Delia Keller, Tania Perret, Musikalische Leitung: Annette Labusch.
Mit: David Attenberger, Melina Pyschny, Lara Stoll, Chor: Lucy Novotny, Annette Labusch, Ruth Rüfenacht, Fredy Goldschmid, Tanya König, Julia Sattler, Pina Köhler, Salome Schock.
Premiere am 6. Oktober 2022
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.theaterneumarkt.ch
Kritikenrundschau
Eine "gewitzte Kombination von Thriller, Melodrama und Schwank" hat Ueli Bernays für die Neue Zürcher Zeitung (8.10.2022) am Neumarkt erlebt. "Die politische Auseinandersetzung wird dabei mit vorsichtiger Ironie aufbereitet, man verzichtet auf Gift und Galle." Das Stück "lebt davon, dass mit Eveline Widmer-Schlumpf ausgerechnet eine fleissige, bescheidene, unscheinbare Politikerin in einen Strudel geraten ist, der die Emotionen in der ganzen Schweiz hochkochen liess wie selten ein politisches Ereignis."
In der NZZ am Sonntag (9.10.2022) lobt Anna Kardos die Produktion: "Das Tempo ist hoch, die Mittel parodistisch, die Abfolge keineswegs chronologisch – und wer klassische Bühnendialoge erwartet, wird lange warten müssen: Diese schrumpfen zu Zitaten zusammen, auch das Bundeshaus wird im flackernden Deckenlicht zum Tatort, und vor allem wird Protagonistin EWS zur schillernd-multiperspektivischen Figur (dargestellt von manchmal bis zu elf Darstellerinnen gleichzeitig). Dass der im Titel angekündigte Politthriller nach der Eingangsszene nicht ganz eingelöst wird, ist dabei Nebensache. Denn selten durfte man die sonst eher trockene Schweizer Politik als derart schillerndes, szenisches Kaleidoskop betrachten."
"Die Kombination einer hollywoodesk inszenierten Biederkeit, wie sie der Soundteppich und die Bühne mit den choreographierten Szenen als sichtlich nicht mit dem Inhalt zusammen passende Elemente auf die Neumarkt Bühne stellt, verweist auf das Problem, dass im Kern ganz vieles gar nicht klar ist", schreibt Thierry Frochaux in der Unabhängigen Linken Zürcher Zeitung P.S. (10/2022) mit Blick auf den der Inszenierung zugrunde liegenden Politfall. Dem Regieduo sei "diese nicht aufklärbare Lücke augenscheinlich sehr wohl bewusst", also werde "EWS" auf "die Ebene des Zwiespalts", veralgert, "was kunstfertig überhöht, um nicht zu sagen der Lachhaftigkeit preisgegeben, im Zusammenhang mit Politik immer auch den Beigeschmack einer Misstrauensvermutung in sich trägt". Die Komik werde "effektvoll in Szene gesetzt".
Als "Hit" bezeichnet Daniel Binswanger diese Produktion in einer Minirezension für die Republik (9.10.2022). Das Stück "kann im besten und auch in einem kritischeren Sinn als 'Edelboulevard' bezeichnet werden. Das Komödiensetting bleibt relativ hemdsärmelig, wird aber mit etwas Marthaler-Ästhetik aufgewertet. Die Durchdringung des Stoffs hat nicht unbegrenzten Tiefgang, ist aber temporeich und unterhaltsam."
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