19. Internationales Figurentheaterfestival in Nürnberg, Erlangen und Fürth
Zuverlässig unberechenbar
von Dieter Stoll
Erlangen, Nürnberg, Fürth, 18. Mai 2015. Am späten Sonntag schien die zeitweise wankende Welt der Figurentheater-Fans wieder richtig in Ordnung. Da waren bei der Deutschland-Premiere des durch Schlamm und Blut des Ersten Weltkriegs watenden Spektakels "Die Tragödie ist das Filetstück vom Vieh" des bildgewalttätigen französischen Théatre de la Mezzanine die Szenen zum Schlachtfeld-Environment gefroren. Das Ensemble, langjährige Facharbeiter für Endzeit-Orgien, fächerte zum Finale alle Möglichkeiten des Genres vom Todestango bis zum Fliegerangriff in melodramatischer Satire auf. Wie zum Vorspiel hatte das Künstler-Kollektiv Akhe aus Russland mit dem wilden Party-Happening "Monochrom" im alten Glocken-Kino klecksend in Radikal-Bild und Monster-Ton die Augen und Ohren durchgepustet. Nein, der Floskel von den "tanzenden Puppen" blieb da keine Chance. Und weil die im Städte-Großraum Erlangen / Nürnberg / Fürth seit 1979 alle zwei Jahre platzierte Auslese dieser chronisch übergriffigen Sondersparte auch im Selbstbewusstsein des Publikums sowas wie Bestandsaufnahme ist, brauchte es die End-Euphorie dringend.
Manchmal auch eine Zumutung
Dass sie in Erlangen besonders intensiv ausfiel, ist logisch – während in Nürnberg mit drei und Fürth mit zwei weit auseinander liegenden Spielstätten das Sortiment in Einzelteile zerfällt, pocht das Festival-Herz eben hier mit sechs dicht beisammen liegenden und gestaffelt bespielten Häusern. Sie machten den Überblick mit täglich mehreren, gerne auch mal drei bis vier Gastspiel-Besuchen möglich. Die Kommunikation auf dem Weg, der Erkenntnisschwung in Spaziergangschaltung, garantiert Festival-Gefühl. 13.000 der insgesamt 20.000 Gäste an zehn tagen kamen nach Erlangen. Das Risiko ist dabei zum Prinzip erhoben, wer sich dem Sog der Angebote aussetzte, war schnell mal vom Comedy-Trip in die Esoterik, von der Zirkus-Show ins Masken-Spalier gestolpert. Zuverlässig unberechenbar blieb es allemal. "Manchmal ist es auch eine Zumutung", sagte ein Dauergast, und das war als Kompliment gemeint.
Compagnie 111, wo zwei coole Jungs im Anzug als Propheten der Schwerkraftzersetzung den trapezreifen Wettkampf mit einem live programmierten Riesen-Roboter bestehen. Mensch contra Maschine in Verbeugung vor Chaplins "Modern Times", atemberaubend, aber dann doch arg viel Seitenblick zur Blue Man Group. Begeisterung allenthalben, obwohl das Thema auf offener Bühne zerronnen war. In der Nürnberger Tafelhalle bejubelte das Publikum derweil "Ramkoers" der Niederländer BOT, erstmals in Deutschland mit ihrer Geisterfahrt-Polonaise gewaltiger Musikmaschinen-Basteleien.
Immerhin hatten die letzten Tage die Gesamt-Bilanz schon aufgefrischt. Zunächst sah es so aus als ob Artisten und Aktivisten alles überdecken. In Erlangen mit "Sans Objet" der französischen"Theater" im engeren Sinn war auch das nicht, doch der kleingedruckte Festival-Untertitel "figuren. objekte. bilder" passte. Er passt für alles, selbst zu den introvertierten Meditations-Solisten. Uta Gebert ließ in "Manto" ihre lebensecht geführte Puppe mit Hirschgeweih "mythisches Universum" in wehendem Schleier ausschreiten, ausdrücklich "zaghaft". Altmeisterin Nicole Moussoux aus Belgien lauschte in "Whispers" unsichtbaren Geistern und spreizte dazu handgreiflich ihr Seelenleben. Es war mühsam.
Abschweifung ins Ahnungsvolle
Dann die als Höhepunkt annoncierte Wiederkehr einer Festival-Bekanntschaft: Giséle Vienne. Woran man doch innerhalb von 75 Minuten denken kann. An "unendliche Weiten" einer TV-Serie, denen der aufgerissene Sternenhimmel so sehr ähnelt. Auch an die elektronische Aufrüstung der Popkonzert-Industrie, mit der es die Französin (Puppenspielerin, Choreographin) im selbstgesteckten Blitzlicht-Rahmen im Guckkasten des Markgrafentheaters aufnehmen kann. In "The Pyre" (Scheiterhaufen) schickt sie ihre stets auf körpersprachliche Reduktion festgelegte Stamm-Performerin Anja Röttgerkamp durch visuell wie akustisch brodelnde Spiegelungen von Gewalt und Sexualität. Ein verzweifelnder Sohn kommt dazu, und weil die trostlose Story von der bipolaren Mutter / Tänzerin auf Todestrip nicht zu leicht verständlich werden soll, wird sie dreiteilig rückwärts erzählt. Da windet der Zuschauer im Halbdunkel die am Sitzplatz vorgefundene 30seitige Broschüre mit Dennis Coopers "Part 1", einer "vom Sohn geschriebenen" Vorgeschichte, die er als Entschlüsselungs-Hausaufgabe nachlesen muss. Auf nebulöse Weise faszinierend, dieses Spiel mit Ahnungen, und damit typisch für die Avantgarde-Ausraster des Spielplans. "Sind gar nicht so viele gegangen?!", vergewisserte sich der Erlanger Festival-Manager Bodo Birk bei der Logenschließerin – und wirkte glücklich.
Aus dem falschen Film gekommen
Ein weiträumiges Labor voller Arbeitsplätze haben die ewigen Puppenspiel-Reformer Wilde & Vogel mit der Grupa Coincidentia (Deutschland / Polen) für das Traumforschungs-Experiment "Faza REM Phase" aufgebaut. Aufwändige Kopfgeburt zur Verfolgung der Hirnströme. Der Mensch trinkt Tee, debattiert im Leerlauf und hat mit seinem Grundfreibetrag an Phantasie im Traum keine Chance gegen die Puppen. Bei den Comic-Anarchos von half past selber schuld (Israel / Deutschland) bleibt der proklamierte Trash brav. In "Pinocchio Sanchez", wo es um die Vorgeschichte des hölzernen Bengels geht, gibt es Sprechblasen, schwarzen Humor mit Knochensäge und viel tanzbares Songmaterial. Doch es hilft nichts, der blechtrommelnde Zwerg kommt wie auf Umwegen aus der Grass-Verfilmung – und um die geht es nicht.
Chris Haring. "Deep Dish" ist ein minimalistischer Tanz mit organischen Objekten, eine Verkünstelungs-Orgie an der Tafel voller Obst und Gemüse in unterschiedlichem Reifegrad. Wie Katie Mitchell Theaterszenen mit der Kamera zoomt und splittert, so fährt hier die Handkamera hinein in den Mikrokosmos von Schönheit und Verwesung, liefert surreale Großaufnahmen von Erdbeeren, Broccoli und nackten Armbeugen zum Tomatenquetschen. Staunenswert, so irgendwie!
Ganz andere Rückkoppelung zu Theatererfahrungen beim ÖsterreicherTragikomödie und Untergangs-Show
Es gab auch überwältigende Abende aus Tradition. Etwa mit dem spanischen Kulunka Teatro, wo drei junge Akteure die fast verlorene Hoffnung aufs Comeback der legendären Familie Flöz belebten. Mit deren Masken und im bekannten Stil eroberten sie in "Andre & Dorine", einer weder Trauer noch Optimismus scheuenden Demenz-Geschichte, das Nürnberger Tafelhallen- und das Fürther Stadttheater-Publikum. Tatsächlich steckt da so viel witzige Ernsthaftigkeit drin, dass das inzwischen von Sachbuch bis Blockbuster-Kino, von Inge Jens bis Til Schweiger, durchgereichte Trend-Thema unverwechselbaren Tragikomödien-Zauber entwickelt.
Stuffed Puppet (Australien / Niederlande) zeigte premierenfrisch die Untergangs-Show "The King", wo Elvis als Prototyp aller scheiternden Rock & Pop-Ikonen unter besonderer Berücksichtigung von Michael Jackson zwischen Karriere und Jenseits taumelt. Tranter tritt mit Partner Wim Sitvast als Security-Duo in Springerstiefeln auf und hat so die Hände frei für die abzuwatschende Klappmaul-Parade von Manager, Arzt, Groupie und Satansreporter. Das ist in Puppenbau und Spieltechnik so brillant wie immer, doch ein auch nur minimal originelles, dramaturgisch schlüssiges Stück wird nicht draus. Man unterhielt sich hinterher über frühere Tranter-Taten.
Über einen sympathischen Superstar verfügt das Festival seit Jahrzehnten, und er hatte erneut das Alleinstellungsmerkmal, in allen drei Städten mit (selbstverständlich ausverkauften) Doppelvorstellungen präsent zu sein. Neville TrantersOder über Tristan Vogt von Thalias Kompagnons, der einst nach dem berauschten ersten Blick aufs Stuffed Puppet sein Puppentheater in Nürnberg gründete. Er hat sich nach dem Ausflug ins Großformat der Salzburger Festspiele wieder an den Spieltisch zurückgezogen, wo er in der Albtraum-Farce "Die Elchjagd" des Polen Michal Walczak auf drei Spuren unterwegs ist. Er schiebt Joachim Torbahns Puppenköpfe in Position, lädt sie mit seiner ausladenden Mimik auf und setzt die Stimme wie ein gut besetztes Synchronstudio ein.
Höhepunkt
Der unerwartete Höhepunkt des Festivals stand in Nürnberg gar nicht auf dem Plan. Der Österreicher Nikolaus Habjan (Puppenbauer, Spieler, Autor, Regisseur) war auf der großen Fürther Bühne beim Camus-Drama "Das Missverständnis" vom Schauspiel Graz schon gefeiert worden als er in Erlangen mit "F. Zawrel – Erbbiologisch und sozial minderwertig" (Schuberttheater Wien) das Publikum vor Weinen und Lachen und Fassungslosigkeit um Atem ringen ließ. Seine im Solo bewältigte Lebensgeschichte des Friedrich Zawrel, im Nazi-Österreich vom "sachverständigen" Anstaltsarzt gefoltert, der ihm in der späteren Republik wieder amtlich begegnete und erneut wegsperrte, ist geniales Puppenspiel für eine Geschichte, die wohl keine andere Sparte so stimmig bewältigen könnte. In sparsam dosierten Film-Einblendungen und sprachlich wie spielerisch souverän gleitendem Umgang mit den kantigen Klappmaul-Charakteren wurde daraus grandioses Dokumentations- und Emotionstheater in gegenseitiger Umschlingung. Entstanden aus Gesprächen mit Zawrel, der sein Unglück mit unfassbarem Humor besiegte und als Rentner bis ins hohe Alter erzählend durch Schulen ging. Vor drei Monaten ist er gestorben und die bereits 2012 entstandene Aufführung - in Erlangen und Fürth mit Standing Ovations gefeiert - sollte als Denkmal auf Wanderschaft erhalten bleiben.
Im Mai 2017 ist das 20. Figurentheaterfestival geplant. Es muss wohl wieder eine Zumutung sein.
Figuren. Bilder. Objekte
19. Internationales Figurentheater-Festival
Erlangen Nürnberg Fürth
8. bis 17. Mai 2015 mit 67 Kompagnien aus 19 Ländern
www.figurentheaterfestival.de
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Iris Laufenberg hatte den Abend schon während ihrer Grazer Intendanz im Repertoire und brachte ihn sowie zwei andere Habjan-Produktionen in dieser Spielzeit ans DT Berlin. Dort lief in den vergangenen Monaten noch nicht alles rund, aber dieses österreichische Gastspiel wurde mit minutenlangem stehendem Applaus zurecht gefeiert.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2024/02/15/f-zawrel-erbbiologisch-und-sozial-minderwertig-kritik/