Homo puppy

6. April 2024. Ist der Mensch dem Menschen ein Wolf? Kann sein, muss aber nicht, findet das AG Theater Rämibühl – und sucht in Zürich für die Geschichte eines Schneeunglücks ein Ende, das Hoffnung macht.

Von Leonard Haverkamp

"Valbella" am Theater Neumarkt Zürich © Philip Frowein

6. April 2024. Der Mensch ist dem Menschen ein Wolf, vor allem wenn niemand hinschaut! So erzählt es William Goldings Roman "Herr der Fliegen". 70 Jahre nach dem Erscheinen des Bestsellers fragt das AG Theater Rämibühl, warum eigentlich immer alle Geschichten blutig enden müssen.

Generation Tiktok

Die dramatischen, ja dystopischen Schlüsse haben Konjunktur. Man muss nur in die Nachrichten schauen. Schon deshalb ist es spannend zu sehen, wie das Ensemble aus Schüler*innen der Züricher Gymnasien Rämibühl in ihrer Stückentwicklung "Valbella" mit der konjukturstarken Wolfs-These umgehen. Generell wirkt es bemerkenswert, wie in Zürich gerade vermehrt jugendliche Laien die großen Bühnen erobern – erst vergangenen Herbst den Pfauen mit jetzt, jetzt, jetzt, nun das Theater Neumarkt. Unter den Jugendtheatern ist das AG Theater Rämibüh allerdings kein Geheimtipp mehr – Stefan Bachmann, das Duo Ursus & Nadeschkin und die Dramatikerin Katja Brunner haben hier ihre Karrieren begonnen.

Schon beim Einlass wird gespielt: Im Schaukasten sind zwei Hände voll Vertreter*innen der Generation Tiktok in Gespräche verwickelt, mischen sich Drinks, albern herum. Hier wird Geburtstag gefeiert, weshalb das Publikum auch gleich zu einem Ständchen animiert wird (einmal zur Probe und dann – erneut voller Inbrunst –, als das Geburtstagskind überrascht die Bühne betritt).

IssYOU, IssMINE

Gefeiert wird in dieser Züricher Adaption in einem Chalet in den Bergen. Holzverschläge, ein frei hängendes Gemälde und ein Feuer, das in einem Glaskasten vor sich hin flackert, markieren den Goldlöffel bei Geburt (Ausstattung: Mikki Levy-Strasser). Die, die hier feiern, sind so privilegiert, dass beim Karaoke wirklich alle mitsingen, so als hätte hier niemand irgendwelche Issues. Deswegen ist es auch nicht weiter schlimm, als ein Schneesturm die Feiernden einschließt: "Wenn jemand gerettet wird, dann sind wir das".

theater neumarkt valbella foto philip frowein 22Generation TikTok feiert © Philip Frowein

Natürlich entsteht schon bald aus direkt-demokratisch gewählter Aufgabenteilung und Rationierung ein Geflecht aus Konflikten. Im Keller feiern die Meuter*innen munter weiter (wir hören sie abseits der Bühne), im Chalet zerbrechen währenddessen Freundschaften, weil ein IssYOU eben kein IssMINE ist (man kann schließlich nicht immer allen helfen); sogar Tampons werden gehortet. Wer nicht jedes Wort versteht, wird im Programmzettel-Glossar fündig.

Wie es sich für eine packende Geschichte gehört, endet der Exzess blutig. Oder? Darin scheinen sich die Spielenden ab etwa der Hälfte des Stücks nicht mehr so sicher. Anstatt weiter brutal aufeinander einzuhauen, brechen sie den Abend auf, hinterfragen die Strukturen – und einen "echten" Überlebenden (Alireza Bayram) des Schneeunglücks in Valbella, das neben der "Herr der Fliegen" als Vorlage gedient hat und hier angeblich reenacted wird. Der findet den Abend zwar toll, "aber mit den Fakten nehmt ihr es irgendwie nicht so genau, oder?" Ein paar seiner Freund*innen seien damals zwar ums Leben gekommen, allerdings durch eine Lawine und nicht durch die Auseinandersetzungen danach. Die Überlebenden hingegen hätten sich organisiert und alles zusammen durchgestanden.

Der Zweifel bleibt

Die Chalet-Gesellschaft wird nachdenklich: Muss denn wirklich jede gute Geschichte blutig enden? Wie fern schon das düstere Menschenbild aus Goldings Roman von Realität entfernt ist, habe man schon bei der Recherche gemerkt: Als 1966 wirklich mal sechs Jugendliche auf einer Insel gestrandet waren, wurden diese nach über einem Jahr wohlgenährt gerettet. Sogar ein gebrochenes Bein habe man gemeinsam geheilt.

theater neumarkt valbella foto philip frowein 40Via Demokratie in die Diktatur? Oder geht's auch ganz anders? © Philip Frowein

Und so scharen sich die Jugendlichen jetzt um den "Homo puppy" (nach dem niederländischen Historiker Rutger Bregman gleichen wir eher Welpen als Wölfen), weil die Evolution eigentlich schon immer pro-soziales Verhalten begünstigt hat – von wegen Survival oft the Fittest! Doch der Zweifel bleibt: Zeigen nicht schon die Nachrichten, dass die meisten Geschichten böse enden? Und macht uns das tägliche Grauen in den Zeitungen wirklich empathischer oder stumpfen wir nur weiter ab? Die Entscheidung darüber, ob die Menschen nun eigentlich "guat" oder schlecht sind, wird am Ende geradezu brechtisch dem Publikum überlassen.

Böse Zungen könnten behaupten, dass dieser Abend auch deshalb funktioniert, weil man im finanziell abgesicherten Zürich weiß, wovon man spielt. Aber wer braucht schon böse Zungen? Jedenfalls stellen die Jugendlichen hier die Regiekiste auf den Kopf, liefern Gags und kluge Kniffe am Band und nehmen trotz unbefangener Schweizerdeutscher Jugendsprache alle mit.

Valbella
Stückentwicklung frei nach William Goldings Roman "Herr der Fliegen"
Leitung und Konzept: Joachim Aeschlimann, Sabina Aeschlimann, Daniel Riniker, Regie: Joachim Aeschlimann, Daniel Riniker, Choreografie: Tomer Zirkilevech, Ausstattung: Mikki Levy-Strasser, Musik: Michael Schertenleib, Dramaturgie: Eneas Nikolai Prawdzic.
Mit: Alireza Bayram, Noah Bernheim, Theodor Davidoff, Dean Federer, Cora Nanut, Nela Piwonska, Philine Oldenhage, Nour Rüttimann, Daria Semenova, Leslie Siegenthaler, Fyn Stähelin, Mindra Theisohn, Angelo Turchi, Lisa Waltenspül, Seth Weller Caballero.
Premiere 05. April 2024
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause

www.theaterneumarkt.ch

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