Elektra - Ulrich Rasche inszeniert Hofmannthals psychoanalytische Deutung des Mythos am Residenztheater München als gigantische Verstandes-Maschine
Geister des Maschinellen
von Maximilian Sippenauer
München, 15. Februar 2019. Neun Tonnen Stahl, hieß es im Vorfeld martialisch, seien für Ulrich Rasches "Elektra" verschweißt worden. Neun Tonnen schwarzer Stahl. Das Bühnenbild eine einzige kolossale Maschine, eine Säule Dunkelheit. Kopf dieses Gitterzylinders ist ein Käfig, der sich hebt und senkt. Darunter gefangen, auf einem meterhohen Schaft, ein gewaltiger Diskus, der sich dreht und verkantet. Auf dieser Scheibe angekettet schreitet ohne Unterlass das Ensemble in schwarz und grau, zwei Stunden lang, in monotonem Rasche-Sprech Hofmansthals Sophokles-Nachdichtung in Silben zerkauend. Begleitet von einem bombastischen Soundtrack aus Geigen und Cello, Bass und Trommeln. Wie immer bei Rasche ist auch dieses Stahlgewitter ein fragwürdiges Spektakel der Überwältigung. Denn wie immer steht und fällt auch diese Inszenierung mit der Frage: Wie gut korrespondieren Effekt und Inhalt?
Der Elektra-Mythos ist das Schlusskapitel der "Orestie". Domiziler Nachklapp dieser never ending Blutrachegeschichte im Atriden-Clan. Zuletzt hatte Klytämnestra ihren Gatten Agamemnon im Bade mit einer Axt erlegt. Nicht ohne Gründe: Hatte sie sich im Verlauf der langwierigen Trojaschlacht mit Ägisth einen potenten Gemahlsersatz zugelegt. Und hatte ihr Agamemnon doch im Vorfeld des Krieges die gemeinsame Tochter Iphigenie den Göttern geopfert. Zwei ihrer weiteren Kinder aber, Elektra und Orest, können die Ermordung des Vaters nicht verzeihen. Sie schwören, ganz atridenstur, Rache. Vor allem die Tochter Elektra kultiviert in ihrem Schmerz einen brunnentiefen Mutterhass, dem schließlich Klytämnestra zum Opfer fallen wird. Im Mythos appariert dann, Deus ex machina, Apollon und setzt qua Gegenzauber dem verfahrenen Zirkel der Blutrache ein Ende.
Gefangen im Stahl, gefangen im Hass
Anfang des letzten Jahrhunderts, also mitten im Hype um den freudschen Modebegriffe der Hysterie, versuchte sich Hugo von Hofmannsthal dagegen an einer psychoanalytischen Interpretation des Stoffes und lässt seine Figuren im Gezeitenspiel zwischen Es und Über-Ich ersaufen.
Rasche spitzt diese zwischen neoklassizistischem Sittenbild und psychoanalytischem Identitätsmodell unentschiedene Nachdichtung in seiner Streichfassung zu. Der ganze Hofstaat fällt weg, genauso Ägisth und damit die libidinöse Überbetonung der Klytämnestra. Der Schlussauftritt Orests ist fast beiläufig.
Übrig bleiben vor allem drei Frauen: Elektra, Klytämnestra und die andere Tochter Chrysothemis. Alle drei gefangen in eigenen Logiken: Des Hasses, der Selbstgerechtigkeit, des Sich-Arrangierens. Darin konfrontiert mit den Dämonen des Erinnerns und Verdrängens. Rasche macht diese Konstellation noch deutlicher, indem er die essentiellen Gedankengänge der drei Frauen durch einen Chor beschwörend wiederholen lässt.
In dieser Zuspitzung funktioniert das megalomanische Bühnenkonzept hervorragend. Der Geist aus der Maschine kehrt zurück als Geist des Maschinellen.
Großes Crescendo
Und diese Maschinerie ist das begrenzte Zahnräderwerk der menschlichen Ratio. Ein Gefängnis, in dem die Figuren notwendig Kreise laufen, in ihren Rechtfertigungsschlüssen leere, tragische Schleifen drehen. Denn alle drei Frauen revoltieren aus unterschiedlichen Positionen gegen die Ökonomie ein und derselben Sprache, erfolglos freilich, weil sie allesamt in deren Mechanismen und Grammatik gefangen sind.
Das klingt etwas konzeptionell und ist es auch. Rasches Elektra gleicht einer stahlgewordenen Metaebene. Und wie so oft bei ihm nutzen sich diese absolute Reduktion der Mittel, also das monotone Im-Kreis-Schreiten, das litanei-zähe Deklamieren der Repliken, das permanente Wummern der Musik, die sich ständig in einer Crescendo-Bewegung zwischen spannungsgeladenem Piano und spannungsentladendem Fortissimo bewegt, nach einiger Zeit ab.
Dass man als Zuschauer von dieser rotierenden Scheibenwelt trotzdem gebannt bleibt, liegt an den Schauspieler*innen. An einer unglaublichen Katja Bürkle, die sich als Elektra den Hass aus der Seele geifert und zittert, jedes ihre Worte in tiefster Verbitterung von der manchmal fünf, sechs Meter hohen Bühne spuckt. An den wenigen Momenten, in denen Elektra und Klytämnestra, gespielt von Juliane Köhler, Elektra und Chrysostemis, Lilith Häßle, sich mit den wenigen verblieben Mitteln begegnen. Eine kurze Berührung, ein Zuwenden des Blickes, ein Heran- und Davonschleichen. Sie erschaffen drei dunkle Frauenschicksale, Rasches Bühnenmaschine unterworfen, die sie reden, aber nicht handeln lässt.
Konsequentes Theater
Daraus einen feministisch-emanzipatorische Subtext abzuleiten, wie ihn das Programmheft suggeriert, ist übertrieben. Dazu ist Rasche textlich doch zu nah an Hofmannsthal. Dennoch ist dieses Stück durch und durch konsequentes Theater. Am Ende, als Elektra in Wahnsinn irrlichtert, erinnert das musikalische Leitmotiv an eine wagnerianische Groteske der Ode an die Freude. Götterdämmerung für das Happy End aus der Maschine und Abgesang auf die Vergötzung des menschlichen Verstandes. Damit hat Rasche zwar keinen neuen Beitrag zum Rationalismusdiskurs geleistet, dafür aber ein überwältigendes Beispiel für den aporetischen Status Quo der Postmoderne.
Elektra
von Hugo von Hofmannsthal
Regie und Bühne: Ulrich Rasche, Komposition und musikalische Leitung: Monika Roscher, Co-Bühnenbild: Franz Dittrich, Kostüme: Romy Springsguth, Licht: Gerrit Jurda, Live Musik: Mariana Beleaeva, Heiko Jung, Juri Kannheiser, Fabian Löbhard, Alexander Maschke, Jenny Scherling, Chorleitung: Jürgen Lehmann, Dramaturgie: Sebastian Huber.
Mit: Katja Bürkle, Juliane Köhler, Thomas Lettow, Lilith Häßle, Marie-Joelle Blazejewski, Marie Domnig, Giulia Goldammer, Tenzin Kolsch, Justus Pfankuch, Yannik Stöbener, Klara Wördemann, Maria Wördemann.
Premiere am 15. Februar 2019
Dauer: 2 Stunden, keine Pause
www.residenztheater.de
Aus Rasches Theaterabenden komme man anders heraus, als man hereingekommen sei, notiert Simon Strauss in der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (18.2.2019). "Die unerbittlich kreisende Drehbewegung dringt in einen ein und bringt das Gemüt aus dem Gleichgewicht. Man fühlt sich angezogen und abgestoßen von dem kompromisslosen Drang zu Wucht und Wirkung". Auch bei Hofmannsthals "Elektra" konzentriere sich Rasches Inszenierung ganz auf die "brutale Bewegung" und das "harte Sprechen". Irgendwann verlören die eindrucksvollen Auftritte der Schauspieler*innen jedoch ihre Wirkung: "Bei aller visuellen Erfahrungswucht, die man hier erfährt: Man sehnt sich nach einem schnellen Flüstern, einem verbundenen Satz."
Cornelia Fiedler fragt sich in der Süddeutschen Zeitung (18.2.2019): "welche Rolle spielt in diesen Apparaten eigentlich der Mensch?" Rasches Maschinenräume sollten "denpolitisch wache Zuschauer anregen, Einspruch einzulegen." Aber dafür der ewige Kreis-Lauf lulle das Publikum "zu professionell" ein: "Widerstand ist zwecklos!" So bleibe von "Elektra" das Menschenbild, dass jeder unausweichlich Teil der Maschine sei. "Die Zumutungen einer Gesellschaft, die nur Gewalt als Lösung kennt, sind hinzunehmen. Politisch ist das Fatalismus pur."
Rasche habe "Elektra" in eine übergroße Büchse der Pandora gesetzt, schreibt K. Erik Franzen in der Frankfurter Rundschau (17.02.2019, 15:43 Uhr), in einen martialischen "Endzeit-Rundturm". Die Inszenierung fokussiere mit ihrer "Mischung von Minimalismus und Monumentalität im Gestus auf das, worum es geht": darum nämlich, Fragen über Opfer und Selbstaufgabe, Rache und die menschliche Natur zu stellen. Und nicht zuletzt hat die "weibliche Konfiguration von Rasches dominanter (nicht selten männlichkeitsbetonter) Ästhetik" den Autor überzeugt.
"Ein Fall, wie gemacht für eine Familienaufstellung" sagt Sven Ricklefs im Deutschlandfunk (16.2.2019) über Hofmannsthals "Elektra". In seiner Inszenierung benutze Rasche den Chor, "um jene Stimmen zu verstärken, die in manisch drängenden Loops durch das Hirn seiner Elektra kreisen." Im Zentrum des Abends stehe jedoch die "Elektra der fulminanten Katja Bürkle", wie "sie ihre Familie sprachlich mit glasklarer Härte durch ihr gemeinsames Schicksal peitscht und dabei zugleich nie die sensible Verzweiflung dahinter vergessen lässt." Urlich Rasche selbst gelinge es, "in die psychoanalytischen Tiefen von Hugo von Hofmannsthals Stück einzudringen", schließt Ricklefs begeistert: "ein großes Ereignis."
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die Handschrift von Ulrich Rasche.
Auf einem gigantischen Stahlgerüst, das der Rampe in den Räubern
in nichts nachsteht, lässt er die Atridenfrauen samt Orest und Chor vorwärtsstampfen und deklamieren. Zwei Stunden und zehn Minuten lang - ohne Unterlass. Auf die Dauer ist das ermüdend, doch die grandiosen Schauspieler erhalten die Inszenierung am Leben.
Höhepunkt: Die Szene, in der sich Elektra und Orest wiederFINDEN !
Wohl dem, der solche Schauspieler auf seine monströsen Maschinen schicken kann.
Alleine der Moment, als der Blick auf Juliane Köhlers Klytämnestra freigegeben wird, ist ein Theater-Wunder und das Ticket wert. Und dennoch: Trotz des Bühnen-Spektakels bekommt auch das pure Drama seinen Raum. Für manche mag es „langweilig“ oder „immer das Gleiche“ sein - ich jedenfalls bin froh um jeden Ulrich Rasche-Abend. Auch hier bei „Elektra“ sind die einzelnen Figuren und deren Konflikte verbindlich herausgearbeitet, der Text ist sinnvoll bearbeitet und wird großartig gespielt. Ich weiß auch gar nicht, was man in den Abend fälschlicherweise „hineininterpretieren“ soll, wie hier in den Kommentaren angemerkt wurde. Für mich ist es, um Herrn Sippenauer zu zitieren, „konsequentes Theater“.
Dann möchte ich doch auch etwas beobachtet haben, natürlich ebenfalls ganz objektiv: Mir ist schleierhaft, was das Tonleiterpingpong und der rhythmische Dauerschluckauf ("Ha! Ha! Ha! Ha!") bei Die Räuber mit Komplexität zu tun haben soll. Darüberhinaus wird mir der Zusammenhang zwischen Komplexität und Qualität nicht ganz klar. Ich jedenfalls war froh, dass in Elektra musikalisch endlich mal wieder ein harter Wind aus Wut, Hass und Wahnsinn über die Bühne des Residenztheaters fegen durfte.
(Liebe/r nell,
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jnm / für die Redaktion)
Auffällig bei dieser „Elektra“ ist, dass sich langsam ein Abnutzungs-Effekt einschleicht. Ulrich Rasches Überwältigungstheater mit großen Maschinen, die erbarmungslos vor sich hin walzen, und den kleinen Menschlein, die auf den sich hebenden und senkenden Bühnen gegen ihr Schicksal anschreien, hat sich zu einer Marke mit hohem Wiedererkennungswert entwickelt.
Trotz der diesmal erstaunlich kurzen Länge von nur zwei Stunden stellt sich öfter ein Déjà-vu-Effekt ein, das alles so ähnlich schon mehrfach gesehen zu haben. Für Rasche-Neulinge ist der Abend sicher ein Erlebnis, für Rasche-Kenner fügt sich die „Elektra“ recht überraschungsarm ins Gesamtwerk ein.
Dass der Abend dennoch funktioniert, liegt an starken Schauspieler*innen, die sich eindringliche Duelle liefern.
Komplette Kritik: https://daskulturblog.com/2019/04/25/elektra-ulrich-rasche-residenztheater-kritik/