König Lear - Theater Bonn
Und ewig grüßt die Königspuppe
von Gerhard Preußer
Bonn, 28. Februar 2020. Zwei Körper hat der König: einen privaten, natürlichen und einen staatlichen, politischen. Sterblich ist der eine, unsterblich der andere. So die Fiktion der Elisabethanischen Juristen. Dieses von Ernst Kantorowicz in der christlich-abendländischen Tradition nachgewiesene Gedankengebäude nimmt Luise Voigt für ihre Inszenierung von Shakespeares "König Lear" am Theater Bonn als Grundidee.
Aufgeblasenes Alter Ego
Der Abend beginnt mit einer Ankleideszene: der natürliche Körper des Königs wird angekleidet, sein politischer Körper wird aufgeblasen und hochgezogen. Hinter dem Schauspieler Bernd Braun erhebt sich eine riesige weiße Puppe, die ein vergrößertes Abbild von Brauns Physiognomie als Kopf hat, dieselbe senkrecht gefurchte Stirn, dieselben verächtlich heruntergezogen Mundwinkel – ein cholerisches Staatoberhaupt mit Zornesfalte. Diese Körperverdopplung prägt optisch die gesamte Inszenierung. Richtet sich Lear auf und beharrt auf seiner herrschaftlichen Stellung, erhebt sich die luftige Puppe zu ihrer riesenhaften Größe; ist Lear angeschlagen, geht sie in die Knie; ist Lear ausgestoßen, liegt sie flach und zappelt mit den Beinen; ist Lear tot, ist sie nur ein Haufen Stoff am Boden. Doch dann steht sie wieder auf, denn Edgar wird nun König. Le roi est mort! Vive le roi!
Lears Fehler ist es aus dieser Sicht, die Einheit der beiden Körper, des natürlichen und des staatlichen, zu ignorieren. Er entledigt sich mit seiner Abdankung seines politischen Körpers und behält nur seinen natürlichen, glaubt aber immer noch, die Herrschaftsrechte eines Königs zu haben. Mehr noch, mit der Trennung von seinem politischen Körper verschwindet auch die Macht seines natürlichen Körpers. Er verliert seine Autorität als Vater.
Auf ästhetischen Abstand achtend
Was soll uns diese juristische Fiktion des frühen Absolutismus heute? Die politische Theorie säkularisierte schon ein paar Jahrzehnte später mit Hobbes und Locke den "body politic" und befreite ihn von der Bindung an eine Herrscherperson. Wenn man nicht aktualisieren will (wie Thomas Melle und Stefan Pucher kürzlich in München), muss man stilisieren, den alten Text mit einer aufeinander abgestimmten Reihe von ästhetischen Mitteln überziehen, die einen deutlichen Abstand zu unserer alltäglichen Wahrnehmung der Welt herstellen. Diesen Ansatz wählt Luise Voigt.
Variables Grau in allen Kostümen, weite Gewänder, ein farbloses Phantasiebarock mit hochtoupierten Frisuren. Ständig untermalt von geräuschhaften elektronischen Klängen, mal sanftes Säuseln, mal walzerähnlich rhythmisch, mal donnernd laut. Kämpfe sind meist nur ein Lichtblitz und schon liegt einer tot am Boden. Im Hintergrund werden die Figuren oft groß projiziert, nicht live, aber in geloopter Bewegung laufen sie mit wehenden Gewändern auf uns zu, immer näher, immer größer. Im zweiten Teil wird es dort hinten düster: Gewitterwolken ziehen über die sturmbewegte Heide oder den Strand am aufgewühlten Meer und Lear sitzt auf einem geborstenen Weltkriegsbunker an der Dünenküste.
An ihrer Bewegung sollt ihr sie erkennen
Viele Figuren erhalten spezielle Bewegungsmuster: Edgar (Alois Reinhardt), der legitime Sohn Glosters, krümmt sich erbärmlich wie ein durch Spasmen gequälter Bettler, sein falscher Halbbruder Edmund (Christoph Gummert), der niedrig geborene, kommt auf allen Vieren daher. Im Sturm auf der Heide schwenken alle die Beine hoch und staksen wie die Störche über die Bühne. Regan (Sandrine Zenner) und Cornwall (Holger Kraft), das verräterische Paar, umkreisen wie die Wettermännchen die Bühne in immer gleichem Abstand. Edmund kriecht herein, versteckt unter Regans Reifrock, springt aber gleich darauf in die Arme ihrer großen Schwester Goneril (Sophie Basse). Kent (Roland Riebeling) ist ein ehrlicher Scherzbold, komischer als der bittere Narr, der passend mit derselben Schauspielerin besetzt ist wie Lears Tochter Cordelia (Lena Geyer).
Auch wenn man im zweiten Teil notwendigerweise den Überblick verliert, wer gerade wen verrät, welche fingierten Briefe gerade ihre Empfänger erreichen oder nicht, wie sich genau die Schicksale des Königs Lear und seines getreuen Herzogs Gloster ineinander verschlingen: Lears Geschichte wird auf ihre Drehpunkte konzentriert und in sichtbare Vorgänge übersetzt. Der düstere Klassiker wird hell und spielbar. Aber die Inszenierung bleibt hübsch und flach wie Wolf Graf Baudissins Übersetzung von Edgars berühmtem Schlusssatz: "Wir Jüngeren werden nie so viel erleben." Während es im Original doch heißt "We that are young / Shall never see so much, nor live so long." Das ist keine Wiederherstellung der Hoffnung auf eine gerechte Herrschaft des unsterblichen Königs, sondern die Bilanz einer kranken Jugend. So wird aus Shakespeares pessimistischster Tragödie ein mit feinen Bizarrerien stilsicher angerichtetes Großpuppenspiel.
König Lear
von William Shakespeare
Übersetzung: Wolf Graf Baudissin
Regie und Bühne: Luise Voigt, Musik: Friederike Bernhardt, Bühne und Video: Stefan Bischoff, Kostüme und Mitarbeit Bühne: Maria Strauch, Körperarbeit / Biomechanik: Tony De Maeyer, Modellkonzept Puppe: Rüdiger Stern, Licht: Sirko Lamprecht, Dramaturgie: Nadja Groß.
Mit: Bernd Braun, Sophie Basse, Sandrine Zenner, Lena Geyer, Alois Reinhardt, Wolfgang Rüter, Christoph Gummert, Roland Riebeling, Holger Kraft, Sören Wunderlich, Manuel Zschunke, Florian Janik, Markus Müller, Leander Sparla, Alex Röser.
Premiere am 28. Februar 2020
Dauer: 3 Stunden 10 Minuten, eine Pause
www.theater-bonn.de
Kritikenrundschau
"Brauns König ist das Zentrum einer durchgestylten, in Weißtönen auftretenden Hofgesellschaft", schreibt Dietmar Kanthak im Bonner General-Anzeiger (online 2.3.2020). Diese "Künstlichkeit" habe an dem "mehr als dreistündigen Abend Methode", aber auch "Konsequenzen": "Sie entzieht dem Drama seine emotionale Kraft. Das Schicksal dieser Menschen wird niemand im Parkett beweinen." Regisseurin Luise Voigt wolle wohl "vor allem ihre Originalität ausstellen", Shakespeares Sprachkunst werde indes "unter Wert verkauft". Lichtblicke lieferten jedoch "die Szenen, die dennoch im Gedächtnis bleiben – und die Schauspieler", so der Rezensent.
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nachtkritikvorschau
Die hier gewählten stilistischen Mittel machen das Stück schwach und die Charaktere matt. Mikroports, Bio-Mechanik und weiße irgendwie Barockkostüme sind auch nicht gerade originelle ästhetische Setzungen. Ein Stück, dass zeigt, wie eine Welt auseinanderbricht, wie die Menscheitheit sich geradezu in Hysterie und Zerstörungswut ausrottet wird so hell und spielbar?
Die Theaterblase treibt schon merkwürdige Formen von Verblasenheit und Kurzsichtigkeit.
Der Abend ist aseptisch, unlebendig, ästhetisch armselig.
Wer nicht ins Theater geht, um zu schlafen, sei herzlich gewarnt!
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Die Theorie der zwei Körper des Königs und Kantorowiczs Buch waren mir schon länger bekannt. Ich habe das Programmheft vor der Vorstellung überflogen und die erste stumme Szene machte dann sofort klar, wohin die Inszenierung gehen will. Ich halte aber nicht viel davon, aus dieser Theorie eine Konzeption für eine Lear-Inszenierung zu machen, was meine Nachtkritik hoffentlich deutlich macht. Kantorowicz nimmt Shakespeares „Edward II“ als Beispiel für diese Theorie. In „King Lear“ aber stehen soviel andere Themen im Vordergrund, da gebe ich Edgar B. Recht, dass das Stück verflacht wird, wenn man es auf sie reduziert. Ich halte auch nichts davon, diese Theorie auf die Gegenwart anzuwenden, wie das 1990 bei der Wiedervereinigung mit Helmut Kohls Körper versucht worden ist. Kantorowicz’ Buch ist eine großartige historische Arbeit, keine staatsphilosophische.
Viele Grüße
Gerhard Preußer
Wir sahen eine tolle König Lear-Aufführung, ungewöhnlich aber gelungen, was Bewegungen, Bühne etc angeht. Das kam auch beim Publikum so an. Dass der Kritiker hier von einer Theaterblase schreibt, lässt mich eher mit der Frage zurück, in welcher Theaterblase er sich befindet...?
Der Soundtrack ist allerdings der absolute Killer, die Kostüme ebenso.
Am Freitagabend war das Publikum begeistert von einer tiefgreifenden, fesselnden Inszenierung voller Gefühl. Die Darstellung der Charaktere, der Emotionen und der Umstände wurde durch das Ineinandergreifen von Sprache, Bewegung, Tönen, Bildern und Effekte zu einer aufrüttelnden und fesselnden Einheit.
(...)
(Anmerkung zur Kürzung: Ihr Kommentar wurde auf die zentralen Aussagen zur Inszenierung eingekürzt. Gestrichen wurden persönliche Angriffe gegen den Kritiker. Mit freundlichenn Grüssen aus der Redaktion, Esther Slevogt)
Theaterpreis "Thespis" 2020.