Ostdeutsches Selbstgespräch

21. Januar 2022. Thomas Freyers jüngstes Stück handelt von der Schließung eines Kalibergwerks in der Transformations-Phase der Nachwendejahre – und verschränkt den Arbeitskampf vor 30 mit dem Bauernkrieg vor 500 Jahren. Regisseur Jan Gehler, wie der Autor in Gera geboren, zeigt Menschen in der Revolte.

Von Tobias Prüwer 

Auf papierenen Altlasten: "Treuhandkriegspanorama" in Weimar © Candy Welz

21. Januar 2022. Ein Regenbogen sendet vom Himmel ein göttliches Zeichen. Mut erfasst die um Revolutionär Thomas Müntzer versammelten Scharen. Diesen Streit werden sie gewinnen, sonst wäre alles verloren – damals vor 30 und ganz damals vor 500 Jahren. In Weimar verschränkt Regisseur Jan Gehler den Streik im Kaliwerk Bischofferode mit dem Bauernkrieg zum Drama um den Menschen in der Revolte.

Erinnerungspolitische Kontrastfolie

Die Schließung des Kalibergwerks "Thomas Müntzer" im thüringischen Bischofferode ist eines von vielen Beispielen der als "Transformationsphase" abstrahierten Nachwendejahre. Es war ein besonders dramatisches und medial viel beachtetes Ereignis, weil Teile der Belegschaft für ihren Arbeitsplatz bereit waren, in den Hungerstreik zu gehen.

Autor Thomas Freyer greift in seinem neuen Stück "Treuhandkriegspanorama" den Namen von Schacht und Revolutionär und die relative räumliche Nähe zwischen Werk und Schlachtplatz Frankenhausen nicht zum losen Parallelisieren auf. Für die Akteure ging es jeweils ums Ganze. Und auch der Bauernkrieg – in der DDR-Geschichtswissenschaft als frühbürgerliche Revolution verstanden – war eine Zeit von Übergang und Transformation. Dient dieser im Stück als eine Art erinnerungspolitische Kontrastfolie, so hat Freyer zusätzlich die Erfahrungen der jüngeren Generation eingeflochten. Sie haben die Wendezeit als Kinder miterlebt. Somit und durch den zeitlichen Abstand gewinnt das Stück Tiefe. Und darum spannt Jan Gehler sein Panorama.

Mittendrin

"Fangen wir also an. Gemeinsam zunächst. Wir sind froh, dass es beginnt. So lange schon hatten wir gehofft. Auf eine Veränderung." Wie ein Audioguide führt eine Off-Stimme ins Stück ein. Auf eine halbrunde Wand auf der Bühne wird ein Ausschnitt aus Werner Tübkes Monumentalgemälde projiziert. Der Maler hat in jahrelanger Arbeit fürs Bauernkriegsdenkmal in Bad Frankenhausen ein gigantisches 360-Grad-Panorama gefertigt. Diese Medien des eigentlich 19. Jahrhunderts ermöglichen eine besondere Perspektive. Die Betrachtenden befinden sich im Rundum mittendrin. Es ist das Gegenteil zur Guckkastenbühne mit gerichtetem Blick.

Treuhandkriegspanorama3 Candy Welz u jpegErinnerungen aus Reißwollfetzen: Martin Esser, Fabian Hagen und Marcus Horn © Candy Welz

Das Publikum hineinzuziehen, hat sich auch die Regie zur Aufgabe gemacht. Nachdem die anfängliche Projektion abbricht, wird sichtbar, dass die Wand aus Altpapierballen besteht. Sie sind in Klarsichtfolie verschweißte Reißwolffetzen, die als Ballast der Erinnerung immer wieder neu durch den Raum gewuchtet werden. Sie finden sich zu Gebirgen mit Stollen aufgetürmt, Behausungen, Mauern und Pulten. Das Darstellerquintett hat ordentlich zu tun, um den Abend am Laufen zu halten, was ihnen gelingt. Selbst abstrakte Inhalte wie Treuhandgeschichte und Ausverkauf von Volkseigentum, bei denen man auf Daten- und Zahlenfülle nicht verzichten kann, bringen sie recht verständlich über die Bühne. Weil sie mal chorisch agieren, dann in Szenen oder Monologen oder im reinen Spiel zu sehen sind, wird es nicht langweilig – und man verzeiht manchen Klaumaukmoment.

"D-Markationslinie"

Es wird keine Opfergeschichte ausgerollt. Das wäre einfach, zumal – das ist anzunehmen – überwiegend ostdeutschem Publikum. Freyer und Gehler hätten von Geprellten erzählen können, von unmündigen Menschen, die der böse Kapitalismus West überfahren hat. Und sie hätten die Kalikumpeln als tragische Helden inszenieren können. Doch sie entziehen sich – auch daher war es klug, dass Freyer wissenschaftliche Beratung hinzuzog – dieser reinen Opferdeutung, die in den östlichen Bundesländern noch immer virulent ist und im Feuilleton besonders von der "ZEIT im Osten" befeuert wird.

Autor und Regisseur bilden auch den frenetischen Jubel ab, mit dem Helmut Kohl und das Überschreiten der "D-Markationslinie" (Freyer) gefeiert wurden. Es ist zu sehen, wie die neuen BRD-Bürger von den Ostprodukten nichts mehr wissen wollten und damit auch Mitschuld am Zusammenkrachen der Ex-DDR-Betriebe haben. Den streikenden Männern werden auch jene – insbesondere Frauen – gegenübergestellt, die um ihre Familien zu ernähren, so ziemlich jeden Job annahmen und nie für ihre Zähigkeit Anerkennung erfuhren. Und es wird ein Blick der nachgeborenen Generation sichtbar, die von einem monolithischen "Ostdeutsch" teilweise nichts mehr wissen will. Weil dieser Identitäts-Marker möglicherweise mehr Behauptung als Realität ist.

Treuhandkriegspanorama4 Candy Welz u Keine Opfergeschichten: Martin Esser, Fabian Hagen, Rosa Falkenhagen, Marcus Horn und Janus Torp © Candy Welz

So gewinnt der Abend, der Komplexes komplex behandelt und um Differenziertheit nicht nur bemüht ist, besondere Tiefe. Es ist ein ostdeutsch-ostdeutsches Selbstgespräch, in dem einmal nicht historische Setzungen, angebliche Selbstverständlichkeiten und letztlich Ressentiments untermauert werden, sondern: Er stellt sie durch den Einsatz der Mehrperspektivität in Frage. Damit Individuelles hervortreten kann.

 

Treuhandkriegspanorama
Schauspiel von Thomas Freyer (UA)
Regie: Jan Gehler, Bühne: Sabrina Rox, Kostüme: Katja Strohschneider, Musik: Vredeber Albrecht, Dramaturgie: Carsten Weber.
Mit: Martin Esser, Rosa Falkenhagen, Fabian Hagen, Marcus Horn, Janus Torp.
Premiere: 20. Januar 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.nationaltheater-weimar.de

 

Kritikenrundschau

Thilo Sauer sagte auf Deutschlandfunk (21.1.2022, 17:36 Uhr), das Bauernkrieg-Panorama von Werner Tübke in Bad Frankenhausen habe Thomas Freyer als Folie für sein Stück gedient. Das Bild werde zum "vielfältigen Symbol" zum Beispiel "für einen aussichtslosen Kampf". Die weißen Papierschnipsel aus denen die Quader des Bühnenbildes bestehen, stünden für "mangelnde Aufarbeitung" und "fehlende Einsicht in die Dokumente", ein schlüssiges Bild. Es sei kein Abend der Betroffenheit, Autor und Regisseur hätten nur "wenige Jahre in der DDR gelebt", alle Mitglieder des Ensembles seien nach der Wiedervereinigung geboren. Das erlaube Distanz. Es entstünden Längen durch allzu ausführliches Zitieren, wenn die Inszenierung Tempo aufnehme, sei sie dynamisch und sogar humorvoll. Die große Stärke des Abends bestehe darin, dass er nicht nur erzähle, wie unfair die Treuhand und wie ruhmreich die Kali-Kumpel gewesen seien.

Stefan Petraschewsky sagte in Kultur am Mittag auf MDR Kultur (21.1.2022, 13:10 Uhr), man sehe 2 Stunden lang einen Bilderbogen aus "Bischofferode: vorher – nachher" und natürlich gehe es um "Macht und Ohnmacht: Der kleine Bergmann und der große Kapitalismus". Es gebe die dokumentarische, die recherchierte Ebene und die Familiengeschichte. Das Stück sei gut gebaut und erinnere ein bisschen an "Sterne über Mansfeld". Die dritte Ebene sei eine "überzeitliche Klammer, in Versen geschrieben", an Heiner Müller erinnernd. Die Inszenierung opfere den Text, um eine weitere Ebene, nämlich die junge, nächste Generation einzufügen, die eigne sich nun den Text an mit der Haltung: Opa erzählt vom Krieg - mit der O-Ton Ebene können junge Menschen nichts mehr anfangen. Das sei aber nicht komisch, nur überheblich gegenüber Text und Autor. Erst am Ende eigneten sich die Jungen "dann doch den Text an" und fühlten sich in die Rollen ein. Auf die eigentliche Uraufführung müsse noch gewartet werden.

"In brillant gespielten Rückblicken werden der in der DDR 1989/90 umjubelte Bundeskanzler Helmut Kohl, der laute Ruf vieler Ostdeutscher nach der D-Mark und einem möglichst raschen Beitritt zur Bundesrepublik noch einmal lebendig", schreibt Stefan Locke von der FAZ (26.1.2022), der "rasantes und höchst ambivalentes Dokumentar­theater" sah. Nüchtern, aber gleichwohl berührend falle diese Betrachtung der Wirklichkeit aus, die das DNT in diesem jede Minute lohnenden Stück auf bemerkenswerte Weise liefere.

 

Kommentare  
Treuhandkriegspanorama, Weimar: mehr Inhalt
Ist das jetzt "Helle Haufen" 2.0 - The next Generation? Da fehlt mir in der Kritik etwas mehr zum Inhalt des Stücks.
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