Es ist nicht deine Schuld, dass das Leben nicht gelingt - Im Theaterdiscounter therapiert Malte Schlösser das postmoderne Überbewusstsein mit René Polleschs Arztkoffer
Therapie für Großstadtneurotiker
von Sophie Diesselhorst
Berlin, 26. November 2015. Und dann ist wirklich wieder alles wie vorher. Das Licht ist an, die Tür ist offen, Hildegard Knef schmalzt vor sich hin wie schon beim Einlass, und die Leute kramen mit ihren Jacken rum und gucken auf ihre Telefone.
Das Leben nach dem Abstrampeln
Dabei haben wir doch alle zusammen gerade einen erhebenden Moment erlebt! Drei Vorhänge mussten fallen in Malte Schlössers "Es ist nicht deine Schuld, dass das Leben nicht gelingt" und zahlreiche Überbewusstseins runtergeholt werden – bis es auf einmal als Riesen-Überraschung kam, dass die Orchester-Musik, die über die letzte Viertelstunde angeschwollen war, von einem einzigen Mann mit einer Geige und einer Loop-Machine gestammt hatte. Von einem echten Musiker, der Töne macht, man kann ihm dabei zugucken, die Töne gleichzeitig hören und diesen Zusammenhang intuitiv begreifen, und es ist wundersam, dass es so etwas leicht Verständliches, so etwas Reales auf dieser Welt noch geben kann.
Kurz vorher war noch glasklar gewesen, dass die Rettung nur darin bestehen kann, in die Natur zu gehen und ihr mit streng ritualisierter Künstlichkeit zu begegnen – in einem langen Video hatte Lars Rudolph als Wirklichkeitsdeserteur in altmodischer militärischer Uniform qua meisterhaft artikulierter melancholischer Selbstverlorenheit den Rest des Ensembles in den Herbstwald gelockt, als letzten Ort, wo Bedeutsamkeit fingiert werden kann. "Das Leben nach dem Abstrampeln, das Leben, von dem man glaubt, dass die anderen es leben", ersehnt Rudolph hemmungslos, während er in Zeitlupe mit den Augenlidern flattert – beschwört, romantisiert es, auf dass kollektives Vergessen sich über diese Fixierung breite.
Wessen Diskurs ist das hier eigentlich?
Der Abend im Berliner Theaterdiscounter beginnt mit einem goldenen Pferd, das vor einer blauen Vorhangattrappe mit künstlicher Patina und einer Stummfilmklavierattrappe an der Seite Marx deklamiert. "Ich bin Eigentümer meiner Arbeitskraft." Rein nostalgischen Wert hat diese erste Episode, das wird in den folgenden völlig klar gemacht: Glauben können wir nur noch was anderes, und wir wissen aber noch nicht, was.
Auf der Suche danach ist es zunächst am einfachsten, an gar nichts mehr zu glauben und alles zu dekonstruieren – diese Aufgabe fällt den beiden Akteurinnen von Episode Zwei zu (insgesamt sind es fünf), die sich zunächst virtuos die Bälle zuspielen in ihrer Selbstmüdigkeitsklage. "Früher gab es Fremdausbeutung, heute habe ich sowas wie mein beschissenes Selbst. Es gibt keine Feinde mehr", echauffiert sich die "postauthentische, kritische, ein wenig radikale, obskure, auf jeden Fall gegenwärtige" Hipsterin, die sich für ihre Rolle als Verwundete fertig gemacht hat, indem sie eine Flasche Kunstblut über sich ausgegossen hat. "Ich muss einen Schuldigen finden", ist die andere in hellrosanem Rüschen-Glitzerkleid und hellblonder Perücke fixer und geht zum Angriff über. Den Rest des Textes sprechen beide zusammen und wollen dabei einander übertönen. Wessen Diskurs ist das hier eigentlich?
Griff in die Pollesch-Trickkiste
Diese Frage wird weiter gestellt und in der nächsten Episode ganz überraschend beantwortet, als zwei etwa zwölfjährige Mädchen von den abgewrackten Frauen übernehmen und vor Neumann'schem Glitzerlametta-Vorhang vorführen, wie man Neugier statt Misstrauen anwenden kann, um sich von seiner postmodernen Identitätsverwirrung zu distanzieren. Sie verabschieden sich mit einer übermütigen Delfin-Choreografie – schwimmen voller Begeisterung auf dem Trockenen. Spätestens hier wird klar: Dieser bündige Abend ist eine vollkommen ernstgemeinte Therapiesitzung für Großstadtneurotiker. Und äußerst bewusst hat Malte Schlösser dafür in die Pollesch-Trickkiste gegriffen und die zahlreichen Zitate kunstvoll in seine eigene Erzählung eingebettet – als Vorband ist diese Kombo definitiv zu schade.
Kurz ist der erhebende Moment zum Schluss übrigens doch angemessen gewürdigt worden; von der Inszenierung selber, die endete mit den erstaunten Worten "Holy moly", in den Bühnenhimmel gekrakelt von einer Lichterkette.
Es ist nicht deine Schuld, dass das Leben nicht gelingt
von Malte Schlösser
Regie: Malte Schlösser, Dramaturgie: Anna K. Becker, Bühne und Kostüm: Prisca Baumann, Filmcrew: Alexander Malecki, Patrick Burghenn, Konstantina Levi, Zine Lackner, Olivia Reber, Nihal Ünsal, Ivy Pepper Joi, Licht: Patrick Hunka, Ton: Benjamin Lemme.
Mit: Lars Rudolph, Marie Gramss, Martin Sommer, Carolin Wiedenbroeker, Ch. Mäcki Hamann, Pauline Deupmann, Cecily McKechnie.
Dauer: 1 Stunde 20 Minuten, keine Pause
www.theaterdiscounter.de
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Großartig sich in den Texten wieder zu finden, die sich bei all ihrem Ernst, Kryptik und Wahrheitsgrad nie gänzlich für voll nehmen können.
Großartiges Plädoyer fürs Sein!
Großartiger Einsatz der verschiedenen Medien. "Unterhaltungsgrad"
Toll das Theater so viel Spaß und Sinn zu gleich machen kann.
Die kalte Wahrheit klang selten so schön!
Geil das die physische Nacktheit auch mal mit Abstand der langweiligste "Teil" des Abends sein kann…
Das wäre was für viele Leute da draußen die bei den Wörtern Theater oder Jazz instand-Pickel bekommen
Weiter so!!!
Sehts euch selbst an, es lohnt sich!
Daher steht vor allem, vor allen sich öffnenden Vorhängen, folgende Gnosis aus Marx‘ Mund: der Kapitalismus ist mitnichten nur ein System, das unser Wirtschaften administriert und Teile unseres menschlichen Lebens regelt, sondern eines, das unser gesamtes menschliches Sein bestimmt. Kapitalismus steht und verstehe ich hier synonym für Entfremdung, Verschleierung, Quasi-Sein, Versprechen und die Verzeitlichung von Sehnsüchten.
Die zeitgenössische Philosophie kommt ohne die Psychologie nicht aus. Wir fragen nicht mehr nur wie der Mensch die Gesellschaft generiert, sondern fragen auch, was diese Gesellschaft dann mit dem Subjekt macht, welchen Menschen sie generiert und wie der wiederum auf seine Welt zurückblickt und sein Leben gestaltet und unter welche Kriterien er es stellt (nämlich, warengleich, unter bewertende).
In diesem Stück werden mehrere Vorhänge geöffnet. Vor allen steht unser gesellschaftlich ökonomischer Seinszustand. Dahinter steht unser aktuelles, seiendes Ich und fragt sich, probiert und spielt und verzweifelt mehr als dass es zweifelt. Dahinter steht das Kind, das Erinnerte in uns, auf das wir fragend zurückblicken, das wir befragen und dass von unseren Vorstellungen zugerichtet und als Kind kaum erkennbar ist. Beim Zuschauen hält man es kaum aus die beiden Kinder nicht spielen zu sehen. Aber der erwachsene Jargon klingt aus ihren Mündern natürlich dadurch umso deutlicher. Der Film zeigt die Zukunft unserer Wünsche: Wie können wir glücklich werden? Welches Leben wäre ein gelingendes?
Und unter allem liegt das verletzliche unmittelbare Ich, der, mit Peter Licht gesprochen, unpfändbare Rest unserer Herzen, dargestellt durch ein Livemusikstück, das keine Bilder mehr hat und seine Eindeutigkeit und Fragilität spürbar (in diesem Fall hörbar) macht. Auch dieses letzte bildlose Bild ist nicht ungebrochen: wir sehen den Musiker, und sehen ihn zwischen Laptop und Instrument wechseln, Stimmungen vom einen ins andere Element übertragen und uns unsicher machen, welcher Ton eigentlich der eigentliche ist.
Ein sehr eindrückliche und emotional Zeichnung des philosophischen Diskurses, dargestellt am ganz persönlichen Zweifel und durch das Stück getragen von der versinnbildlichten Sehnsucht nach Unmittelbarkeit, Freiheit und gelingendem Leben – dem Pferd.
(übrigens empfinde ich Pollesch als wesentlich abgeklärter und habe ihn noch nie so weich und diskursiv erlebt. aber das nur am Rand.)