Der Bundesbürger (the jürgen w. möllemann story) - Theater Münster
Freier Fall
von Kai Bremer
Münster, 9. Januar 2020. Die Erinnerung an den 2003 verstorbenen FDP-Politiker Jürgen W. Möllemann verblasst nur allmählich in Münster, wo seine Frau bis heute Ratsmitglied ist. Es ist also nicht ohne lokale Brisanz, dass gestern im Schauspiel der Stadt das neueste Stück von Annalena und Konstantin Küspert aufgeführt wurde, das sich diesem politischen Hans Dampf der späten Kohl-Ära wie der ersten Legislaturperiode von Rot-Grün unter Gerhard Schröder widmet. Regie führte Ruth Messing, die hier schon eine Stadtrecherche und in Aachen Küsperts "Der Westen" inszeniert hat. Eine vielversprechende Konstellation.
FDP ohne Punkte
Dass Münster Möllemann zwar noch nicht vergessen hat, gleichwohl aber nicht unbedingt sein Andenken pflegt, führt Messing eingangs gleich vor in "Der Bundesbürger (the jürgen w. möllemann story)". Auf der kleinen U2-Bühne des Theaters Münster zeigt sie als Auftakt Video-Schnipsel von in der Stadt geführten Interviews, die Erinnerungsfetzen an den passionierten Fallschirmspringer und Bundespolitiker liefern. Wertschätzung ist zwar vereinzelt zu hören. Aber ebenso ist eine ältere Dame zu sehen, die "Möllemann" partout keiner Person zuordnen kann, sondern für einen Ortsnamen hält. Messing lässt die Videoschnipsel auf eine Silberwolke projizieren, die sich die drei Schauspieler*innen Ilja Harjes, Rose Lohmann und Thomas Mehlhorn unters Kinn halten und die hübsch symbolisch Möllemanns luftigen Glamour illustriert.
Die Supermarios der Politik: Thomas Mehlhorn, Ilja Harjes, Rose Lohmann © Peter Wattendorff
Nicht nur in dieser Szene, sondern während des gesamten Abends funktioniert das Zusammenspiel zwischen der Regisseurin und der für Ausstattung und Video zuständigen Ayşe Gülsüm Özel hervorragend. Das Stück präsentiert mal monologisch, mal szenisch Momente aus Möllemanns Leben. Messing und Özel nehmen die Vorlage auf, um für sie Bilder, Szenen und Videos zu finden, die die drei Schauspieler*innen poppig realisieren: Als Möllemann einmal politisch fast am Ende zu sein scheint, setzt er sich ein rotes Mützchen auf und hoppelt als Super Mario vor einer projektierten Arcade-Games-Landschaft auf und ab und sammelt Münzen, um schließlich die Punkte zwischen den Initialen seiner Partei wegzuballern: Aus F.D.P. mach FDP. Doch was mit dieser 2001 realisierten Kampagne gewonnen war, versteht bis heute kein westfälisches Ferkel.
Möllemanns Verhalten wird nicht erklärt
Messing und Özel nehmen solche effekthascherischen, gänzlich unprogrammatischen Momente aus Möllemanns Leben auf und machen sie mit ihren Assoziationen zum künstlerischen Programm: Der ganze Abend wirkt nie aus einem Guss, sondern ist ein toll gewordener Eklektizismus und bringt so die Politik Möllemanns und letztlich die der gesamten FDP (bzw. F.D.P.) um die Jahrtausendwende auf den Punkt. Überzeugender kann an den Politiker wie an eine ganze Partei, die allen Ernstes Spaßpartei sein wollte, zumindest mit künstlerischen Mitteln nicht erinnert werden.
Endstation Fallschirmsprung: Ilja Harjes, Rose Lohmann, Thomas Mehlhorn © Peter Wattendorff
Dass diese Bühnensprache gleichwohl nicht dauerhaft trägt, ist in erster Linie dem Text von Annalena und Konstantin Küspert anzulasten. Er ist eine assoziative Ansammlung von Szenen und Statements rund um Möllemanns politische Biographie. Damit schafft er zwar die Voraussetzung für putzig-komische Theatermomente. Trotzdem erzeugt er die Erwartung, Möllemanns Verhalten doch einmal zu erklären oder psychologisch zu motivieren. Dieser Effekt verstärkt sich, weil rahmend erklärt wird, die Szenen seien Ergebnisse eines Writers Rooms für Netflix. Damit wird einerseits ironisch auf Möllemanns unbedingten Willen angespielt, immer das neueste heiße Ding zu sein. Andererseits verstärkt sich mit jedem eingespielten Netflix-Jingle die Hoffnung auf eine konsistente Erzählung samt Motiven. Dem aber verweigert sich der Text entschieden.
Am rechten Rand
Stattdessen liefert er zusätzliche Geschichten wie die des ehemaligen CDU-Abgeordneten Martin Hohmann, der seit dieser Legislaturperiode für die AFD im Bundestag sitzt. Allein dadurch, dass das Stück auf dessen politische Biographie hinweist, legt es nahe, dass sie Möllemanns Vita gleicht, dem ja zuletzt auch vorgeworfen wurde, am rechten Rand zu fischen, wodurch er sich politisch zunehmend ins Abseits manövrierte. Konkrete Parallelen nennt der Text aber nicht. Rose Lohmann erzählt als Saaldienerin des Bundestages, wie sie Hohmanns Stuhl abmontiert, nachdem dieser aus der CDU-Fraktion ausgeschlossen wurde, und am Rande des Parlaments wieder in das modulare Stuhlsystem einbaut.
Um das zu veranschaulichen lässt Messing kurzerhand den in einem Bürostuhl sitzenden Souffleur Heinrich Maas quer über die kompakte Bühne schieben und platziert ihn am rechten Bühnenrand. Auch das ein netter Spaß. Aber angesichts des Umstands, dass zwar explizit keine Nähe zwischen Hohmann und Möllemann behauptet wird, gleichwohl aber offen bleibt, warum der hessische Bundestagsabgeordnete in dem Stück überhaupt erwähnt wird, entsteht der Eindruck, dass die putzige Fahrt des Souffleurs über die Bühne letztlich doch nur von den durch den Text erzeugten, aber unerfüllten Erwartungen ablenken soll.
Zuletzt erklärt Rose Lohmann zunächst den Aufbau eines Fallschirms und schildert dann die bekannten Tatsachen und Aussagen über Möllemanns Todessprung. Ilja Harjes und Thomas Mehlhorn decken die Bühne mit einem Fallschirm ab und stellen ein Grablicht auf. Messing findet also ein naheliegendes wie pietätvolles Schlussbild, das elegant die Brüche und Widersprüchlichkeiten in Möllemanns Vita übertüncht – und auch die der Inszenierung.
Der Bundesbürger (the jürgen w. möllemann story)
Uraufführung
von Annalena und Konstantin Küspert
Regie: Ruth Messing, Ausstattung und Video: Ayşe Gülsüm Özel, Dramaturgie: Michael Letmathe, Soufflage: Heinrich Maas.
Mit: Ilja Harjes, Rose Lohmann, Thomas Mehlhorn.
Premiere am 9. Januar 2020
Dauer: 1 Stunde 10 Minuten, keine Pause
www.theater-muenster.com
Kritikenrundschau
"Möllemann machte vor 20 Jahren vor, was heute zum Alltag jedes prominenten Rechtspopulisten gehört. Das ist die provokante, aber erstaunlich schlüssige These des Stücks "Der Bundesbürger", so Cornelia Fiedler in der Süddeutschen Zeitung (13.1.2019). Dass das Theater Münster das Privatleben des Politikers aus Respekt gegenüber seiner Familie ausblendee, stehe im Widerspruch zur Ankündigung einer Polit-Soap im Stil von "House of Cards". Der Plot bleibe somit auf die Politik- und Wahlkampfstrategie Möllemanns beschränkt und damit eher dünn "in der munteren, teils etwas chaotischen Inszenierung". Interessant werde das Auftragsstück durch die Recherche-Schnipsel, mit denen das Autorenduo den zentralen Plot kommentiert. "So entsteht eine vielseitige, bewusst irritierende Populismusparabel, die allerdings für ein jüngeres Publikum zu viel Vorwissen voraussetzt." Und wie so oft bei neuen Stücke stelle sich die Frage, warum die Uraufführung eines prominenten Dramatikteams auf der kleinsten Bühne im Keller des Hauses stattfindet. "Ist das eine Vorsichtsmaßnahme, um maximal einen ganz kleinen Theaterskandal zu riskieren?"
Stationen aus Möllemanns Karriere bringe Ruth Messing in ihrer flotten und stringenten Inszenierung auf die Bühne, schreibt
in den Westfälischen Nachrichten (11.1.2020). "Teils mit aufklärerischem Impetus, teils mit kabarettistischer Ironie schlüpfen die Schauspieler in die Rollen unterschiedlicher Protagonisten." Am Ende bekomme das Publikum sogar noch einen Crashkurs in Sachen Populismus. "Das ist gut gemacht, denn es stattet das Stück nicht nur mit erfrischender Komik aus, sondern hebt es gleichzeitig ins Exemplarische.""Mit blitzschnellen Rollen- und Kostümwechseln, lässig und energiegeladen" deklinierten die Schauspieler*innen den politischen Aufstieg und Fall Jürgen Möllemanns durch, lobt Dorothea Marcus im Deutschlandfunk (online 10.1.2020). Das Stück selbst sei dabei zwar "zwar keine große Poesie, aber sehr unterhaltsam, auch wenn es stets nah am politischen Kabarett vorbeischrammt." Der "akribisch recherchierte" Text liefere am Ende aber noch "eine weit steilere und interessantere These": Möllemanns "einfallsreicher, aber inhaltsleerer Kampf" habe dem "Rechtspopulismus in Deutschland den Weg geebnet".
In der Frankfurter Allgemeinen Zeitung schreibt Patrick Bahners (online 19.1.2020, 14:31 Uhr): Das Stück der Küsperts stelle Möllemann als "Vorläufer und Stichwortgeber" der AfD hin, ohne dabei "die Kontinuität eines ungesunden Volksempfindens" zu behaupten, das sich irgendwann "zwangsläufig seine Organe" suche. Der Witz der Story sei "die Diskontinuität". Alle paar Minuten werde auf der Bühne der Befehl zum Neustart ausgegeben. Das Stück verfahre also gerade nicht wie eine Fernsehserie, "die jedes Detail bebildert und erklärt". Bahners fühlt sich dadurch an "den gedrängten Stil des römischen Historikers Tacitus" erinnert, "der durch den Verzicht auf Handlungsmotivierung die Politik des Übergangs von der Republik zum Kaiserreich in eine Atmosphäre der Irrationalität tauchte". Um "die Alltäglichkeit charismatischer Legitimität zu beschwören, zitieren die Schauspieler einfachste Gesten: das Winken, das Ausbreiten der Arme, das Recken der Daumen." Alle drei, Ilja Harjes, Rose Lohmann und Thomas Mehlhorn, verwandelten sich für Momente in Möllemann. Wenn sie den Mund aufmachten, sei er wieder da: der "Tonfall der unbeirrbaren Sachlichkeit", die "Kritik des Systems als Produkt des Systems".
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sie schreiben die KritikerInnen seien "teils angetan, teils auch aber auch sehr kritisch mit der Möllemann-Saga in Münster". Ich lese gerade die vollständigen Kritiken und kann ihre Meinung nicht ganz teilen: Die Lokalkritik schwärmt, die sz titelt "irritierend aber gut!" und Deutschlandfunk meldet "Stadttheater im besten Sinne". Ihre Zusammenfassung scheint mit zu negativ! Ich selbst war bei der Premiere anwesend und habe mich im Anschluss im Publikum umgehört: Es war ein sehr erfrischend lustiger und politisch interessanter Abend.
(Lieber Münsteraner, vielen Dank für den Hinweis. Wir haben die Anmoderation der Kritikenrundschau geändert. Herzliche Grüsse aus der Redaktion, Esther Slevogt)
hier noch eine weitere kritik aus münster