Ljod - Das Eis - Die Trilogie - Staatstheater Mainz
Nazis auf LSD
von Esther Boldt
Mainz, 26. April 2019. Die blonden, blauäugigen Übermenschen sind los: nachts ziehen sie durch Bars und Clubs, sie zerren andere Blauäugige in den Schatten, fesseln und knebeln sie, um ihnen mit einem Hammer aus Eis die Brust aufzuschlagen und eine seltsame Beschwörungsformel zu murmeln: "Gib Antwort! Wie lautet dein Name?" Und wenn welche zu ihnen gehören, werden sie dieses Attentat überleben, werden gewissermaßen das Sterben durchschreiten und eine Wiedergeburt erleben – während alle anderen schlicht verrecken. Aber das macht ja nichts, sind sie doch bloß seelen- und leblose "Hohlkörper" und "Fleischmaschinen".
ErlösungsfantasieEishammerSpiel als große RockRöhrenShow: Simon Braunboeck und Mark Ortel © Andreas Etter
In seiner ab 2002 erschienenen Trilogie "Ljod – Das Eis", "Bro" und "23.000" erzählt der russische Autor Vladimir Sorokin die schräge Story einer Geheimgesellschaft vermeintlich Auserwählter, die sich recht grausam ihren Weg durch das 20. Jahrhundert bahnt mit dem Ziel, die Erde von ihrem Übel zu befreien: Von den Menschen, diesen Fehlschöpfungen, die sich gegenseitig bekriegen und ihre Umwelt zerstören, weil sie nicht die Sprache des Herzens sprechen. Dabei schillert die Trilogie zwischen Satire und Esoterik, Groschenroman und Epos, Science- und Pulp-Fiction – und wird doch rezipiert als ein Bild des heutigen Russland, das tief gezeichnet ist von den Massenvernichtungen und historischen Umwälzungen des 20. Jahrhunderts. Jan-Christoph Gockel hat die über 1000-seitige Trilogie jetzt am Staatstheater Mainz inszeniert, angekündigt als fünfstündiger "Theatermarathon", der Autor selbst sah auch dabei zu.
Theater-Bingewatching
Überall greift derzeit das Theater nach den großen Erzählungen, die es ganz offensichtlich nicht den Streamingdiensten überlassen will: Das Nationaltheater Mannheim startete jüngst sein Unterfangen, die Romantetralogie Meine geniale Freundin von Elena Ferrante in zwei Teilen auf die Bühne zu bringen, in Frankfurt steht derzeit an zwei Abenden Eric de Vroedts Miniserie The Nation auf dem Spielplan, und in Mainz wird nun also Sorokins "Das Eis" in sechs "Folgen" zerlegt, um zum Theater-Bingewatching zu verführen.
Ist "Eis" und russisch und sieht doch aus wie Wagner und "Tristan und Isolde": Mark Ortel und Gesa Geue © Andreas Etter
Ein ambitioniertes Unterfangen, bei dem Gockel aus dem Vollen schöpft: Der erste Teil "Ljod. Das Eis" kommt tatsächlich in cooler, spannungsreicher Serienästhetik daher, mit zahlreichen Live-Kamera-Einsätzen auf einer schlichten, wandelbaren Containerbühne (Julia Kurzweg). Hier werden die gewaltsam "Erweckten" eingeführt in die "Gemeinschaft des Lichts", die ihren eigenen, kruden Schöpfungsmythos pflegt, die sich vegetarisch ernährt und sexuell enthaltsam lebt – sich aber zu ekstatischen Treffen zusammenfindet, wo diese "Auserwählten" ihre nackten Oberkörper aufeinander pressen, um ihre vom Eishammer erweckten Herzen miteinander sprechen zu lassen: Hier gelingt der Inszenierung ein steter Grenzgang zwischen Ekel und Faszination, der ein einfaches Abtun der elitären Sekte unmöglich macht.
Debattierend durch die Tundra
Der zweite Teil "Bro" reist zurück zum Beginn des 20. Jahrhunderts. Er nimmt sich erstmal aus wie eine Tschechow-Parodie, mit Männern in hellen Anzügen (die fliegend den Wechsel vom Bourgeois zum Genossen unternommen haben), die debattierend und dinierend im Zug Russland durchqueren, um einen mysteriösen Meteoriten zu bergen – aus dessen kosmischem Eis später die Eishämmer gefertigt werden. Den Meteoriten findet ein Mathematikstudent, der künftige Sektenführer Bro, mit fiebrigem Irrsinn gespielt von Vincent Doddema, der nach seinem Erweckungserlebnis schreiend komisch an der Rampe steht und verkündet, er durchschaue nun die Welt und das Mysterium liege offen vor ihm – "aber wo?".
A la Tschechow aber auf dem Weg zum Meteoriten: Simon Braunboeck, Leoni Schulz, Sebastian Brandes, Monika Dortschy, Johannes Schmidt © Andreas Etter
Schließlich schwingt sich das Spiel empor zu einem Ensemble-Tänzchen in Naziuniformen, das Leni Riefenstahls Choreografien der Macht vielleicht kostengünstig, aber doch sehr witzig persifliert. Scheinbar leichterhand gelingt es Gockel und dem bestens aufgelegten Ensemble, die herausfordernde Vielschichtigkeit der Romane auszuspielen, ihre Ambivalenzen und Verweisebenen, die grausamen, unheimlichen Herrenmenschenfantasien und die ganz alltäglichen Sinnfragen eines von Leid und Langeweile durchwebten Lebens Seit an Seite zu stellen – Sinnfragen, denen diese Fantasien ja durchaus auch entspringen. Nahezu gruselig ist die Figur der Chram, eines "erweckten" russischen Mädchens, das mit blitzenden Augen loszieht, um ihre "Brüder" und "Schwestern" zu finden – 23.000 an der Zahl sollen es sein. Sowohl Leoni Schulz als auch Monika Dortschy spielen diese von ihrer Mission durchdrungene, ja besessene Chram mit einer furcht- und mitleidlosen Konsequenz, die einen erschauern lässt vor den Möchtegern-Übermenschen dieser Welt.
Eilig, spaßig
Allein der dritte Teil "23.000" gerät dann doch sehr knapp: In weniger als einer Stunde steuert der Abend zielstrebig auf sein Ende zu, wenn die 23.000 "Geschwister des Lichts" endlich vereint und ein kosmischer Lichtstrahl sein werden. Da galoppiert Gockel etwas eilig durchs Narrativ, der Faden geht verloren und Ermüdung setzt ein angesichts der aufgehäuften Heilsversprechen. Nichtsdestotrotz ist "Ljod – Das Eis – Die Trilogie" ein ehrgeiziger und großer, bildstarker und eigensinniger Theaterspaß, den neun Schauspieler*innen hervorragend stemmen.
Ljod - Das Eis - Die Trilogie
nach Vladimir Sorokin. In einer Theaterfassung von Jan-Christoph Gockel
Mitarbeit: Rebecca Reuter, Bernd Ritter
Regie: Jan-Christoph Gockel, Bühne: Julia Kurzweg, Kostüme: Dorothee Joisten, Musik und Hörspiel: Matthias Grübel, Livezeichnungen: Seda Demiriz, Video Gestaltung: Christoph Schödel, De-Da Productions, Vanessa Dahl. Live Video: Vanessa Dahl, Licht: Frederick Wolleck, Dramaturgie: Rebecca Reuter.
Mit: Sebastian Brandes, Simon Braunboeck, Vincent Doddema, Monika Dortschny, Gesa Geue, Fiona Metzenroth / Lotta Yilmaz, Mark Ortel, Johannes Schmidt, Leoni Schulz.
Premiere am 26. April 2019
Dauer: 5 Stunden, zwei Pausen
www.staatstheater-mainz.de
Kritikenrundschau
"Mutig und reizvoll" findet Eva-Maria Magel von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (30.4.2019) den Abend. Bei aller Brutalität seien Vladimir Sorokins Romane auch Satire: "Ein Versuch, den Irrsinn der Menschheitsgeschichte in einer noch irreren Story, einer Mischung aus Science-Fiction, Schnulze, Thriller und Parodie zu bergen." Dabei vergingen die fünf Stunden wie im Fluge. In der Pause gebe es zwar Borschtsch, "aber keinen Wodka. Schier besoffen von den Bildern ist man am Ende trotzdem. Schon das allein ist eine Kunst."
Johanna Dupré schreibt in der Allgemeinen Zeitung (29.4.2019) aus Mainz: "Sitzfleisch und eine gewisse Irrsinnstoleranz" sollten die Zuschauer*innen ins Theater mitbringen. "So einiges Wahnwitziges" komme im Lauf der fünf Stunden auf die Bühne. Obwohl Sorokin und Gockel es einem nicht leicht machten, eine "durchgängige Interpretation für das Treiben" zu finden, sei es doch "evokativ", oft auch "mitreißend oder witzig". Das "Mammutprojekt" besteche durch "Ideenreichtum" und ein "spielfreudiges Ensemble".
Andreas Pecht schreibt in der Rhein-Zeitung (29.4.2019): "Sorgsam gesetzte Wechsel" und "Verknüpfungen unterschiedlicher Darstellungsarten" hielten die Zuseher auch über die lange Strecke in Bann. "Inhaltlich interessant" werde das Geschehen durch den "Umstand", dass es "Parteiergreifen" unmöglich mache. Hoffnung lasse das Stück keine, die "Grundmetapher der menschlichen Herzlosigkeit" führe auf der Bühne in den "Nihilismus". Doch rufe Gockel auch zur Widerständigkeit auf. Ein Wechselbad, dessen Sinn sich nicht immer erschließe, das man gleichwohl gespannt verfolge und das statt "plakativer Lösungen" reichlich kontroverse Diskussion mit auf den Weg gebe.
"Die ersten zwei Stunden sind eine Eishammer-Horror-Show. Das strapaziert, ist aber wohl allemal kongenial zur Vorlage", berichtet Sylvia Staude für die Frankfurter Rundschau (3.5.2019) und gibt zu Protokoll, dass der Abend für sie vor allem gegen Ende immer weniger funktioniert. Nach der ersten Pause herrsche "Ironie und Leichtigkeit"; nach der zweiten offenbare sich, "dass Sorokin seine Ljod-Heilsbringer dann doch irgendwie auch ernst zu nehmen scheint, dabei einen banalen Weltenrettungs-Text produziert. Und Gockel gibt dem Bombast nach, Satz für Satz".
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