Die sieben Todsünden & Motherland - Theater Freiburg
Horrordokuschocktherapie
von Jürgen Reuß
Freiburg, 16. Juli 2020. Das "Ballett mit Gesang" von Bertolt Brecht und Kurt Weill "Die sieben Todsünden" baut auf einer satirischen Grundausrichtung: Der Weg zum kapitalistischen Heil führt ausgerechnet darüber, das zu überwinden, was man gemeinhin eher für den Motor des Kapitals hält – die sieben Todsünden. Brecht und Weill (B/W) führen das exemplarisch an der in Verkäuferin (Anna 1) und Ware (Anna 2) gedoppelten Figur Anna vor. Auf ihrem Weg zu ein bisschen Wohlstand jagt sie sieben Jahre quer durch die USA Reichtum und Wohlstand nach, bis sie sich am Ende ein kleines Haus in Louisiana leisten kann. Kapitalistische Operation gelungen, Seele tot.
Ballett mit Schauspielrahmen
Kornél Mundruczó geht nun für seine Freiburger Inszenierung davon aus, das B/W für die Idee stehen, dass "Musiktheater Teil eines Gesamtkunstwerks ist", und gibt dem Ballett deshalb den Rahmen eines Schauspiels. Bevor die Annas sich also auf ihre Mission begeben, ist das doppelstöckige Puppenstübchen am Mississippi, in dem sie später enden werden, fürs Publikum schon zu sehen. Dort wird das von Kata Wéber eigens für diesen Zweck geschriebene Stück "Motherland" in Uraufführung exekutiert. Man muss es so drastisch ausdrücken, denn das Inszenierungsteam setzt auf Horrordokuschocktherapie, um die Zuschauenden in die Katharsis zu quälen. Anna 2 ist in "Motherland" Mutter einer Tochter – sie selbst heißt bei Kata Wéber Elle, die Tochter Mini.
Beautyzombie auf Konsumismus-Altar
Elle (Nora Buzalka) ist eine Art weibliche Ausgabe von Full Metal Jacket-Drill Instructor Hartman, die ihr Leben nur einem Ziel gewidmet hat: Tochter Mini (Sinja Neumann) auf jedem Beauty-Wettbewerb zum Siegerkrönchen zu peitschen. Unter den Augen vier geiler Voyeure, dem noch stumme Männerquartett, das im B/W-Teil dann den singenden Vater-Mutter-Bruder1-Bruder2-Background für die Anna-Sisters geben wird, spielt Elle die ganze intrafamiliäre Folterklaviatur rauf und runter. Liebesentzug, Anschreien, Entwürdigen, Doublebind – bis hin zu Nahaufnahmen von Botoxspritzen, die den Zuschauern auf die Augäpfel gebrannt werden, bis es sich fühlt wie Alex in "A Clockwork Orange", wenn seine Lider so fixiert sind, dass er nicht wegschauen kann. Nora Buzalka und Sinja Neuman ziehen das Ganze beeindruckend energetisch durch, und die Message – Leute, wollt ihr eure Kinder wirklich als Beautyzombies auf dem Altar des Konsumismus opfern? – kommt auch rüber. Nur: Theater als "Clockwork-Orange"-Sonderbehandlung – funktioniert das? Wahrscheinlich individuell schmerzgrenzenabhängig.
Motherland, the next generation
Umso entspannender, wenn dann B/W einsetzen. Das Orchester unter Leitung von Ektoras Tartanis weiß mal amerikanisch beschleunigte Heurigen-Stimmung, mal Musical ohne Steptanz, mal Madrigaliges elegant anklingen zu lassen. Wunderbar, wie die vier Voyeure (Roberto Gionfriddo, Jin Seok Lee, Junbum Lee, John Carpenter) im Barber-Shop-A-Capella zwischen Zorn und Fresssucht gegen Anna ansingen. Anna 1 (Inga Schäfer) führt Anna 2 (Nora Buzalka) mit fester Stimme durch Unzucht, Habsucht und Neid bis ins Puppenstübchen am Mississippi. Getanzt wird handlungsorientiert, die tänzerische Ebene ist in Mundruczós Inszenierung von Zurückhaltung geprägt, mit der Ausnahme gelegentlicher Gogo-Girl Exzesse von Anna 2. Nach dem Einzug ins Heim im ironisierten Triumphmarsch hätten B/W das Schwesterpaar als vom Weg zum Wohlstand ausgelutschte Hohlwesen in ihrem falschen Leben im falschen Bewusstsein in Ruhe gelassen. Regisseur Mundruczcó lässt aber nicht locker.
Zum Schluss müssen alle noch einmal ins Mutterland – the next generation. Da darf die labile Psychomutter ihre Tochter noch mal richtig ausstellen. Die Frage nach dem ästhetischen Prinzip der Reality-Drastik stellt sich hier verschärft. Funktioniert es, brutalen Beautywahn anzuprangern, indem man ein Mädchen im Bikini mit einem Gartenschlauch abspritzt? Interessanter Theaterabend, der den Zuschauer gleichwohl mit gemischten Gefühlen entlässt.
Die sieben Todsünden & Motherland
von Bertolt Brecht/Kurt Weill, Kata Wéber
Musikalische Leitung: Ektoras Tartanis Regie, Konzept: Kornél Mundruczó, Adaption: Kata Wéber, Bühne: Márton Ágh, Kornél Mundruczó, Kostüme: Pia Salecker, Musik "Motherland": Asher Goldschmidt, Dramaturgie: Rüdiger Bering, Soma Boronkay.
Mit: Inga Schäfer (Die sieben Todsünden / Anna I), Nora Buzalka (Die sieben Todsünden / Anna II), Roberto Gionfriddo (Die sieben Todsünden / Vater), Junbum Lee (Die sieben Todsünden / Bruder I), John Carpenter (Die sieben Todsünden / Bruder II), Jin Seok Lee (Die sieben Todsünden / Mutter), Nora Buzalka (Motherland / Elle), Sinja Neumann (Motherland / Minime).
Dauer: 1 Stunde 15 Minuten, keine Pause
Premiere/Uraufführung "Motherland" am 16.7.2020
In Kooperation mit Proton Theatre Budapest
www.theater.freiburg.de
https://protontheatre.hu/
Manchmal schaltet man als Betrachter in den Pandemie-Modus und denkt, die da oben auf der Bühne kommen sich aber verdammt nahe," schreibt. Jürgen Berger in der Süddeutschen Zeitung (20. 7.2020) Mundruczó hat sie aus Sicht des Kritikers aber so raffiniert inszeniert, "dass sie sich nie direkt gegenüber stehen. Covid 19-Tröpfchen, so sie denn vorhanden sein sollten, hätten sicherlich keine Chance, sich irgendwo einzunisten."
Das Drama lebt weniger von den nicht immer glaubwürdigen Dialogen, sondern von der atmosphärisch dichten Musik von Asher Goldschmidt und der beängstigenden Präsenz der Burgschauspielerin Nora Buzalka, schreibt Georg Rudiger in der Neuen Musikzeitung NMZ (18. 7.2020).
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Für mich leider ist es nicht aufgegangen. Konzeptionell schon anstrengend konstruiert, sind die Komponenten doch zu verschieden, und am Ende fehlte Leidenschaft und ein wenig Mut.
Worum es bei Motherland geht, beschreibt der Kritiker sehr gut, verschweigt aber, dass es sich quasi im Handumdrehen erzählt, so sonnenklar ist, was zwischen Mutter und Tochter passiert. Keine Überraschung, keine Entwicklung. Ein bisschen Masken- und Handschuh-Gekrampfe, ein Kurzeinsatz der vom Regisseur höchstselbst bedienten Handkamera, ziemlich gute Theatermusik (dazu gleich nochmal), bisschen Beyonce-Kopie, that's it. Herausragend das Spiel der kleinen Sinja Neumann, die viel Text und viel Verantwortung übernehmen muss.
Zwischendrin dann Brecht/Weill: gut musiziert, toll gesungen, aber für mich letztlich hereingepropft. Inwieweit die Orchestrierung orginalgetreu oder Coronabedingt angepasst war, weiss ich leider nicht, mir wurde hier aber eine große Chance vergeben, die beiden Teile enger aneinanderzubinden: warum nicht das Orchester die Theater- oder eher Filmmusik von Motherland machen lassen? Oder noch besser: warum nicht den Weill-Gesang mit den Synthesizer/Atmoklängen von Asher Goldschmidt verschneiden?
So bleibt der Eindruck, als wenn man irgendwie zwei Sparten zusammengestellt habe, wo doch die besonderen Zeiten auch die Möglichkeiten bieten, mal etwas künstlerisch zu wagen.
Von Horror, Zombies, Qual und Katharsis für mich keine Spur, ein gelungener Liederabend mit bemühter Rahmenhandlung. Immerhin aber kann man sagen, dass er nicht sehr unter den Auflagen gelitten hat (offensichtlich ist es in Baden-Württemberg derzeit möglich, mit mehreren SängerInnen unterhalb von 1,5m Abstand gemeinsam zu singen), er blieb ziemlich hinter der vierten Wand und auch mit viertelvollem Haus gab es einen herzlichen Applaus. Für meinen ersten Livetheaterabend seit langem hätte ich mir halt mehr Freude an der Fusion, mehr Leidenschaft für die Kunst gewünscht. Nun ja.