Frau Schmidt fährt über die Oder - Münchner Kammerspiele
Die BRD sehen … und sterben?
20. Oktober 2021. In Frau Schmidt fährt über die Oder widmet sich Dramatikerin Anne Habermehl dem Schicksal von Menschen, über die das Rad der Weltgeschichte hinwegfuhr. Habermehl bringt ihr Stück selbst an den Münchner Kammerspielen zur Uraufführung.
Von Anna Landefeld
Die BRD sehen … und sterben?
von Anna Landefeld
München, 20. Oktober 2021. Irgendjemand, irgendwas hat sie hineingeworfen in dieses Leben, in diesen erbsengrünen Theaterraum. Hier schlurfen sie, raufen sie sich die Haare, zittern ihnen die Hände. Hier tänzeln sie überdreht, kauern in einer Nische, starren vor sich hin. Und überall dieses erbarmungslose Licht, das die Traumata scharf ausleuchtet, die ihnen dieses Leben ins Gesicht gebrannt hat.
Anne Habermehl macht den Werkraum der Kammerspiele zum Therapieraum. Ein Therapieraum für vier Menschen, die Nebenfiguren der großen Geschichte, der großen Politik sind, über die das Weltenrad hinübergerollt ist und die man vergessen hat aufzusammeln. Sie gibt ihnen eine Sprache, eine einfache wie schöne, sich immer wieder zeitlich überlappende, springende, aber sich niemals verlierende Sprache. Es ist ein spannendes Glück, dass die Autorin Habermehl auch selbst inszeniert und aus ihrem poetisch-dokumentarischen Text einen klugen, einen aufmerksamkeitsfordernden, aber auch bedrückenden Theaterabend webt.
Im Nichts gelandet
Erzählt man die Handlung von "Frau Schmidt fährt über die Oder" chronologisch – Anne Habermehl hält glücklicherweise nicht viel von Chronologie, sondern steht auf Puzzles – ist alles ganz einfach. Frau Susanne Schmidt ist deutsch-polnische Spätaussiedlerin. 1990 beschließt sie von Polen nach Deutschland zu gehen. Schwanger landet sie erst im Grenzdurchsuchungslager Friedland, dann in Marktredwitz. Ausgerechnet Marktredwitz. Jener oberfränkischen BRD-DDR-Grenzstadt, die man leichthin und fieserweise mit dem Wort "strukturschwach" abtun könnte, die große Kreisstadt mit dem Neonazi-Problem, in der es kein richtiges Handynetz gibt. (Mittlerweile hat sich die Stadt berappelt.)
Frau Schmidt, voller sozialistischer Utopie, verlässt das zusammengebrochene, realsozialistische Nichts und landet im bundesrepublikanischen Nichts. Am Ende stirbt sie mit nur 62 Jahren im Krankenhaus. Wer wenn nicht eine Johanna Eiworth könnte so eine Figur spielen. Immer ein bisschen drüber, hypernervös wie ein Tier in Gefangenschaft, zuckendes Gesicht, wenn sie immer wieder zur Improvisation ansetzt, zum großen Ja-was-denn-nun? über Kapitalismus – Kommunismus, Oder – Neiße, Entweder – Oder, polnisches Blut – deutsches Blut. Und immer wieder dieses Tänzeln, das Zerzausen des Haares.
Das Grauen, wenn alle weg sind
Eigentlich ist das genug für einen abendfüllenden Theaterabend. Doch dabei belässt es Habermehl nicht: Da gibt es aber noch Annemarie, ihre Tochter, die Anfang der 2000er mit 13 nach München abhaut und die Anna Gesa-Raija Lappe mit blondem Kindfrauen-Charme und unendlich traurigen Gesicht verkörpert. Da gibt es Großvater Wilhelm, der während des Zweiten Weltkriegs als Deutscher einen polnischen Hof in Breslau übernimmt, wegschaut, als die Wehrmacht die polnischen Arbeiter erschießen lässt. Walter Hess sitzt auf einem Heizkörper in langer Unterhose und Bademantel und erinnert sich nur an das Grauen, wenn alle weg sind, wenn er alleine sein kann mit seinem Schuld und dem Selbstmitleid. Das Gesicht regungslos, die Hände regungslos, nur die Stimme, die erzählt, lässt das Schreckliche in Angemessenheit lebendig werden.
Und dann ist da noch eine Figur namens "Micha", ein Zeitenwandler, großgestig und frech ist dieser in Person von Frangiskos Kakoulakis, der immer wieder in den einzelnen Szenen auftaucht und Eiworth, Lappe und Hess launig herausfordert mal als polnischer Hofarbeiter, erster Freund der Tochter, Neonazi, Geschäftsmann. Dazu noch weitere Doppelrollen der drei anderen als Pfarrer, Beamtin, Pflegekraft, junge Susanne.
Auf der Fährte
Uff. Das will erst einmal zusammengehalten werden – doch dieses unchronologische Historienpuzzle fügt sich, Bruchstück für Bruchstück aneinander, auch weil Habermehl mit einfachsten Mitteln kleine Fährten auslegt, Aufmerksamkeitsköder – wildlederbraune Pumps, beispielsweise, oder eine einzelne Rose, ein Blümchenkleid, Trillerpfeifen, Sandsäcke, Plastiktüten und nicht zuletzt Jahreszahlen, die an die erbsengrüne Wand geschmiert werden. Hinweise, die im Nachhinein für kleine Aha-Momente sorgen.
Assoziativ, fast schon spielerisch halten sie den Text zusammen. Ein Text, in dem es viele Dialoge gibt, die oft eigentlich Monologe sind. Sie sind an niemanden gerichtet, fordern keine Antworten, keine Reaktion, dafür unsere Aufmerksamkeit und auch manchmal Geduld. Jede:r bleibt mit ihren*seinen Traumata, mit zerbrochenen Hoffnungen allein. Anne Habermehls Stück ist der erste Teil einer Trilogie an den Münchner Kammerspielen. Bleibt also noch zwei weitere Teile Zeit, dass wir wirklich miteinander reden.
Frau Schmidt fährt über die Oder (Uraufführung)
von Anne Habermehl
Regie: Anne Habermehl, Bühne: Sabine Winkler, Charlotte Pistorius Kostüme: Charlotte Pistorius, Musik: Philipp Weber, Licht: Charlotte Marr, Dramaturgie: Viola Hasselberg.
Mit: Johanna Eiworth, Walter Hess, Anna Gesa-Raija Lappe, Frangiskos Kakoulakis.
Premiere am 19. Oktober 2021
Dauer: 1 Stunde 50 Minuten, keine Pause
www.muenchner-kammerspiele.de
"Es ist ein Text der Spurensuche und der Mutmaßungen, bei dem vieles vage bleibt. Anne Habermehl legt den Figuren stammelnde Unsicherheit in den Mund“ und „stolpert so zwischen den Zeiten umher, dass man manches gerne klarer hätte, was Habermehl aber tunlichst vermeidet", schreibt Egbert Tholl in der Süddeutschen Zeitung (21.10.2021) hin und her gerissen. "Doch: Aus dem Raunen entsteht immer wieder eine eigentümliche, menschliche Wahrheit, der man sich nicht entziehen kann (...)". Habermehls "eigene Inszenierung bleibt kühl, sezierend, klinisch, auch ein wenig linkisch, aber es strahlt darin die offene Neugierde von Anna Gesa-Raija Lappe", die die Hauptfigur spielt.
Von einem "phänomenal auftrumphenden" Ensemble schreibt Ulrike Frick im Münchner Merkur (21.10.2021). Habermehl erzähle ihre Geschichte "nicht linear und chronologisch, sondern in kleinen Mosaiksteinen, aus denen sich allmählich Zusammenhänge erpuzzeln lassen." Sie wolle den "schiefen Blick", der in der Ost-West-Historie entstanden sei, "geraderücken, auf eine emotional berührende Weise, wie es TV-Dokumentationen nicht schaffen", was auch "sehr gut" gelinge.
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Im Stück befragen sich Eindrücke aus unterschiedlichen Zeiten gegenseitig. Mit Walter Benjamin könnte man von „dialektischen Bildern“ sprechen, die bei ihren Betrachtungen das utopische Potential „aufblitzen“ lassen und der aktuellen historischen Konstellation „einen Schock“ erteilen. Ebenso stellen drei Generation und zwei unterschiedliche Gesellschaftssysteme einander Fragen.
Auch wenn einzelne Personen einander befragen und sich ihre jeweiligen Sehweisen mitteilen, so entstehen hieraus keine tragfähigen Beziehungen. Die einzelnen Menschen bleiben unverbunden und allein. Dennoch erzählt das Stück von mutigen Aufbrüchen, die von Hoffnungen und Sehnsüchten getragen werden, in anderen gesellschaftspolitischen Verhältnissen ein erfüllteres Leben zu finden. Auch wird gezeigt, wie Veränderungshoffnungen versiegen, individuelle Veränderungsschritte trotz Unzufriedenheit nicht gewagt werden. Drei Sätze aus dem Stück habe ich mitgenommen: „Wie wollen wir leben?“ „Weißt Du wie schwer das ist: Sich die Liebe zu bewahren, den Glauben und die Hoffnung!“
„Die Grenzen sind offen!“