Der Engel von Sibiu - Ein Stück von Lothar Trolle als Koproduktion der Theater Sibiu und Oberhausen
Der Nachtportier der Geschichte in der Stadt am Rande der Zeit
von Christian Desrues
Sibiu, 6. März 2011. Ein sonderbarer Pförtner, in seiner Loge der Zeit abhanden gekommen, vier Engel, die ihn heimsuchen, ohne dass er sie wahrnimmt. Das sind die Darsteller in Lothar Trolles Stück "Der Engel von Sibiu", inszeniert von Peter Carp, Intendant aus Oberhausen, am Teatrul National Radu Stanca in Sibiu. Sibiu-Hermannstadt, mit den mittelalterlichen Häusern, stillen Gassen, Kirchen vieler Konfessionen, ist ein weiterer wichtiger Protagonist des Werks, dessen von den Theatern in Sibiu und Oberhausen koproduzierte Uraufführung vom Fonds Wanderlust der Kulturstiftung des Bundes ermöglicht wurde. Sibiu – ein Ort am Rande, am Ende der Zeit, an der Grenze der Sprache. Uralte Geschichte trifft hier auf viele Völker und Sprachen.
Immer wieder werden Straßennamen und Orte genannt, man weiß eigentlich genau, wo man sich gerade befindet, während der Pförtner sich erinnert, erzählt. Er erzählt ja gar nicht richtig, nur Bruchstücke von Geschichten entschlüpfen ihm, dazwischen besinnt er sich, verliert vielleicht den Faden, dann springt er von einem Sujet zum anderen, aber die Sujets sind immer Menschen aus Sibiu. Und was er nicht ausdrückt, ergänzen die Engel an seiner Stelle. Sie erzählen die Geschichte "hinter den Menschen, die Geschichte hinter den Gesichtern, hinter den Fassaden", meint Lothar Trolle zu seinem Stück.
Pferd, Falke und Partisan
Etwas Traumhaftes, surreal Entrücktes entsteht hier auf der Bühne, die in ihrer weißen Schlichtheit und Eleganz der Phantasie des Zuschauers und dem Spiel der Akteure viel Platz lässt. Ein Vorhang auf der Bühne bekommt eine andere Bedeutung als ein Bühnenvorhang. Ein Mysterienspiel mit fantastischen und komischen Details wird hier wunderbar illustriert. Allein die Loge des Pförtners (Marek Jera) zeugt von seiner eigenen Enge und Bedrücktheit (Ausstattung: Manuela Freigang). Wahrscheinlich verlässt er sein enges, spießiges "Reich" deshalb so oft, um ihm zu entfliehen und um verschiedene Gegenstände zu fotografieren, zu archivieren. Wozu? Das bleibt ein Rätsel.
Vier Engel und ein sonderbarer Ich-Erzähler. In Wahrheit sind es aber viel mehr Charaktere, die das Stück bevölkern. Aus jeder Erzählung der Engel tritt eine Figur und entwickelt eine Art Eigenleben, wird zum Darsteller – sei es das Pferd, der Falke, der Partisan oder der Dachs-Schänder Ismael, um nur einige zu nennen. Peter Carp schafft es, mit seiner Inszenierung den Eindruck zu vermitteln, als befänden sich die Einwohner Sibius auf der Bühne. Und diese Einwohner sind auch nicht viel anders als Einwohner anderer mittelgroßer Städte, Menschen eben.
Das gütige Wissen um die Schwäche der Wesen
Es ist ein kompliziertes Stück, eine sprachliche Herausforderung für die Darsteller, von denen kein einziger "native speaker" der deutschen Sprache ist! Aber gerade diese Hürde meistern alle Beteiligten in geradezu virtuoser Nonchalance, als Schauspieler, denen es um das Spiel geht, fremde Sprache hin oder her! Die vier grundverschiedenen "Engel-Erzählerinnen": Johanna Adam, laut und frech und so menschlich, Iulia Maria Popa, besonders berührend in gütigem Wissen um die Schwächen der Wesen, Emöke Boldiszár, dunkel-gut und fast bedrohlich, Enikö Blénessy, divenhaft-launisch, komisch, sehr komisch! Marek Jera ist der Nachtportier, der Initiator wider Willen, Chronist einer Geschichte, die ihn überholt, der Beobachter, der verhinderte Erzähler, lästig, berührend, hilflos, scharf!
Ach ja, und dann gibt es einen fünften Engel, aber den sieht man nicht, den errät man zum Schluss! Kirchtürme, kreisende Wesen, Menschen, die beobachten, die träumen … Ergibt es überhaupt Sinn, ein deutsches Stück über eine ehemals "deutsche" Stadt zu inszenieren, zu schreiben, eine Stadt am Rande der Zeit, an der Grenze der deutschen Sprache? Lothar Trolle gibt keine Antwort auf diese Frage, Peter Carp auch nicht!
Solange die Engel kreisen …
Es gibt Hommagen an viele rumänische Dichter und Künstler, das muss man aber nicht vor Augen haben. Hier entsteht langsam eine Geschichte auf der Bühne, es beginnt mit Fragmenten, doch die Geschichte war immer da, die Schauspieler erzählen nicht nur, sie sind die Geschichten! Die Zuschauer sind aus Sibiu, keine Engel, aber zahlreich. Und einige wissen auch noch, dass sie einmal Hermannstädter waren.
Aber solange Engel über uns kreisen und wachen, kann das ja nicht so wichtig sein.
Der Engel von Sibiu (UA)
von Lothar Trolle
Regie: Peter Carp, Bühnenbild und Kostüme: Manuela Freigang, Dramaturgie: Tilman Raabke.
Mit: Marek Jera, Johanna Adam, Iulia Maria Popa, Emöke Boldizsár, Enikö Blénessy.
www.sibfest.ro
www.theater-oberhausen.de
2007 gastierte das Teatrul National Radu Stanca beim Heidelberger Stückemarkt mit Fritz Katers zeit zu lieben, zeit zu sterben.
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schade, dass Hermannstadt bewohnt ist...Sonst wäre das Stück ein echter Knaller gewesen...
Beatrice Ungar
Chefredakteurin
Hermannstädter Zeitung (die gibt es tatsächlich)
Ich habe am ersten Tag meines Aufenthalts in Hermannstadt gleich Ihre Zeitung gekauft und mit Interesse gelesen. Ich war zum ersten Mal in Ihrer Stadt, hatte aber sofort das Gefühl, sie zu kennen. Mein Grossvater kam von da, und hat mir viel erzählt. Kurz, ich bin begeistert und werde sicher wieder kommen. Ich habe eine Kritik über ein Theaterstück verfasst, nicht über eine Stadt und ihre Einwohner. Das würde ich aber gerne tun, vielleicht in Zusammenarbeit mit Ihnen, wenn Ihnen das recht ist! Die Tageszeitung "der Standard" in Wien wäre interessiert. Mit freundlichen Grüssen aus Wien, C. Desrues