“Wir befinden uns in großer Unruhe”

26. Juni 2023. Die politische Gesamtlage in Frankreich ist angespannt, die extreme Rechte auf dem Vormarsch. Auch auf die Theater hat das Auswirkungen: In einer Region beschränkt eine rigide Kulturpolitik bereits die Meinungsfreiheit von Künstler:innen. Wie wird es für die Szene weitergehen? Ein Interview mit Joris Mathieu, Intendant des Théâtre Nouvelle Génération in Lyon.

Interview von Sophie Diesselhorst

Das Théâtre Nouvelle Génération in Lyon © Théâtre Nouvelle Génération

26. Juni 2023. Seit Monaten ist die gesellschaftliche Lage in Frankreich geprägt von Massen-Demonstrationen und Streiks – ging es zunächst um eine umstrittene Rentenreform, die die Regierung Macron im April per Präsidialdekret am Parlament vorbei verabschiedete, machen die anhaltenden Proteste klar, dass Volk und Regierung in keinem guten Verhältnis zueinander stehen. Gleichzeitig ist die extreme Rechte in Frankreich auf dem Vormarsch. In der Region Auvergne-Rhône-Alpes ist sie schon an der Regierung und profiliert sich dort über eine ideologische Kulturpolitik, die die Meinungsfreiheit von Künstler:innen und Institutionen beschneidet. Im Interview berichtet der Intendant des Théâtre Nouvelle Génération in Lyon Joris Mathieu über die schwierige Situation seines Theaters und der Theaterszene in ganz Frankreich.

nachtkritik.de:  Joris Mathieu, die Region Auvergne-Rhône-Alpes (AURA) hatte bereits letztes Jahr die Förderung für Ihr Théatre Nouvelle Génération (TNG) gekürzt – Ende April kündigte die Regionalregierung an, sie ganz zu streichen. Warum?

Das ist eine einfache und transparente, aber auch surreale Situation. Bereits im letzten Jahr hat die Regionalregierung die Zuschüsse für mehr als 140 kulturelle Einrichtungen radikal gekürzt, ohne einen Dialog mit den betroffenen Einrichtungen oder den anderen öffentlichen Geldgebern (Staat und Stadt) zu führen. Die Kürzungen wurden in der Presse angekündigt, noch bevor das Regionalparlament darüber abgestimmt hatte. Daraufhin bildete sich ein gewerkschaftsübergreifendes Bündnis, um gegen diese Praxis zu protestieren. Als Gewerkschaftsvertreter verfasste ich einen kritischen Artikel, woraufhin die Region bekannt gab, dass sie die Unterstützung für das TNG komplett streichen würde.

Das TNG wird vom französischen Staat, der Stadt Lyon und der Region finanziert. Welchen Beitrag leistet die Region?

Die Regionen sind weniger wichtige Kulturfinanzierer als in Deutschland. Die Region Auvergne-Rhône-Alpes gibt beispielsweise 1,6 % ihres Haushalts für Kultur aus, was einem Beitrag von acht Euro pro Jahr und Einwohner:in der Region entspricht. Im Budget des Théâtre Nouvelle Génération entsprach die Unterstützung der Region 6 % unseres Gesamtbudgets. Das ist nicht viel, aber wir brauchen es trotzdem.

Joris Mathieu Nicolas Boudier uJoris Mathieu, Intendant des Théâtre Nouvelle Génération in Lyon © Nicolas Boudier

Was werden Sie jetzt tun? Hoffen Sie noch, dass die Entscheidung zurückgezogen wird?

Wir rechnen damit, dass der Staat eingreift, weil die Region sich nicht an die Regeln hält. Obwohl ich ein Befürworter des Dialogs bin, hoffe ich nicht wirklich auf einen echten Dialog mit dieser rechtspopulistischen Regionalregierung, die Lügen verbreitet und deren Präsident Laurent Wauquiez (seit 2016, Union de la Droite) sich offensichtlich mit einer patriotischen Kulturpolitik für einen zukünftigen Präsidentschaftswahlkampf profilieren will.

Die Kulturpolitik von Wauquiez hat eine ideologische Dimension. Er investiert in alte Steine, das "kulturelle Erbe", und entzieht das Geld kreativen Orten, an denen Kunst von lebenden Menschen produziert wird. Gleichzeitig sind dies die Orte, an denen sich die Gesellschaft in ihrer Vielfalt präsentiert, neue Perspektiven eröffnet und Minderheiten eine Stimme verleiht. Aber er interessiert sich natürlich nicht für diese Perspektiven. Alle Empfänger von Zuschüssen der Region müssen seit März dieses Jahres eine "Charta für die Verteidigung der Werte Frankreichs und des Laizismus" unterzeichnen. Zu den 22 Maßnahmen des Textes gehören die “Förderung der französischen Sprache” mit der Aufforderung, Anglizismen und die "inklusive Schreibweise" zu vermeiden (also: nicht zu gendern). Außerdem soll "die Chancengleichheit in sehr präzisen Bereichen" gefördert und "gegen Fundamentalismen gekämpft" werden, indem Schwimmbäder keine Zeitfenster mehr nur für Frauen reservieren dürfen und auch das Tragen des Burkinis nicht mehr erlaubt ist. Institutionen, die sich nicht an diese Grundsätze halten, können die Zuschüsse von der Region gestrichen werden.

Kennen Sie ähnliche Geschichten aus anderen Regionen in Frankreich?

Auch in anderen Regionen wurden Zuschüsse für Kulturinstitutionen gekürzt, aber hauptsächlich aus wirtschaftlichen Gründen. Es gibt zwar Anzeichen für ähnliche politische Entwicklungen, aber die Region Auvergne-Rhône-Alpes ist bisher einzigartig als Laboratorium einer extremen Rechten, die die Kultur ideologisieren will.

In ganz Frankreich herrscht eine regelrechte "Demokratiekrise", die sich in autoritären Praktiken der Machthaber äußert. In unserer Region ist dies besonders krass, aber auch die Regierung Macron hat auf die jüngsten Bürgerproteste autoritär reagiert. Ohne eine Mehrheit zum Regieren wird es schwierig, demokratische Legitimität aufzubauen. Gleichzeitig radikalisieren sich alle Strömungen in der Gesellschaft, und die Möglichkeiten für einen Dialog schwinden. Wir befinden uns in einer großen Unruhe. Was wir hauptsächlich brauchen, ist, dass die politischen Parteien und die Regierung von Macron die Linien einer republikanischen Front klarer festlegen, die sie vollständig von einer ultraradikalen Rechten trennt, die die Freiheiten in unserem Land bedroht.

Die soziale Bewegung gegen die Rentenreform in Frankreich von 2023 hat die französische Gesellschaft in den letzten Monaten geprägt. Wie haben die Theater in Frankreich sich in dieser Situation positioniert?

Die Theater wurden nicht vollständig bestreikt, nur wenige Aufführungen wurden in Frankreich abgesagt, aber viele Theaterteams nahmen an den Demonstrationen teil, und in den meisten französischen Theatern wurden vor den Aufführungen Reden gehalten.

Auf Twitter ging vor ein paar Wochen ein Video viral, in dem eine Diskussion zwischen einem Schauspieler und einem Zuschauer am 1. April im Théâtre des Célestins in Lyon zu sehen ist. Der Schauspieler hält eine Rede über die Auswirkungen der Macronschen Rentenreform auf seinen Beruf, und der Zuschauer stört immer wieder, indem er ruft, dass es so etwas nicht hören will und dass er ins Theater gekommen ist um Kunst zu sehen. Gibt es viele solcher Debatten? Ist diese Situation typisch? 

Dieses Video zeigt ja vor allem, dass die überwiegende Mehrheit der Zuschauer:innen der Gewerkschaftsrede applaudiert. Es gab einige wenige Situationen in den Sälen, in denen das Publikum die Tatsache kritisierte, dass die Künstler:innen gegen die Rentenreform sprachen. Aber das war sehr selten. Beunruhigend ist, was der Mann in dem Video sagt: "Wir kommen nicht ins Theater, um das zu hören" oder "Machen Sie Ihre Arbeit und halten Sie den Mund". Wenn solche Dinge gesagt werden, bedeutet das, dass das Publikum denkt, es sei der Arbeitgeber der Künstler, die keine Meinung haben und diese auch nicht äußern sollten. Aber das Theater ist genau das Gegenteil, es ist der Ort der Debatte, es ist ein kritischer Raum. Wenn man die kritischen Räume schließt, verliert die Demokratie.

Was kann das Theater der Gesellschaft in einer solch angespannten Situation bieten? Welche Rolle spielt die Kunst Ihrer Meinung nach in einer demokratischen Krise für die Gesellschaft?

Es ist die Aufgabe von Theatern und Künstler:innen, die öffentliche Meinung gegen die Ausbreitung rechtsextremer Ideen zu mobilisieren. Dies ist eine absolute Dringlichkeit. Wir leben in einem Land, in dem die extreme Rechte zwar nicht die Wahlen gewonnen hat, ihre Ideen aber bereits einen enormen Einfluss ausüben. Das politische Gravitationszentrum verschiebt sich leider in diese Richtung. Gleichzeitig müssen wir im Dialog bleiben – auch mit denjenigen, die für diese Parteien gestimmt haben. Als Institutionen müssen wir offen sein und bleiben. Künstler:innen müssen deutliche Worte finden, aber auch weiterhin unsere Wahrnehmung für das Imaginäre öffnen. Es ist eine ständige Spannung zwischen dem Sprechen über die Realität und dem Entwickeln von Fiktionen.

Nach einem Studium der Darstellenden Künste gründete Joris Mathieu 1998 mit mehreren Mitstreiter:innen die Compagnie Haut et Court in Lyon. Seit dem 1. Januar 2015 ist er Intendant des Théâtre Nouvelle Génération - Centre dramatique national de Lyon.

 

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