Anspruch auf eigene Geschichte

3. Juni 2022. Nach Dostojewski und Pessoa inszeniert Sebastian Hartmann in Dresden jetzt Thomas Brasch – auf einer zweigeteilten Bühne und mit der Hartmann-markentypischen Spreizung innerer Zerrissenheiten. Es gibt aber auch prasselnden Theaterregen und naturgroße Wildtiere zu bestaunen.

Von Janis El-Bira

"Vor den Vätern sterben die Söhne", inszeniert von Sebastian Hartmann am Staatsschauspiel Dresden © Sebastian Hoppe

3. Juni 2022. Fast geht es gar nicht erst los. Keine Ewigkeit, aber lang genug, um die ersten nervös werden zu lassen, steht Yassin Trabelsi am Bühnenrand und schweigt beredt. Jedes Knistern, auch ein Handyklingeln wird mit alerten Augen notiert: Wer seid ihr? Was wollt ihr? Als er dann doch noch zu sprechen beginnt, ist es die Rede Thomas Braschs anlässlich der Verleihung des bayerischen Filmpreises 1981. Jene Rede also, die vor allem wegen ihres damals mit wütenden Zwischenrufen quittierten Danks an die Filmhochschule der DDR zum Zeitdokument wurde.

Bis zur berüchtigten Stelle kommt Trabelsi zwar gar nicht erst, dafür umso dringlicher zu den für Brasch selbst wahrscheinlich wichtigeren Sätzen. "Ein Denkmal zu setzen dem anarchischen Anspruch auf eigene Geschichte", hatte der Schriftsteller und Filmemacher damals den Selbstwiderspruch seiner Arbeit benannt, "und dies zu tun mit dem Wohlwollen derer, die ebendiesen Versuch unmöglich machen wollen und müssen: der Herrschenden nämlich".

Ambigue Staatstreue und Republikflucht

Auch Regisseur Sebastian Hartmann wird sich am Ende dieses Abends einzelne Buh-Rufe abholen. Zwar nicht, weil er sich wie einst Thomas Brasch politisch aus dem Fenster gelehnt hätte. Um die politische Konkretion, die real existiert habende DDR gar, macht diese Inszenierung sowieso einen weiten Bogen. Wohl aber deshalb, weil Hartmanns Riff über Braschs Durchbruchswerk "Vor den Vätern sterben die Söhne" von 1977 eben jenen "anarchischen Anspruch auf eigene Geschichte" als ästhetisches Prinzip gewohnt kompromissunbereit durchzieht. Von vorne nach hinten, von den Rändern zur Mitte sprudeln Braschs Erzählungen vom Auf- und bloßen Begehren, ambiguer Staatstreue und Republikflucht, von Marsyas und Apoll, Vätern und Söhnen, von Arbeitern und Direktoren über die Bühne des Dresdner Staatsschauspiels.

VordenVaetern1 Sebastian HoppeMarkentypischer Hartmann-Abend: Das Dresdner Ensemble mit Gastspielerin Linda Pöppel (2. v. l.) in Adriana Braga Peretzkis Kostümen © Sebastian Hoppe

Genauer: Über die Vorder- und die Hinterbühne, zwischen denen, tatsächlich, eine Mauer das Bühnenland in zwei Reiche teilt. Hinten wird, per Live-Video schwarzweiß nach vorne geschickt, getafelt, gesoffen, geknutscht und gesungen. Unaufhörlicher Theaterregen prasselt dazu, bis die aufgetischten Bockwürste das Schwimmen lernen. Vorne dagegen ist der Raum fürs Frontale, bewacht durch die Knopfaugen naturgroßer Wildtiere. Nashorn, Giraffe, Elefant. Ein "wildes Tier" hat Braschs langjährige Lebensgefährtin Katharina Thalbach ihn einmal genannt. Das erfährt man freilich nicht, man kann nur Glück haben und es wissen. Die Tiere sind aber auch für sich sehr schön.

Existentialistisch aufgekratzt 

Wenigstens eine Halbzeit lang ist das im Spiel eine recht Hartmann-markentypische Spreizung der inneren Zerrissenheiten. An Brasch interessiert ihn, was ihn an Dostojewski und Döblin, an Ibsen und Tolstoi interessiert. Eben jener Widerspruch, als Individuum in einer ihm feindlich gegenübergestellten Welt nicht bloß leben zu müssen, sondern die "eigene Geschichte" überhaupt nur in dieser Feindschaft behaupten zu können. Existentialistisch aufgekratzt und gut laut geht es entsprechend zu, wenn Linda Pöppel unter den fortwährenden Schreien von Viktor Tremmel die Geschichte einer Abtreibung erzählt, oder wenn Luise Aschenbrenner erdenmutterhaft dem alten Europa die Kriegsnarben vom Angesicht abzählt. Sehr früh schon entledigt sich Marin Blülle seiner Unterhose, um nackt noch heftiger zu ekstatisieren. Ein bisschen albern wird’s, wenn der weinende Dichter vom Rest des Ensembles einen Filmpreis-Trostpokal überreicht bekommt. Durchaus grandios hingegen, wenn Tilo Baumgärtel einmal mehr eine alptraumhafte Schwarzweiß-Animation in den Abend hineinassoziiert, in der die Wildtiere die Wohnungen der Menschen heimsuchen, brüllend vor Weltenweh.

VordenVaetern3 Sebastian HoppeNicht nur getafelt, sondern auch gesoffen, geknutscht und gesungen wird auf der Hinterbühne: Die Schauspieler:innen im schwarzweißen Live-Video © Sebastian Hoppe

Gerade mit diesen recht frühen Brasch-Texten beginnt das alles aber unterwegs auch zu knirschen. Gibt es hier nicht noch Jugend zu entdecken, Sex und Motorräder, in deren Auspuffen die alte DDR abraucht? Gibt es – und irgendwann macht auch die Inszenierung einen Umweg auf der Fahrt zu Hölle. In einer funkelnden Sequenz nimmt sie sich der vielleicht zärtlichsten Passage aus Braschs Erzählungen an. Eine Dreiecks-Liebe, im Buch sind es zwei Typen und eine junge Frau, auf der Bühne dagegen spielen Linda Pöppel und Luise Aschenbrenner den schwitzigen 70er Machismo elegant weg. Und wie sie da liegen im Bett, ganz uninteressiert am Kerl nebenan, wie sie sich fassen und betrachten, "wie weich mein Körper geworden war in ihrem", das ist von einer solch hingehauchten Vergänglichkeit, dass man’s kaum fassen mag.

Eindunkelungen und Aufhellungen

Wunderlich streift irgendwann Yassin Trabelsi in der Maske eines alten Mannes um das Liebesbett, hält inne, bevor er nach hinten geht und in den Regenfluten zusammenbricht. Linda Pöppel bettet ihn auf weichen Kissen. Es gibt danach noch allerlei Eindunkelungen und Aufhellungen. Der hochmetaphorische Seefahrer, der ziellos ablegt, weil zu bleiben sterben hieße, und selbst der kuriose Sängerwettstreit aus dem Buch haben noch ihre Momente. Aber bleiben wird dieses Bild. Weil es Text und Titel heutig wendet, ohne sie zu verraten: Vor den Augen der Töchter sterben die Väter.

 

Vor den Vätern sterben die Söhne
nach Thomas Brasch
Regie, Bühne, Musik: Sebastian Hartmann, Kostüme: Adriana Braga Peretzki, Lichtdesign: Lothar Baumgarte, Animation: Tilo Baumgärtel, Dramaturgie: Jörg Bochow.
Mit: Luise Aschenbrenner, Marin Blülle, Kriemhild Hamann, Linda Pöppel, Torsten Ranft, Yassin Trabelsi, Viktor Tremmel.
Premiere am 2. Juni 2022
Dauer: 2 Stunden, keine Pause

www.staatsschauspiel-dresden.de

 

Kritikenrundschau

Sebastian Hartmann gehe es offenbar nicht vordergründig um Thomas Braschs Texte, meint Matthias Schmidt auf MDR Kultur (3.6.2022). "Viel mehr bettet er dessen Bitterkeit – er fremdelte nach seiner Aussiedlung 1976 auch mit dem Westen – und zugleich seine Hoffnungen in etwas Größeres, Globaleres ein", schreibt der Kritiker. Das sei "eindringlich, wie Theater nur selten ist". Wer eine DDR-Brasch-Geschichte erwarte und rational nachvollziehen oder die Texte wortgenau verstehen will, werde sich vielleicht über diesen Abend ärgern, prognostiziert Schmidt. "Wenn man ihn als Gesamtkunstwerk auf sich wirken läßt, als eine Art modernes, vertontes, ja sogar sprechendes Gemälde, dann kann man in dieser Hartmann-Inszenierung Kräfte des Theaters spüren, die oft vergessen werden – seine ganze expressive, archaische und anarchische Wucht."

Vieles sei hier "ziemlich anstrengend" und fordere "reichlich Mitarbeit" der Zuschauer:innen, meint Michael Laages auf Deutschlandfunk Kultur (3.6.2022). Aber, wie fast immer, überzeuge der "unbedingte Behauptungswille" des Theatermachers Sebastian Hartmann. Dadurch sei er zum Lieblingsregisseur für herausragende Schauspieler:innen geworden, beispielsweise schifte Torsten Ranft in dieser Inszenierung "prägende Energien". Entstanden sei ein "extrem schwieriger und ebenso extrem sehenswerter Theaterabend".

"Leider plätschert die Inszenierung oft nur träge vor sich hin", findet Kevin Hanschke in der FAZ (4.6.2022). Ein roter Faden sei auch durch die ständigen Wechsel von Schauspiel und Filmsequenzen kaum vorhanden. Doch es entstehe ein Mosaik, das die Abgründigkeit in Braschs Werk andeutete, urteilt der Kritiker. Brasch sie im persönlichen Handeln wie in seiner Prosa stets ambivalent gewesen. "Das darzulegen ist die Leistung dieses obskuren Theaterabends. Die Zerrissenheit von Werk, Autor und Stück hinterlässt einen bleibenden Eindruck bei denen, die den Saal nicht frühzeitig verlassen haben", resümiert Hanschke den Abend.

 

 

 

 

 

 

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