Der Kreisky-Test - Brut Wien
Österreich sucht den Supersozi
von Martin Thomas Pesl
Wien | Online, 15. April 2020. Man möge ihr den Trick verzeihen, ersucht Gertrud Nesterval (Astôn Matters) in einem knisternden Filmfund aus den Sechzigern. Den Kreisky-Test habe sie alleine entwickelt, und den Fortschrittsoptimismus des großen Vorsitzenden teile sie gar nicht, aber wenn man etwas nach einer Frau benenne, interessiere sich eben niemand dafür. Der legendäre SPÖ-Bundeskanzler Bruno Kreisky spielt hier also eigentlich keine Rolle. Das utopische Paradies für wahre Sozialdemokrat*innen trägt sogar den Namen "Goodbye Kreisky".
Zwischen Stummschaltung und Galerieansicht
Nun gilt es, diejenigen zu identifizieren, die würdig sind, nach Goodbye Kreisky einzukehren und vor Neoliberalismus und Rechtspopulismus bewahrt einer besseren Zukunft zu harren. Vier Kandidat*innenpaare sind noch übrig, und 16 Tester*innen (= das Publikum) sollen ihnen in einem mehrstufigen Verfahren auf den Zahn fühlen. Denjenigen Tester*innen, die am Ende das Gewinnerpaar unterstützt haben werden, wird obendrein eine Überraschung versprochen. Das klingt komplexer, als es inhaltlich ist. Die wahre Herausforderung der Produktion "Der Kreisky-Test" ist eine technische. Denn das in der Gaming-Szene spektakulär beliebte Immersivtheaterkollektiv Nesterval entschied nach Verhängung coronabedingter Ausgangsbeschränkungen, den Premierentermin 15. April beizubehalten, den Spielort aber auf die Videokonferenz-Plattform Zoom zu verlegen.
Statt also im Wiener Studio Brut von Raum zu Raum zu gehen, wird man von einem digitalen Zoom-Room in den nächsten geschoben, schaltet auf Kommando die eigene Webcam aus oder die Galerieansicht ein, wird stummgestellt oder liest Testfragen vor, die über die Chatfunktion übermittelt wurden. Alle Performer*innen befinden sich – vermutlich – bei sich zu Hause vor monochromen Wänden, die ihre Teamfarbe anzeigen und an denen je ein gerahmtes Foto der geheimnisvollen Gertrud Nesterval hängt.
So erfährt man etwa von Blanca aus Team grau (in der erlebten Vorstellung: Rita Brandneulinger), was sie aus einem brennenden Haus retten würde. Man bemerkt die Nervosität von Jo aus Team rot (Christopher Wurmdobler) bei Fragen nach seiner Kindheit und schmunzelt über die Begründung von Dalibor aus Team schwarz (Lorenz Tröbinger), warum er Sex unter Geschwistern nicht okay findet: Der habe so etwas Narzisstisches.
Vier Vorstellungen täglich
In diesen und anderen Antworten der Kandidat*innen verhandelt sich das Themenfeld – linke Werte und der vermeintliche Verrat daran. In die Tiefe geht es nicht, aber das wäre angesichts der knackigen 80 Minuten bei allem technischen Aufwand für die Durchführenden (und das ohne Techniker*innen!) fast zu viel verlangt: Aufgrund der geringen Publikumskapazität spielt Nesterval in zwei Schichten vier Vorstellungen täglich.
Zwischen den Interviews berät man wahlweise mit einer oder mehreren anderen Personen darüber, wen man weiterlässt. Am Ende, gemeinsam im "Hauptraum" versammelt, kommt man gar noch in den Genuss eines kleinen Plot-Twists, der für einige überraschend, für andere vielleicht vorhersehbar, aber jedenfalls durchaus charmant ist. Wie das Publikum von Agatha Christies "Mausefalle" wird man schließlich darauf eingeschworen, vom Spoilern Abstand zu nehmen.
Dass das alles eine erstaunlich runde Sache ist, liegt daran, dass Nesterval-Regisseur Herr Finnland und sein Team sich geradezu demütig auf die technischen Gegebenheiten eingelassen haben. Falls das Konzept gegenüber der ursprünglich geplanten Analogversion stark abgeändert wurde, geschah das gründlich – und der "Sechzigerjahrefilm" mit Urmutter Gertrud war zum Zeitpunkt des Shutdowns glücklicherweise schon im Kasten.
Keine aggressiven Ehrgeizler*innen
Das Beste an der Übersiedelung ins Netz ist freilich, dass sie das berüchtigte Nesterval-Publikum auf Distanz hält. Im echten Leben findet man sich bei Abenteuern der Gruppe oftmals mit aggressiven Ehrgeizler*innen im selben Team wieder. Von allmächtigen Zoom-Hosts gesteuert hat dieses Publikumssegment beim "Kreisky-Test" wohlig wenige Chancen, anderen den Spaß zu verderben. Und wenn doch mal jemand mühsam ist, kann man ihm einfach das Mikro abdrehen.
Wenn also Online-Theater, dann so. Das Einzige, was sich trotzdem richtig falsch anfühlt, ist der Applaus. Knapp 20 kleine Kästchen zeigen ebenso viele Menschen, die sich alleine verbeugen, und man selbst schlägt dazu laut die Hände zusammen, ebenfalls einsam vor dem Computer hockend, und kommt sich bescheuert vor. Aber die anderen machen's halt auch. Es ist äußerst notwendig, es bald wieder in einem Real-Life-Room tun zu können.
Der Kreisky-Test
von Nesterval (Uraufführung)
Regie: Herr Finnland, Buch: Frau Löfberg, Film: Lorenz Tröbinger, Kostüm: Andy Reiter.
Mit: Rita Brandneulinger, Julia Fuchs, Bernhard Hablé, Laura Hermann, Romy Hrubeš, Niklas-Sven Kerck, Lu Ki, Astôn Matters, Pamina Puls, Andy Reiter, Johannes Scheutz, Claudia Six, Alexandra Thompson, Lorenz Tröbinger, Gankerl Walanka, Christopher Wurmdobler.
Online-Premiere am 15. April 2020
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.brut-wien.at
www.nesterval.at
Kritikenrundschau
Als "moderiertes Mitspielerlebnis am Bildschirm" stellt Margarete Affenzeller den "Kreisky-Test" im Standard (16.4.2020) vor. "Pirscht man bei Nesterval für gewöhnlich wie bei einer Schnitzeljagd frei durch ein aufwendig ausgestattetes Areal (ein Dorfgasthaus oder ein Sanatorium), so wird man nun von den unsichtbaren Spielleitern am Bildschirm verschoben und via Chat mit Aufgaben betraut." Ein Vorteil sei der Zugewinn überregionalen Publikums. "Der Bildschirmauftritt hat gewiss seine Grenzen, das Spielformat ist aber die dafür noch am ehesten geeignete Theatergattung."
"Der Dialog lebt, wie immer bei Nesterval, von der Schlagfertigkeit und dem Improvisationstalent der Akteure, allerdings raubt der Bildschirm und das starre Zeitgerüst doch viel an Spontanität", berichtet Petra Paterno in der Wiener Zeitung (16.4.2020). "Obwohl die Performer wacker versuchen, das Publikum ins Geschehen zu involvieren, bleibt man beim Online-Meeting zwangsläufig etwas außen vor."
"Der Kreisky-Test ist kein kulinarisches Theatererlebnis im herkömmlichen Sinn, aber er funktioniert als rasante Spannungsdramaturgie, die mit ihren abrupten Szenenwechseln und thematischen Sprüngen den Wahrnehmungsgepflogenheiten der digitalen Generation entgegenkommt", schreibt Thomas Miessgang in der Zeit (29.4.2020). Die Arbeit "versucht eine medienkritische Ausgangssituation mit einer politischen Agenda zu verknüpfen und so das Theater als öffentlichen Ort für gesellschaftliche Sensibilisierung in Krisenzeiten zu nutzen. Das funktioniert im Netz vielleicht sogar besser als im Theatersaal. Und so könnte die aus der Not geborene Verlagerung des Stückes auf eine digitale Konferenzplattform zur Avantgarde künftiger Aufführungspraktiken werden."
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