Festival d'Avignon: Nach neun Jahren endet die Intendanz von Olivier Py
"Macht keinen Mythos aus mir!"
27. Juli 2022. Utopist, flammender Katholik, Spötter, sprachverliebter Theatermacher: Seit seinem Antritt 2013 hat Olivier Py bei den Theaterfestspielen in Avignon das Erbe Jean Vilars erneuert. Nun übergibt er den Stab an den Portugiesen Tiago Rodrigues. Ein Rückblick auf neun Jahre Intendanz, politisches Theater und die 76. Ausgabe des Festivals.
Von Joseph Hanimann
27. Juli 2022. Unter ungekünstelt spontanem Applaus gingen die 76. Theaterfestspiele Avignon und damit gleichzeitig neun Jahre Intendanz von Olivier Py zu Ende. Neun Jahre, um die früh vergreisten Sprösslinge des "postdramatischen Theaters" zu begraben.
Mythos und Dichtung
Unter Pys Vorgängern Hortense Archambault und Vincent Baudriller hatte das Programm in Avignon einen neuen Kurs eingeschlagen. Weg vom Darstellungstheater, hin zur Diskursveranstaltung, zum Event und zur Schauinstallation. Weg von der Bühne, hin zum Show Room. Und es hatte dabei den Sinn fürs Erzählen verloren. Hinter den zersplitterten Einzelgeschichten der Individuen wieder das Echo von Mythos und Dichtung hörbar zu machen, war eines der Hauptanliegen, mit denen Olivier Py 2013 in Avignon antrat. Alles Unheil komme vom Verlust des Vermögens zum Erzählen, doch das Theater sei "eine Erzählung für jene, die keine Erzählung mehr haben", schrieb er damals in seinem Buch "Tausendundeine Definitionen des Theaters".
"Es war einmal morgen…"
"Es war einmal morgen…" hieß folgerichtig das Motto, das der Intendant und sein treuer Komplize Paul Rondin über ihr letztes Programm setzten. Wer so die Zeitachsen verkrümmt, muss ein gutes Maß an Frechheit, Selbstbewusstsein, Fantasie, Visionskraft und handwerklichem Können haben. Py, der als Zwanzigjähriger in Avignon, wie er selbst bekannte, sein Engagement für das Theater und sein persönliches Schicksal entdeckte, hat mehr als dieses Maß. Sein Theater ist eines der enthusiastischen Maßlosigkeit: ein exaltiertes, barockes, wortseliges, jenseitssüchtiges, burleskes und auf originelle Weise politisches Theater. Dieser Utopist ohne Programm, Schwuler, flammender Katholik und zugleich unverbesserlicher Spötter auf alle Arten von Autorität, angefangen mit jener des Klerus, hat als sprachverliebter Theatermacher abgesehen von seinen eigenen Stücken praktisch nur Shakespeare und die griechischen Tragödien inszeniert.
Seit dem Festivalgründer Jean Vilar war Olivier Py nach einem halben Jahrhundert in Avignon zum ersten Mal wieder ein selbst inszenierender Intendant. Und mit Vilar, dem großen Theatermacher der Nachkriegszeit mit Latzhose und Proletariermütze, Gründer des Théâtre National Populaire, verbindet ihn vieles. Wie jener stammt Py aus dem Mittelmeerraum und war stets bemüht, das Theater aus den großen Pariser Institutionen hinauszutragen ins Land. Mit seinen historischen Mauern, verfallenden Palästen und Kirchen, glühend heißen Nachmittagen, sternenklaren Nächten und dem brausenden Mistral war Avignon stets ein besonderer Rahmen dafür. Drei Wochen lang gibt die Stadt sich für alles her, Aufführungen bis zum Morgengrauen, Klamauk rund um die Uhr, Verkehrssperre in der ganzen Innenstadt, wildes Plakatkleben auf allen Wänden. In Podiumsrunden, Lesungen und Live-Sendungen über Radio und Fernsehen wird da jeden Sommer die Welt neu erfunden. Von Avignon werde erwartet, schreibt Olivier Py in seinem Abschiedsbrief, dass unser Planet gerettet, ein Krieg beendet, der Sozialvertrag neu begründet werde.
Elite für alle
Jean Vilars berühmte Maxime "Elite für alle" hat Py aber eher prosaisch ins Versprechen übersetzt: gute Shakespeare-Aufführungen unter zehn Euro für die Jugend unter 25 Jahren. Und tatsächlich steht das Ergebnis dieses Sommers mit 130 000 abgesetzten Karten für 40 Produktionen bei 92 Prozent Auslastung nach zwei Jahren Krise fast wieder auf dem vorigen Niveau. Nicht wenige Franzosen decken sich während diesen Juli-Wochen im In- und Off-Programm mit Theateraufführungen fürs ganze Jahr ein.
Über Pys persönlichen Stil eines überbordenden Sprech- und Deklamiertheaters hinaus bot Avignon auch dieses Jahr ein breites Spektrum zeitgenössischer Tendenzen. Es reichte von Alessandro Serras bildverliebter Shakespeare-Inszenierung "La Tempesta" aus Turin, über Jan Martens' besorgt choreographierter Zukunftsvision "Futur proche" aus Antwerpen, bis zu Meng Jinghuis dadaistisch vermintem szenischem Spuk "Der siebte Tag" an der Schwelle des Totenreichs nach dem Roman von Yu Hua aus Peking.
Wenn Avignon sich unter Olivier Py stets ausdrücklich als ein politisches Theater verstand, dann jedoch nicht im Sinn von Denunziation und direkter Gesellschaftskritik. Das Politische impliziert bei ihm mehr Klage als Anklage. Es bewegt sich zwischen der unbeirrbaren Verheißung auf alternative gesellschaftliche Lebensformen und schriller Satire. Die Emphase des 1998 in Avignon präsentierten "Requiems für Srebrenica" über das Versagen Europas während dem Krieg im ehemaligen Jugoslawien gehört ebenso dazu wie die grelle Verspottung der Machthaber aus Politik, Kirche und Medien im jüngsten Stück "Ma jeunesse exaltée" dieses Sommers. Konkret politisch war aber auch Pys Ankündigung des vergangenen Jahrs vor den französischen Regionalwahlen, im Fall eines Siegs des rechtsextremen Front National würde er trotz Finanzschwierigkeiten jede Subvention von der Region fürs Festival ablehnen.
Der neue Festivalleiter, der diskrete Portugiese Tiago Rodrigues, der im September die Nachfolge antreten wird, ist in vielem das Gegenteil zum quirligen Vorgänger. Wie dieser ist aber auch er ein schreibender und inszenierender Künstler. Sein von Anne Théron inszeniertes Stück "Iphigenie" aus der 2015 in Lissabon herausgebrachten Trilogie "Iphigenie. Agamemnon. Elektra" war einer der interessanten Beiträge dieses Sommers in Avignon. Alle Figuren des antiken Dramas suchen sich im Stück aus ihrem vom Mythos vorgegebenen Schicksal zu entwinden. Agamemnon lehnt das Opfer seiner Tochter zunächst entschieden ab mit der Begründung, ein Sieg in Troja sei eines Menschenlebens nicht wert, schickt sich dann aber doch in die Sachzwänge des Regierens. Klytaimnestra plädiert für Machtverzicht und geruhsames Familienleben. Interessant ist indessen vor allem die Antwort Iphigenies: Sie sei bereit zu sterben, wolle aber, dass das ihr persönlicher Entscheid bleibe und nicht von der Nachwelt gefeiert werde – "Vergesst mich! Macht keinen Mythos aus mir!". Nach Olivier Pys fulminanter Intendanz sich mit seinem eigenen Stil am Theatermythos Avignon abzuarbeiten, wird in den kommenden Jahren die schwierige Aufgabe des Nachfolgers sein.
Joseph Hanimann ist Essayist und Kritiker in Paris, seit 1986 Kulturkorrespondent der Frankfurter Allgemeinen Zeitung, danach für die Süddeutsche Zeitung. 2011 gewann er den Berliner Preis für Literaturkritik.
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Anmerkung der Redaktion: Die betreffende Passage wurde nach der Kritik des Kommentators geändert.
Lieber Thomas Rothschild, Sie haben natürlich recht - und ich frage mich, wie so etwas zustande kommt: den Begriff aufgrund dreier Beispiele von Bekenntnissen zu verurteilenswerten Inhalten, von denen eins auch noch falsch ist, gleich ausmerzen zu wollen…
Und das zeigt, was möglich ist. Wenn man Theater spielt. Mit richtigen Stücken und richtigen Schauspielern, die richtig spielen.
Theater ist nicht tot, sondern es wird nur von manchen Ideologen und Scharlatanen in Deutschland für tot erklärt (weil sie z. B. lieber Bildende Kunst imitieren oder Politaktivismus betreiben möchten). Dazu kommt der eine oder andere Meuchelversuch durch von Regie und/oder Dramaturgie hergestelltes papierenes Nicht-Theater, das Schauspieler dazu zwingt, ihren Beruf zu verleugnen, und mangels vorhandenem Stück zu nachhaltigem Publikumsschwund führt.
Hoffentlich lernt man in Deutschland dazu und korrigiert den Kurs, bevor noch mehr Theater- und Bühnenzerstörung betrieben wird. Es hängen nämlich viele Jobs, Leben und Menschen davon ab.
Statt dessen geht es in den Kommentaren um eine völlig irrelevante, längst geklärte und bereinigte Formulierungsfrage, die mit dem Thema und dem Porträtierten nicht das geringste zu tun hat.
Und genau das sagt eigentlich auch sehr viel über das deutsche Theater und alle mit ihm zusammenhängenden Debatten aus. Nur leider nichts Gutes. Man verheddert und verliert sich in Nebensächlichkeiten, während der Blick auf das große Ganze längst verloren gegangen ist. Da kann das Publikum getrost weg bleiben - im Theater und bei der Medienrezeption. Denn man versäumt wirklich nichts.