Die Schutzbefohlenen - Michael Thalheimer inszeniert die österreichische Erstaufführung des Flüchtlings-Stücks von Elfriede Jelinek am Burgtheater Wien mit Zeigefinger
Aus dem Kreuz gefallen
von Theresa Luise Gindlstrasser
Wien, 28. März 2015. Dieser Text ist ja viele Texte. Ist Wucherung konkreter Ereignisse ins Grundsätzliche hinein. Ist Überhöhung eines Diskurses, der sich rund um Phänomene wie Heimat, Herkunft und Hilfe windet. Ist Aischylos, Bundesministerium für Inneres, Ovid und Heidegger. Ist in der Inszenierung von Michael Thalheimer am Wiener Burgtheater vor allem Anklage. Mehrmals werden da mehrere Zeigefinger in Richtung Publikum gehalten. Ihr, ja ihr, genau ihr, seid gemeint.
Was den Anlass verschaffte
Wir, also wir in Wien, waren ja schon einmal Publikum. Das ist jetzt nicht das richtige Wort, welches ist denn ein richtiges Wort?, aber im Winter 2012 gab es einen Protestmarsch von Refugees aus dem Asylheim Traiskirchen nach Wien. Vor der Votivkirche, also total unweit des Burgtheaters, wurde ein Zeltlager errichtet. Das Refugee Protest Camp Vienna. Es ist dies ein Protest gegen den strukturellen Wahnsinn und die scheinheilige Kriminalisierungspraxis der Asylpolitik. Es werden konkrete Forderungen formuliert. Es folgt: Umzug, Übersiedelung, Räumung, Diskussionen mit Vertretenden der Politik, Solidarisierungen von AktivistInnen, Hungerstreiks, negative Asylbescheide, mediale Diffamierungen und juristische Verurteilungen.
Dieses konkrete Ereignis wuchert in Elfriede Jelineks "Die Schutzbefohlenen" eben ins Grundsätzliche hinein. Polyperspektivischer Referenzhaufen, strömender Diskurs, der niemandem gehört. Thalheimer konzentriert sich in der Weitläufigkeit des Textes auf das Wir der Schutzbefohlenen. So dominieren Klagen und Anklagen den Abend. Die Anderen, die, die über die Zukunft der Einen befehlen und vor allem sich selber und ihr vermeintliches Eigentum schützen, die existieren in Paraphrasierungen.
Für die Sängerin ein Kleid wie ein Haus
Auf der Bühne von Olaf Altmann ist es hauptsächlich finster. Ein hoher schwarzer Kasten, ein Kerker gar, der sich nach hinten verengt. Dort ein Durchgang, ein Kreuz. Hell erleuchtet und so schmal, dass die Menschen, die am Anfang auf die Bühne drängen, sich nur nach und nach durch diesen Grenzübergang zwängen. 16 schwarz gekleidete Schauspielende spuckt das Kreuz aus, vorne fallen sie im Wasser, stehen auf und fallen wieder. Eine Flut von Menschen in den Fluten des Wassers. Stehen dann alle da, gebückt, verbogen, tragen Masken aus Plastiktüten-Treibgut und beginnen zu sprechen. Manchmal als Chor, manchmal als Einzelstimmen.
Einiges kommt da zur Sprache. Die eigennützige Nachbarschaftspflege, die sich als Nächstenliebe behauptet. Die Frage nach der Mitteilbarkeit von Erlebtem. Der Ausverkauf der eigenen Biographie. Die Praxis der Blitzeinbürgerungen, der Differenzierung der Guten, die ins Töpfchen, und der Schlechten, die wieder weg, weit weg, abgeschoben werden sollen. Der sonst die Inszenierung unterspülende Klangteppich setzt irgendwann aus, und eine Sängerin, konkretes Ereignis Anna Netrebko, betritt die Bühne. Steht da in einem Kleid, das groß und prächtig ist wie ein Haus. Steht nicht im Wasser, steht vorne an der Rampe und singt von Schicksal, Leid, Freiheit und Ketten. Singt "Lascia ch'io pianga" von Georg Friedrich Händel.
Garantiert ohne Selbstanwendung
Hier wird der Abend gewalttätig. Weil, ein Zeigefinger ins Dunkel, der lässt sich ja doch recht einfach auf den Menschen im Nebensitz beziehen. Und überhaupt ist das ja ein Theaterabend, und das soll er doch auch sein, ich lehne mich also zurück und betrachte einen Zeigefinger. Aber die Tatsache, dass selbst im Kontext Blitzeinbürgerung/Asylpolitik/Ungerechtigkeit "Lascia ch'io pianga" einfach wunderschön klingt, das hat dann doch etwas mit mir zu tun. Ertappt, mein Herz schlägt für die Gänsehaut, und ach, ach diese europäische Kultur, au, da schäme ich mich jetzt. Nämlich wirklich.
Aber weiter geht es im Text, und die Wendung bleibt ein eleganter Moment unter vielen. So kommt es, dass die "Stellvertretungsproblematik" nicht eigentlich aus dem Text herausbricht. Hier wird Theater gemacht, und zwar ohne Selbstzweifel, Selbstanklage oder Selbstanwendung. Ein politischer Stoff, kein politischer Aktivismus. Wer für wen, wie, sprechen kann, darf, soll; diese Frage macht die Inszenierung nicht explizit. Nach Ende der Vorstellung stehen unten an der Treppe drei Personen und sammeln Geld für den Bildungsfond der Caritas. Also doch. Oder so.
Die Schutzbefohlenen
von Elfriede Jelinek
Regie: Michael Thalheimer, Bühnenbild: Olaf Altmann, Kostüme: Katrin Lea Tag, Chorleitung: Marcus Crome, Musik: Bert Wrede, Licht: Friedrich Rom, Dramaturgie: Klaus Missbach.
Mit: Jasna Fritzi Bauer, Sarah Viktoria Frick, Alexandra Henkel, Christiane von Poelnitz, Stefanie Reinsperger, Catrin Striebeck, Adina Vetter, Lucas Gregorowicz, Tino Hillebrand, Daniel Jesch, Marcus Kiepe, André Meyer, Tilo Nest, Thomas Reisinger, Daniel Sträßer, Stefan Wieland, Marelize Gerber, Ghazal Kazemi, Anna Manske, Monika Schwabegger.
Dauer: 1 Stunde 30 Minuten, keine Pause
www.burgtheater.at
Die Uraufführung von Die Schutzbefohlenen inszenierte im Mai 2014 Nicolas Stemann zur Eröffnung des Festivals Theater der Welt in Mannheim.
Michael Thalheimer inszeniere die österreichische Erstaufführung von Jelineks Chor-Tirade "als würdiges Palmsamstagsfest", schreibt Ronald Pohl im Standard (30.3.2015). "Ihr Auftritt, bitte: Die herrlichen Burgschauspielerinnen und Burgschauspieler trippeln durchs Wasser. Für jede(n) von ihnen ist ein Texthappen vorrätig." Das Thema laute zwar "Angst", doch auf der Bühne passiere "alles mit der größten Sicherheit. Man lüftet die Maske und spricht Text. Jelinek kehrt die Wörter und Phrasen so lange um, bis sie ihren Ungeist preisgeben. In der Burg begnügt man sich mit Textaufsagen." Diese Aufführung lasse einen "bis ins Herz" kalt.
Wie als Antwort auf Pohl schreibt Norbert Mayer in der Presse (30.3.2015), dass der "ein verhärtetes Herz" habe, der sich von diesem Abend nicht rühren lasse. Mayer hat einen "großen Abend" gesehen. "Mit fantastischer sprachlicher Artistik hat sich Elfriede Jelinek des Themas Flucht und Emigration angenommen", und Thalheimer sei "bei Jelineks großer (An-)Klage in Höchstform. Er hat wohl weit mehr als die Hälfte des Textes gekürzt, aber es scheint nichts Wesentliches zu fehlen, nein es scheint sogar eine Verbesserung zu sein. Das Ensemble treibt die Sprache im Chor zur Perfektion".
Thalheimers Methodik stelle "vor allem den Jelinek-Text selber ins Zentrum; und damit auch seine Schwächen", meint Michael Laages auf Deutschlandfunk (Zugriff 20.3.2015). "Nerviger als sonst" wirke in diesem Fall "das Jelinek-typische Gewitzel", aber die Autorin habe "halt noch nie gefallen" wollen – "und so scheitert sie im Grunde immer auch an sich selbst. Michael Thalheimers lautstarke, bildhafte Werktreue stellt keine Fragen an den Text, sucht und findet keine Haltung – die Inszenierung stärkt so, im Jubel der Sturzbetroffenen, nur Jelineks ewige Schwächen."
Elfriede Jelineks Stück sei "ein bissiger Aufschrei, eine anklagende Ungerechtigkeitssuada", schreibt Karin Cerny auf Spiegel online (Zugriff 30.3.2015). "Seit Einar Schleef" sei nicht mehr "so präzise und wütend chorisch gesprochen" worden, Thalheimer zeige, "was bürgerliches Theater noch immer kann, wenn man es ernst nimmt: den Zuschauern einen Spiegel vorhalten, und sei es nur, um sie mit ihren schlimmsten Ängsten und Vorurteilen zu konfrontieren." Thalheimer verweigere "eine gefühlige Gutmenschenhaltung, die auf Betroffenheit abzielt, aber er macht auch deutlich, dass uns postmoderne Relativierung nur bedingt weiterbringt in einer Gesellschaft, die hauptsächlich mit sich selbst solidarisch ist".
Bei Thalheimer werde "das übliche, dennoch durchaus lesenswerte Geraune aus Assoziationsketten der Jelinek auf anderthalb Stunden zusammengestutzt", schreibt Martin Lhotzky in der Frankfurter Allgemeinen (30.3.2015). "Doch kaum ein wichtiger Gedanke geht aus diesem eindringlichen, weil recht repetitiven Text verloren. Solcherart zugespitzt, wird die Anklage umso schärfer, die Klage desto lauter." Am Ende ernte "so viel spürbar wütendes Engagement (...) verdienten, tosenden Beifall."
In der Neuen Zürcher Zeitung (31.3.2015) schreibt Barbara Villiger Heilig: "Wäre es nicht verfänglich wie so manches in dem Zusammenhang, der natürlich auch die Lampedusa-Tragödie einbezieht, man müsste sagen: Thalheimer erleidet Schiffbruch." Nach zehn Minuten sei so ziemlich alles vorgemacht oder durchgespielt, was der Regisseur zu bieten habe. Niemanden im Publikum bleibe etwas anderes übrig, "als unentwegt zu nicken". Man ermüde lediglich, es stelle sich "so gar keine Traurigkeit über das überlaut heraufbeschworene Los der Migranten" ein.
Mit Formstrenge und Reduktion versuche der Regisseur das Stück zu bewältigen, so Til Briegleb in der Süddeutschen Zeitung (31.3.2015). Doch "wegen des totalen Kunstanspruchs" blieben Teile wie die Ansprache an die Burgtheater-Österreicher "natürlich eine ziemlich schmerzfreie Angelegenheit". "Der Chorvortrag durch die geliebten Burgschauspieler, der in pathetisch schwarzem Rahmen über das grausame Schicksal der Refugees berichtet, macht die Distanzierung zur eigenen Beteiligung an dem Konflikt herzlich leicht." Aus seiner Beschränkung auf Theatermittel gewinne er am Ende nur eine schlichte Aussage: "Habt Erbarmen!"
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Wie eingeschränkt muss man bitte sein um G4S oder Regiegagen oder Schauspieler die so tun als seien sie Flüchtlinge in dieser Inszenierung zu sehen?
Hier wurde ein Text der tatsächlich nur ein Text und in keiner Weise ein Stück ist (man lese bevor man Urteile) auf einen Konsens zusammengestrichen, der Text sagt etwas aus ohne mit dem erhobenen Zeigefinger zu winken. Ich glaube nicht das ein Zeigefinger je die Intension von Regisseur und Ensemble war.
Sich darüber auszulassen das Herr Thalheimer eine Gage bekommt und damit anstellt, was sein gutes Recht ist, was er will von mir aus auch ein Haus kaufen, ist wirklich unangebracht und lächerlich.
Wahrscheinlich haben sich die Schauspieler und das Team drum herum mehr Gedanken um "Schutzbefohlene" gemacht, in der Zeit der Erarbeitung des Stückes, als ihr die hier schreibt je zuvor oder jemals danach. Lächerlich sich.
Die Aufführung ist sehenswerter als so einiges am Burgtheater. Wer konservatives Theater sehen will, der ist hier falsch. Trotz allem würde ich jedem empfehlen sich selbst eine Meinung zu bilden und sich die Aufführung einfach anzusehen. Schaden tut es ja so oder so nicht.
Wuchtig, aber eindimensional kommt dieser Abend daher und stellt sich in klaren Gegensatz zu Nicolas Stemanns Uraufführungsinszenierung, die erst vor kurzem zur Eröffnung des Theatertreffens in Berlin gastierte.
Während Thalheimer seinen Abend fast ausschließlich aus der Perspektive der Flüchtlinge erzählt und die Tonlage ebenso kaum variiert wie den Klangteppich, näherte sich Stemann der Jelinek-Vorlage spielerisch aus verschiedenen Perspektiven und mit satirischem Biss. Erst dadurch fordert Stemann das Publikum richtig heraus, seine Inszenierung hinterlässt bei mir den stärkeren Eindruck.
Als der Klagechor verstummt, gleichen die Reaktionen des Autorentheatertage-Gastspiel-Publikums am Deutschen Theater Berlin den Meinungen aus der Feuilleton-Rundschau: auf der einen Seite begeisterter Applaus, ein proppenvoller Saal beim Nachgespräch und Dank an das Burgtheater-Ensemble für diese wortgewaltige Anklage; auf der anderen Seite verschränkte Arme, ermüdet von dem wütenden Wortschwall, bei dem schon nach zehn Minuten klar war, auf welchen Kritikpunkt er hinauswill.
Kompletter Text: http://kulturblog.e-politik.de/archives/25330-thalheimers-inszenierung-von-jelineks-schutzbefohlene-mit-erhobenem-zeigefinger-und-plakativen-bildern.html