The Next Ring-Generation

Zürich, 29. Januar 2022. Eine "Korrektur" ist angekündigt, und sie gelingt tatsächlich: Regisseur Christopher Rüping und Autor Necati Öziri lassen in ihrem "Der Ring des Nibelungen" am Schauspielhaus Zürich die Kinder der Riesen sprechen, die verletzten Frauen, diejenigen und ihre Nachfahren, die von Wotan oder Alberich betrogen wurden. Ein furioses Zusammenspiel aus sechs Monologen, anderen Perspektiven, Einsamkeit und Ensemble-Gemeinschaft, Selbstbehauptung und neuen Klängen aus Mischpult.

Von Valeria Heintges

"Ring"-Bearbeitung mit ganz anderen Figuren und den Folgen der Arbeitsmigration: es sprechen die Kinder der Riesen, die Alberich die Burg bauten © Sabina Bösch

Zürich, 29. Januar 2022. Man hört im Zürcher Pfauen die ersten Takte von Richard Wagners Rheingold-Ouvertüre. Auch das Siegfried-Motiv ist zu erkennen, und es wird auch gesungen. "Mein Geschlecht", singt Wiebke Mollenhauer als Brünnhild, ironisch und mit viel Koloraturen. Viel mehr Wagner-Oper ist in diesem "Ring des Nibelungen" nicht zu hören. Das war der Deal, erklärt Autor Necati Öziri höchstselbst zu Beginn: Er schreibt Regisseur Christopher Rüping einen Text. Aber es kommt keine Zeile Wagner darin vor. Deal? Deal!

Doch auch wenn viele Figuren gestrichen sind – Siegmund, Sieglinde, Siegfried, Gunther, Hagen, um nur die wichtigsten zu nennen – so treten andere sehr wohl auf: Zwerg Alberich, die Riesen Fafner und Fasolt, Brünhilde, Fricka, Erda. Und Wotan hat einen wahrlich göttlichen Auftritt. Dies ist "Der Ring des Nibelungen", sozusagen von unten erzählt. Eine Korrektur, wie Öziri es nennt. Darin bekommen diejenigen eine Stimme, die sonst nichts zu sagen haben. Weil sie hässlich sind wie Alberich. Weil sie Frauen sind. Oder Fremdarbeiter, wie die Riesen.

Stimmen einer anderen Generation

Öziri will sich nicht blamieren, nicht vor den "People of Oper", wie er ausführt. Und auch nicht vor seinem Onkel, der Reifen baut bei Continental in Hannover. Öziri will seinen eigenen Zugriff bekommen auf diese sechzehnstündige Mammutoper voller germanischer Götter und Mythen, voller Gier, Machtlüsternheit und Totschlag, voller Misogynie, Vergewaltigung, Unterdrückung und Inzest. In der ein offen antisemitischer Komponist Richard Wagner bombastische Musik mit höchst merkwürdigen Texten kombiniert. Andererseits: Wollte man alle Helden, die den Ansprüchen nicht mehr genügen, vom Thron stoßen – wer bliebe dann noch? Öziri: "Dieses Land wäre leer."

Auftritt Der Ring – die Korrektur. Der Musiker Black Cracker lässt aus seinem Soundpult die Beiträge von acht Kollegen hören. Zuweilen bombastisch, meist tanzbar, mal groovig, mal chillig, mal Dancefloor, mal gefällig. Die Musik ist wie der ständig präsente Musiker Spiegelbild und guter Geist der Schauspieler:innen.
Dabei bleibt es Rüpings Geheimnis, wie er es schafft, faktisch einen Monolog nach dem anderen und doch das Gefühl großer Gemeinsamkeit und Nähe zu inszenieren, Spannung aufzubauen und dann wieder Momente großer Stille zuzulassen.

Ring des Nibelungen 5 SabinaBoesch uGanz besondere Gemeinschaft: Matthias Neukirch (links) als Wotan, daneben rechts seine Frau Fricka (Maja Beckmann) im "Ring des Nibelungen". Am Ende versucht Wotan, sich noch einmal über die Nachwelt zu erheben. © Sabina Bösch 

Vielleicht liegt es am kollektiven Kerzengiessen: Jonathan Mertz hat eine kleine Fabrik auf die Bühne gebaut, bei der das Wachs in einen Trichter gefüllt, geschmolzen und in kleine Blechröhren gegossen wird, die auf einem Fließband fahren und schließlich in einem Schrank gekühlt werden.

Sechs große Monologe

Von kleinen Szenen verbunden treten die Schauspieler einer nach dem anderen an die Rampe und erzählen ihre Version der Geschichte – nur Benjamin Lillie und Steven Sowah als Riesen Fafner und Fasolt sprechen extrem genau im Duett. Sie sind die Kinder der Riesen, die Wotan die Burg Walhalla erbauten. Die Kinder der Gastarbeiter, um ihre Jugend betrogen. Jetzt fordern sie von denen in den fertigen Häusern die Schulden ein. Gebt uns eure Jugend, ihr habt uns unsere gestohlen. Brutal und rasant landet Wagners Monument mitten in der Gegenwart.

Wiebke Mollenhauer ist Brünnhilde, Wotans Lieblings-Walküren-Tochter. Sie berichtet wütend-tobend und tief verletzt von der Last und Lust der Favoritin. Sie kann sich noch so furios in immer neuen Posen ins Scheinwerferlicht werfen – die Regeln bestimmt der Vater: Nachfolger werden nur die Söhne. Nils Kahnwald sinniert als Alberich über Attraktivität: Wer und was macht einen attraktiv? Wie gehen die Unattraktiven mit der Einsamkeit um, in die sie freiwillig-gezwungen gestoßen werden? Warum sollten sie sich nicht mit Geld und Gold Attraktivität erkaufen?

Verletzungen Luft machen

Beeindruckend schnell wechselt Kahnwald von launiger Publikumsbeschimpfung zu tiefer Verletzung. Wotans Gattin Fricka, die für den Gatten Luft geworden ist, spielt Maja Beckmann mit einer wunderbaren Mischung aus Zartheit und Stärke. Doch diese Fricka verbiestert nicht, sondern entscheidet sich im flirrenden Dialog mit Black Cracker für ein selbstbestimmtes Leben, das sich nicht vom Jugendwahn schrecken lässt.

Ring des Nibelungen 2 SabinaBoesch uDie junge Fricka, die älter Gewordene und ihr Weg zu neuer Selbstbehauptung, gespielt von Maja Beckmann © Sabina Bösch

Großartig die Idee, zuerst ein Video zu zeigen, das die junge Fricka zu Beginn ihrer Liebe morgens früh im Bett aufgenommen und Wotan geschickt hat. Einfälle wie dieser heben die Inszenierung über ihre scheinbar alltäglichen Themen hinaus. Und natürlich Schauspieler, die auch ganz allein spielen können, weil sie phänomenal ihr Metier beherrschen und den Raum für Entfaltung finden.

Reale soziale Fragen

Öziri schreibt sich mit Intelligenz, Witz und großer Vielfalt um Wagner herum in ein Heute her. Fast zum Schluss darf Matthias Neukirch als tobender, selbstgefälliger Wotan wutschäumend sein Lebenswerk verteidigen und sich in römischer Kampfmontur über seine Nachfahren erheben. Lediglich Yodit Tarikwa als Erda, Pachamama oder Mutter Erde liest den Mächtigen etwas didaktisch die Leviten.

Am Ende bekommt der Waldvogel, Wagners stumme Rolle, seinen großen Auftritt. Er erzählt, wie das damals in der Höhle wirklich war zwischen Siegfried und dem Drachen. Eine kleine Beinahe-Fabel, die das Werk mit einem ironischen Exkurs über Wahrheit und Erzählung, Realität und Fakenews abschliesst. Und am Ende gibt es statt Wagners Feuersbrunst und Hochwasser für jeden eine frisch gegossene Kerze.

 

Der Ring des Nibelungen
Text und Bearbeitung von Necati Öziri
Inszenierung: Christopher Rüping, Bühne: Jonathan Mertz, Kostümbild: Lene Schwind, Mitarbeit Kostümbild: Ulf Brauner, Musik: Black Cracker, Jonas Holle, Born In Flamez, Gil Schneider, Isa GT, Ixa Psyborg, Legion Seven, Leo Luchini, Philipp Hülsenbeck, Simonne Jones, Licht: Gerhard Patzelt, Video: Emma Lou Herrmann, Dramaturgie: Katinka Deecke.
Mit: Maja Beckmann, Black Cracker, Nils Kahnwald, Benjamin Lillie, Wiebke Mollenhauer, Matthias Neukirch, Necati Öziri, Steven Sowah, Yodit Tarikwa.
Premiere am 28. Januar 2022
Dauer: 4 Stunden, eine Pause

www.schauspielhaushaus.ch

 

Kritikenrundschau

Regisseur Christopher Rüping und Autor Necati Öziri "beherrschen bitteren Witz ebenso wie blödelnde Komödie und brechen von vornherein jeden Bombast", schreibt Alexandra Kedves im Tagesanzeiger (€ 30.1.2022). Es "zieht uns nicht jede Minute in die Theaterkommunion hinein, trotz flockiger Interaktionen mit dem Publikum. Es wurde auch keine Verzauberung mittels visueller Poesie versucht, keine Wuschigkeit in den Kopf hineingekitzelt, kein sentimentales Sausen ins Herz. Überwältigung wäre ohnehin gegen das Konzept gewesen, das man hier spüren darf und auch soll: Rüpings 'Ring' ist eher evangelisch als katholisch. Falls man den grossen, dunklen Schatten des Genies erleben will, ist man hier falsch. Es wär wohl auch ohne Wagner gegangen, er ist eher Sprungbrett als Korrekturvorlage. Stattdessen ist eben etwas ganz Eigenes entstanden – und gelungen."

"Vier Stunden verfolgt man gebannt dem Versuch, Wagners destruktivem Untergangsszenario eine menschliche Utopie entgegenzusetzen. Verziehen sei Öziri, dass er Wagner dabei doch arg verengt nur als rassistischen, antisemitischen Deutschtümler rezipiert und andere interessanten Facetten seiner Persönlichkeit ausklammert. Seine Auseinandersetzung mit dem Stoff ist trotzdem produktiv und beweist gerade, dass in Wagners Stoff eben doch mehr steckt als eine einfach gestrickte Weltsicht", heißt es von Julia Stephan in der Aargauer Zeitung (29.1.2022). Bei Rüping werde die Götterdämmerung zur peinlichen Show einer abtretenden Göttergeneration. "Die Anfeindungen gegen Minderheiten, die Empörungswellen dienen nur noch dem Erhalt der eigenen Bedeutsamkeit, während die Jugend auf der Bühne die Geschichte längst fortgeschrieben hat." Die Musik schaffe ergreifende Momente, in denen die Zeit stillzustehen scheine.

"Der Text von Necati Öziri ist oft sehr lustig, sehr genau beobachtet, mit einem satirischen Witz ganz aus dem Alltag gegriffen, und das bitterböse zurechtgerückt.“ Dazu gebe es eine vielschichtige Musikspur, so Andreas Klaeui vom SRF (31.1.2022). Auch lobt der Kritiker die Auftritte der Schauspieler:innen. "Das sind alles große Nummern, und es ist lustig: Das ist ja eigentlich eine Opernstruktur, jeder hat seine Arie. Gleichwohl gelingt es Rüping und dem Ensemble, dass das nicht auseinanderfällt, sondern ein performatives Kollektiv ist. Das ist dann auch die klare Botschaft zum Schluss, Denken im Kollektiv, Solidarität, Inklusion, was sie ein bisschen dick auftragen, was aber der Arbeit eben auch ihre Energie gibt."

Lotte Thaler von der Frankfurter Allgemeinen Zeitung (1.2.2022) stört sich an der Dramaturgie des Abends, an "einer Reihung von Monologen, die Regisseur Christopher Rüping auch stets nach demselben Muster präsentiert: an der Rampe, nach hinten laufen, wieder nach vorne kommen". Ein Schauspiel würde daraus nicht, so die Kritierin. "Noch weniger mit Wagner hat die Musik in dieser Inszenierung zu tun."

Kommentare  
Der Ring, Zürich: Imposante Auftritte
Sehr unterhaltsam und aufschlussreich, wenn Necati Öziri im Prolog erzählt, wie er sich durchgerungen hat diese Geschichte zu "korrigieren". Gut dass er es tat - unter der Prämisse keine einzige Zeile aus Wagners Ring zu verwenden. In sechs Bühnen-Essays erzählen die Schauspieler*Innen ihre Perspektiven der Figuren aus Wagners Ring. Vom Ensemble des Schauspielhauses unter der Regie von Christopher Rüping - wieder einmal -glänzend umgesetzt. Manch ein Narrativ weckt das Bedürfnis ins Gespräch zu kommen über die spezielle Wahrnehmung der Geschichte. Auch Wotan hat in einem imposanten Auftritt durchaus nachvollziehbare Argumente. Andere - Alberich, Brünnhilde und Fricka - sind sehr persönliche Erfahrungen und Empfindungen, die jeder wohl kennen gelernt hat oder sofort nachspüren kann. Diese intensiven, ehrlichen Momente, bleiben besonders im Gedächtnis haften. ... und die Musik des "Ring Orchesters", live auf der Bühne performt von Black Cracker. Die schönste Geschichte erzählt der Waldvogel ganz am Schluss. Sie soll aber nicht verraten werden. Nur soviel - der wahre Schatz ist nicht das Rheingold sonders das was das Ensemble den Zuschauer*Innen als Anregung mit nach Hause gibt.
Der Ring, Zürich: Oh Gott
Gestern Abend in Wien..
Ich habe selten so eine undifferenzierte Arbeit gesehen, leider habe ich den Schauspieler*innen/Performen*innen/Figuren von Anfang an kein Wort geglaubt..
Ich wusste nicht, ob dort wirklich der Autor steht oder ein Schauspieler der versucht der Autor zu spielen, gut ein Blick später ins Programmheft, hat mich dann aufgeklärt.. Nur wieso wird versucht "anderen Figuren" ein Stimme zu geben und alles was nach dem Eröfffnungsmonolog kommt, ist eine Anhäufung von Klischees.. Angefangen bei der Besetzung.. der "Kleine" Schauspieler spielt Alberich, Die Braunhaarige Brünhilde, der weisshaarig Ältere Mann den brüllenden Wotan, die schlanken Jungs die "Riesen", die Blonde am Ende spielt---- nein! nicht Siegfried.. okay, da habe ich mich geirrt.. spielt dann also die Fricka.. aber der Gipfel, wirklich der Gipfel ist, dass die junge Spieler*in, schwarz.. nach dem Eröffnungsmonolog singend auftritt und die ERDE spielend als "MAMA" besungen wird..

Ist das nicht eben das reproduzierende Bild, was das Stück oder der Text/Autor oder die Inszenierung, zumindest aber das Schauspielhaus Zürich im Auftritt nach außen, ändern will????
Der Ring, Zürich: Wagner
Wenn man sich für ein Stück, einen Text, die damit verbundenen Themen eigentlich nicht interessiert - weshalb inszeniert man es dann und warum erwartet man sich, dass es andere Leute gibt, die diese Inszenierung sehen wollen? Wagner war ein unsympathischer Mensch, aber ein großer Künstler. DAS wäre ein Thema (heute auch noch immer aktuell an vielen Theatern, wenn man weiß, was hinter den Kulissen vorgeht).
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