Das Blaumeier-Atelier in Bremen - Theater von Leuten mit und ohne Behinderung
Wir sind alle ein bisschen Elisabeth
von Alexander Schnackenburg
Bremen, 12. Juni 2007. Viel erkennen könne man auf dem kleinen, alten Monitor nicht, entschuldigt sich die Inspizientin – gerade so, als wolle sie jetzt einen Film vorführen. Die Kamera sei schlecht und daher erschienen die Gesichter auf dem Bildschirm fast permanent überblendet. Nichtsdestotrotz haben sich inzwischen, fünf Minuten vor Beginn der Vorstellung, drei Stuhlreihen hinter ihrem Arbeitsplatz gebildet.
Die Blaumeiers sind wieder zu Gast im Schauspielhaus des Bremer Theaters: auf der Bühne, im Auditorium, neben der Bühne – oder eben vor dem Bildschirm der Inspizientin. Die Blaumeiers, das sind die Leute vom Bremer Künstleratelier Blaumeier: neben elf fest Angestellten derzeit etwa 200 Menschen, mehrheitlich mit unterschiedlichen psychischen und physischen Krankheiten oder Behinderungen.
Liz Taylor, Sissi und die Heilige
Zu sehen gibt es auf dem Monitor der Inspizientin, beziehungsweise auf der Bühne, die "Suite Elisabeth", ein Stück, das das Theaterensemble des Blaumeier-Ateliers nicht nur selbst entwickelt hat, sondern in dem obendrein die Mehrheit derer, die jetzt noch vor dem Bildschirm sitzen, mitspielt. So auch Melanie, eine von wenigstens vier oder fünf, wenn nicht weit mehr Elisabeths, welche wir im Laufe des Abends kennen lernen werden. Genauer lässt es sich leider nicht sagen, weil in dem eigentümlichen Verwirrspiel der Blaumeiers "irgendwie alle ein bisschen Elisabeth" sind, wie es am Ende des Stücks heißt.
Melanie spielt die große Schauspielerin Liz Taylor, die, ebenso wie ihr Kollege Richard Burton (Aladdin Detlefsen), zum 800. Geburtstag der heiligen Elisabeth von Thüringen (Viktoria Tesar) in das Hotel "Chez Elise“ geladen ist – um dort unter anderem Kaiserin Sissi von Österreich (Denise Stehmeier) nebst Kaiser Franz (Frank Grabski) und Papst Gregor (Wolfgang Göttsch) zu treffen: ein durchaus eigenwilliger Plot.
Um das Ganze nicht vollends in die Klamottenkiste abgleiten zu lassen, mühen sich die Blaumeiers um einen Rest historischer Glaubwürdigkeit. Zwar wollen sie die Figuren nicht bierernst portraitieren, wie Melanie beim gemeinsamen Fernsehen versichert, gewisse Charakterzüge wollte man ihnen aber schon erhalten. Der Einfachheit halber vergleicht sie Liz Taylor mit der "Carmen" aus George Bizets Oper, eine Figur, deren Rolle sie in der letzten Produktion gespielt hat. Die Taylor sei "bolleriger" als Carmen, findet Melanie, mondäner, "eher eine Rampensau".
Damit kann sie sich gut identifizieren. Auch Melanie liebt die große Show vor möglichst großem Publikum. Deswegen (unter anderem) spielt sie Theater. Hauptberuflich stellt Melanie Socher im Auftrag der Behindertenwerkstatt Martinshof Windschutzscheiben für Daimler-Benz her. Fast jeder aus dem Theaterensemble der Blaumeiers geht einem Beruf nach. Geprobt wird daher abends. Dass dies für manch eines der schwer behinderten Ensemblemitglieder eine enorme Anstrengung bedeuten muss, versteht sich von selbst. Viel gesprochen wird trotzdem nicht darüber. Es gehört zum Selbstverständnis der Blaumeiers, dass alle Menschen letztlich gleich sind – unabhängig von der Frage, ob sie vermeintlich gesund, behindert oder psychisch krank sind. Man trifft sich im Atelier, um gemeinsam und gemeinschaftlich Kunst zu schaffen – nicht, um sich oder die anderen zu therapieren.
Mit Tiermasken für die Menschenwürde
Die Aversion gegen alles Therapeutische kommt nicht von ungefähr, sondern liegt in der Geschichte des Blaumeier-Ateliers begründet: Im Sommer 1985 setzte sich von der psychiatrischen Langzeitklinik Kloster Blankenburg aus die Blaue Karawane in Bewegung, ein Zusammenschluss von Patienten, Klinikmitarbeitern, Sympathisanten und Künstlern. Ihr Ziel war es, über den Besuch mehrerer psychiatrischer Großkrankenhäuser, zehn Jahre nach Veröffentlichung der Psychiatrieenquete, auf weiterhin herrschende Missstände bundesrepublikanischer Psychiatrieeinrichtungen hinzuweisen. Vorbild war die norditalienische Radikalkritik an den Strukturen psychiatrischer Großkrankenhäuser, der stationären Aufbewahrung und dem medizinisch-funktionalen Krankheitsbegriff.
Zur Vorbereitung hatte das Team damals Masken, Bilder, Großfiguren, Geschichten und ein Theaterstück zum Thema "Die Bremer Stadtmusikanten" entwickelt. Symbolhaft stand dieses Märchen für die Wiedereinbürgerung der aus Bremen Ausgegrenzten und Ausgebürgerten zurück ins öffentliche Leben ihrer Stadt. In Bremen, dem Zielpunkt der Reise angelangt, erhob sich die Frage nach der Zukunft dieser künstlerisch orientierten Bewegung und der Weiterführung einer anti-psychiatrie-orientierten Öffentlichkeitsarbeit: die Idee eines interdisziplinären Künstlerateliers war geboren.
Kunst und Kompromisse
Zwar genießt das Blaumeier-Atelier heute weit über Bremens Grenzen hinaus einen erstklassigen Ruf, und nicht ohne Grund sind alle Vorstellungen des Theaterensembles in Bremen ausverkauft. Trotzdem kommt es immer mal wieder zu hässlichen Zwischenfällen. "Guck mal, das ist doch eine von diesen Bekloppten", hat Melanie bereits fremde Leute über sich reden hören müssen. "Die Krätze" könne sie kriegen, wenn sie derlei höre, sagt sie. Wer so etwas sage, der solle ihr erst einmal erklären, was eigentlich einen normalen Menschen ausmache und was einen "Bekloppten". Der Unterschied interessiere sie brennend.
Auch über die Berichterstattung in den Medien waren die Blaumeiers in den letzten Jahren nicht immer glücklich. Was habe sie sich schon über tendenziöse Kritiken geärgert, erklärt Melanie. Und ihr finsterer Blick lässt keinen Zweifel daran zu, dass sie ihre Aussage als Warnung verstanden wissen will. Dennoch ist nicht von der Hand zu weisen, dass es sich bei der "Suite Elisabeth" nicht um ein nach a priori dramaturgischen Gesichtspunkten entwickeltes Stück handelt, sondern um eines, das an die Zahl der Schauspieler sowie an ihre Fähigkeiten und Bedürfnisse angepasst worden ist: dieses Stück will zuvörderst – wie alle Kunst der Blaumeiers – niemanden ausgrenzen.
Das bedeutet, dass es sich um eine Arbeit voller konzeptioneller und szenischer Kompromisse handelt. Wie könnte es auch anders sein? Schauspieler mit Down-Syndrom sowie solche, die über keinen Arm und nur ein Bein verfügen (Frank Grabski als Kaiser Franz), brauchen engere Rahmenbedingungen als ein Mensch ohne Beeinträchtigung. Auch die Zuschauer sehen das Spiel mit anderen Augen. Ohnehin unterscheidet sich das Publikum der Blaumeiers in Bremen erheblich von jenem, welches am gleichen Ort die Vorstellungen des Bremer Theaters besucht. Es geht natürlich um Kunst. Aber nicht nur.
Die Nummer mit dem Kuchen
Melanie ist dem Blaumeier-Atelier seit fünf Jahren verbunden. Den Kollegen Wolfgang Göttsch kennt sie allerdings bereits länger: durch den gemeinsamen Arbeitgeber Martinshof. Wolfgang war es auch, der letztlich dafür gesorgt hat, dass Melanie zu dem Ensemble hinzugestoßen ist, nachdem sie einen Teil des heutigen Teams bereits durch den Dokumentarfilm "Verrückt nach Paris" (2002) von Eike Besuden und Pago Balke kennen gelernt hatte, in dem einige Ensemblemitglieder mitwirken.
Ein Patentrezept für die Künstlerakquise haben die Blaumeiers nicht. Offensichtlich bewährt hat sich aber die Nummer mit dem Kuchen. Auch Wolfgang, in "Suite Elisabeth" niemand geringeres als der Papst, hat man auf diese Weise vor 14 Jahren ins Boot holen können. Damals mangelte es dem Künstleratelier, das sich inzwischen vor Interessenten kaum retten kann, noch an Schauspielern für eine kleine Theatergruppe. Um Abhilfe zu schaffen, zog das Team des Ateliers alle Register. Imke Burma etwa, eine der beiden Regisseurinnen der "Suite Elisabeth" (neben Barbara Weste), scheute sich nicht, die Leute auf der Straße anzusprechen – oder im Bus. Immer wieder, erzählt Wolfgang, während er an seiner Papst-Kutte zupft, sei ihm Imke im Bus auf der Fahrt von Lilienthal in die Bremer Innenstadt auf die Pelle gerückt und habe ihn schließlich mit dem Satz ins Atelier gelockt: "Bei Blaumeiers gibt es immer Kuchen."
Zumindest, wenn nicht gerade Theater gespielt wird – so wie jetzt. Während wir vor dem Fernseher sitzen und die Aufführung kommentieren, als handle es sich um ein Fußballspiel, geht es auf der Bühne rund. Das Bremer Kaffeehaus-Orchester, ein professionelles Kammerensemble um den musikalischen Leiter Walter Pohl, kittet in einer bizarren Mixtur aus Chansons, 20er-Jahre-Schlagern, Wiener Walzern und Swing den wüsten Bilder-Reigen der Blaumeiers geschickt zusammen. Ob nun Melanie alias Liz Taylor singender Weise ihre Beziehung zu Richard Burton seziert, dem Hotelmanager Schnittenhuber (Walter Pohl) die hochgeliebte Statue der heiligen Elisabeth abhanden kommt oder Hoteldetektiv Jean-Luc (Michael Riesen) gänzlich die Orientierung verliert – irgendwie gelingt es den Musikern, alles wie eine große, in sich geschlossene Geschichte erscheinen zu lassen. Liz Taylor hätte ihre Freude gehabt.
Mit der "Suite Elisabeth", wie vor drei Jahren mit "Carmen", wird das Ensemble in den kommenden Monaten durch den gesamten deutschsprachigen Raum reisen. Gastspiele in Linz, Marburg, Mainz und Berlin sind bereits vereinbart.
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